Interview

Antisemitismus tritt in unterschiedlichen Formen mit verschiedenen Trägern auf

Es gibt in Deutschland ein Problem mit Antisemitismus. Und es gibt ein Problem mit der Diskussion über die unterschiedlichen Formen und Träger von Antisemitismus. Während einige den "importierten muslimischen" Antisemitismus für das Hauptproblem halten, sehen es andere im "gewachsenen biodeutschen" Antisemitismus. Im Gespräch mit hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg versucht Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Prof. Armin Pfahl-Traughber die Diskussion zu entwirren.

hpd: Herr Prof. Pfahl-Traughber, im Zuge der erneuten Eskalation des Nahost-Konflikts gab es in Deutschland einige gewaltvolle Demonstrationen und antisemitische Aktionen wie das Verbrennen von Israel-Flaggen vor Synagogen. Das hat wiederum dazu geführt, dass momentan massiv darüber diskutiert wird, ob der Antisemitismus in Deutschland eher ein "importierter muslimischer" oder ein "gewachsener biodeutscher" Antisemitismus ist. Was sagen Sie zu dieser Diskussion?

Armin Pfahl-Traughber: Leider artikuliert sich in dieser Diskussion – mal wieder, muss man sagen – ein einseitiger und interessengeleiteter Blick auf das gemeinte Phänomen, noch dazu mit wenig Sachkenntnis. Denn Antisemitismus – das lehrt die Forschung – tritt in unterschiedlichen Formen mit verschiedenen Trägern auf. Bekanntlich ist in der deutschen Geschichte die Judenfeindschaft kein neues Phänomen, sie hat auch im Deutschland nach der Shoah weiter Verbreitung gefunden. Davon zeugen nicht nur die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, dies machen auch einschlägige Straftaten mit ansteigender Tendenz deutlich.

Es gab und gibt aber auch Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund, übrigens nicht nur aus den arabischen, sondern etwa auch aus den osteuropäischen Ländern. Dafür existieren unterschiedliche Gründe, wobei religiöse Prägungen wie gesellschaftliche Sozialisation zusammenwirken. Beim Antisemitismus sollte daher der Blick in alle Richtungen geworfen werden. Wenn nur eine Form kritisches Interesse findet, dann darf gefragt werden: Geht es dabei hauptsächlich um eine Ablehnung von Antisemitismus oder stehen dahinter andere Motive?

Dann lassen Sie uns doch mal versuchen, das Ganze ein wenig zu entwirren und mit Fakten zu unterfüttern. Gibt es Untersuchungen darüber, wie verbreitet Antisemitismus und/oder antisemitische Ressentiments in der deutschen Gesamtbevölkerung sind?

Ja, bereits seit Beginn der bundesdeutschen Geschichte wurden – indessen meist unregelmäßig – derartige Umfragen durchgeführt. Dabei fragten die Forscher aber häufig nur, wie viele der Interviewten bestimmte judenfeindliche Stereotype teilten. Insofern kam es lediglich zu partiellen Erkenntnissen, noch dazu ohne Kontinuität, was die Einschätzung von Entwicklungsprozessen erschwert. Gleichwohl kann man grob sagen, dass von den Bundesbürgern noch gut die Hälfte in den 1950er Jahren antisemitische Positionen vertrat. Dieser Anteil ging in den folgenden Jahrzehnten zurück, stabilisierte sich aber meist bei um die zwanzig Prozent. Davon können jeweils um die zehn Prozent einer latenten und einer manifesten Variante zugeordnet werden. Letzteres meint eine bewusste und offene Einstellung, ersteres steht für diffuse und unreflektierte Ressentiments.

Um das aktuelle Einstellungspotential an jüngeren Umfrageergebnissen zu verdeutlichen, seien hier zwei Beispiele aus den Leipziger Autoritarismus-Studien von 2020 genannt: Der Aussage "Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns" stimmten 6,3 Prozent und dem Einstellungsstatement "Die Juden arbeiten mehr mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen" 7,5 Prozent zu. Bei den quantitativen Angaben geht es um die Summe von "stimme voll und ganz zu" und "stimme überwiegend zu". Interessant ist übrigens dabei noch, dass sich einmal 18,7 Prozent und einmal 19,9 Prozent von diesen doch auch in der Formulierung eindeutigen antisemitischen Positionen nicht distanzieren wollten. Dies deutet zumindest auf eine ansatzweise Akzeptanz bei einigen der Interviewten hin.

Beispielbild
Politikwissenschaftler Prof. Armin Pfahl-Traughber

Gibt es Untersuchungen darüber, wie verbreitet Antisemitismus und/oder antisemitische Ressentiments unter deutschen Rechten sind?

Befragungen direkt unter deutschen Rechten gab es nicht, dies wäre auch methodisch eine Herausforderung für die Sozialforschung. Indessen machen die breiter angelegten Untersuchungen darauf aufmerksam, dass die antisemitisch Eingestellten gewisse Spezifika aufweisen. Dazu gehört etwa die formal geringere Bildung. Aber bezogen auf Ihre Frage ist interessant, dass die antisemitisch Eingestellten hinsichtlich ihrer politischen Selbsteinschätzung wie ihres konkreten Wahlverhaltens tendenziell weit rechts standen. Man kann sogar eindeutig konstatieren: Je linker die politische Ausrichtung, desto geringer waren klassische antisemitische Positionen; je rechter die politische Ausrichtung, desto stärker waren klassische antisemitische Positionen.

Dabei ist indessen die Einschränkung "klassische antisemitische Positionen" wichtig, denn ein israelfeindlicher Antisemitismus war auch bei den eher links Stehenden durchaus verbreitet. In der Gesamtschau bedeutet dies: Antisemitismus kommt stärker in der politischen Rechten vor. Die meisten antisemitisch Eingestellten neigen etwa gegenwärtig überproportional hoch dazu, der AfD ihre Stimme zu geben.

Gibt es Untersuchungen darüber, wie verbreitet Antisemitismus und/oder antisemitische Ressentiments unter Muslimen in Deutschland sind?

Dazu gibt es nur wenige quantitative und mehr qualitative Studien. Letzteres meint Befragungen von nur wenigen Personen, die eben dann keine Repräsentativität beanspruchen können. Befragungen, die Auskunft über antisemitische Einstellungen unter Muslimen in einem quantitativen Sinne geben können, sind eher selten. Es gibt aber Ausnahmen und auch solche mit Ländervergleichen, die wiederum sehr deutliche Ergebnisse über die Verteilung zutage gefördert haben.

Als Beispiel kann eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin aus 2013 angeführt werden, wo man in sechs europäischen Ländern bezogen auf das Statement "Juden kann man nicht trauen" nach Zustimmungswerten fragte. Dabei wurden für Christen jeweils Daten erhoben, aber auch für Muslime. Auch wenn man bestimmte Aspekte der Methode oder Repräsentativität kritisieren mag, ergab sich doch ein eindeutiges Bild: Von den Christen in Deutschland meinten 10,5 Prozent "Juden kann man nicht trauen", von den Muslimen stimmten dem 28 Prozent zu. Diese Differenz war in anderen Ländern noch höher: Belgien 7,6 zu 56,7 Prozent, Frankreich 7,1 zu 43,4 Prozent, Niederlande 8,4 zu 40,4 Prozent, Österreich 10,7 zu 64,1 Prozent und Schweden 8,6 zu 36,8 Prozent.

Andere länderübergreifende Studien bestätigen diese Verteilung. So führte die Anti-Defamation League (ADL) 2015 eine Umfrage durch, wobei bezogen auf die Bejahung von sechs von elf antisemitischen Statements folgende Verteilung deutlich wurde: Deutschlands Gesamtbevölkerung – 16 Prozent, Muslime – 56 Prozent. Es muss daher konstatiert werden, dass die Antisemitismuspotentiale in Europa unter Muslimen überdurchschnittlich hoch sind. 

Gibt es auch darüber Untersuchungen, in welchen Gruppen von Muslimen Antisemitismus stärker oder schwächer ausgeprägt ist? Also macht es in Hinblick auf seine antisemitischen Einstellungen einen Unterschied, ob ein Mensch muslimischen Glaubens erst in jüngerer Zeit nach Deutschland gekommen ist oder ob er hier schon seit Jahrzehnten oder gar seiner Geburt lebt?

Prof. Dr. Dipl.-Pol., Dipl.-Soz. Armin Pfahl-Traughber, Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, Lehrbeauftragter an der Universität Bonn und Herausgeber des "Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung". Seine Arbeitsschwerpunkte sind Antisemitismus, Extremismus, Ideengeschichte, Religion, Terrorismus und Totalitarismus. Er ist Mitglied im Unabhängigen Arbeitskreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages und im Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz.

Dazu fehlt es an der entsprechenden Forschung. Zum Antisemitismus unter Flüchtlingen gibt es nur qualitative Untersuchungen, die keine Antworten auf solche Fragen ermöglichen. Man kann indessen auf begründete Annahmen verweisen. Nicht wenige der Flüchtlinge kommen aus Ländern, wo Antisemitismus zum gesellschaftlichen Mainstream gehört und auch über die privaten wie staatlichen Medien geschürt wird. Dabei bietet die Feindschaft gegenüber Israel den thematischen Raum. Insofern dürfte der Antisemitismus unter diesen Muslimen auch höher sein als unter den schon länger in Deutschland lebenden Muslimen.

Beachtenswert sind darüber hinaus die Forschungen aus anderen Ländern, die ebenso international vergleichend angelegt sind: Demnach kommen beim Antisemitismus eigenen Diskriminierungserfahrungen und sozioökonomischen Lagen keine so hohe Relevanz zu, demgegenüber der Glaubensintensität und Religionsauslegung schon. Anders formuliert: Je fundamentalistischer die Glaubensorientierung, desto stärker ausgeprägt sind die antisemitischen Vorurteile. Dafür sprechen auch Daten bezogen auf den Ländervergleich: Antisemitismus war aufgrund der säkularen Tradition lange in der Türkei eher unterdurchschnittlich präsent. Daran hat sich durch die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mit Reislamisierungstendenzen etwas geändert. Antisemitische Auffassungen werden auch durch etablierte Medien ungehindert verbreitet. Und hochrangigste Politiker scheuen vor so etwas nicht zurück, wie man nicht nur in der letzten Woche hören konnte.

Kann man aus der relativen Verbreitung antisemitischer Einstellungen absolute Zahlen abschätzen? Worauf ich hinaus will, ist ganz platt die Frage, ob wir in Deutschland zahlenmäßig ein größeres Problem mit antisemitischen Muslimen oder mit antisemitischen Rechten oder mit antisemitischen Menschen in der Mitte der Gesellschaft haben.

Eine Antwort auf diese Frage lässt sich mit der Mathematik einfach geben: Auch wenn der Antisemitismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft geringer ist als unter den hiesigen Muslimen, so ist der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft insgesamt relevanter, weil es eben um den Antisemitismus aus der Mehrheitsgesellschaft geht. Hierzu vielleicht noch eine kurze ergänzende Anmerkung: Wir sprachen bislang über antisemitische Einstellungen, nicht über antisemitische Straftaten. Diese haben laut der BKA-Statistik stark zugenommen, von 2015 mit 1.366 auf 2020 mit 2.351 Fällen, was eben einem Anstieg um mehr als zwei Drittel entspricht. Über 90 Prozent davon werden der "PMK-rechts" zugeordnet, was für "Politisch motivierte Kriminalität – rechts" steht. Viele Juden bekunden indessen in Umfragen, dass sie sich mehrheitlich von jungen arabischstämmigen Männern bedroht fühlen. Es gibt demnach einen Gegensatz von deren subjektiver Wahrnehmung und den in der Statistik vorgenommenen Zuordnungen.

Verständlicherweise kann mindestens eine der beiden Deutungen nicht stimmen, vielleicht entspricht auch ein Mittelwert der gesellschaftlichen Realität. Es gibt hier auch ein Problem, das mit der polizeilichen Datenerfassung zusammenhängt: Antisemitische Delikte mit unbekannten Tätern erhalten pauschal eine rechtsextremistische Zuordnung. Das muss angesichts von Angriffen von arabischstämmigen Muslimen auf jüdische Personen im öffentlichen Raum nicht richtig sein. Insofern bedarf es auch hier einer seriösen Datenlage, nicht nur in den Sozialwissenschaften.

Man hat den Eindruck, dass das Sprechen über muslimischen und nicht-muslimischen Antisemitismus in Deutschland zunehmend einem Minenfeld gleicht. Weist man darauf hin, dass es muslimischen Antisemitismus gibt, wird man von linken Kreisen mit der Rassismuskeule verprügelt. Und wenn man auf den Antisemitismus in nationalistischen rechten Kreisen oder der sogenannten Mitte der Gesellschaft hinweist, kassiert man von dort Prügel mit dem Hinweis auf den muslimischen Antisemitismus von Einwanderern. Wie schafft man es, sich durch dieses Minenfeld zu bewegen, ohne dass alle Seiten explodieren?

Man kann sich um einen differenzierten Blick bemühen. Ich komme ursprünglich aus der Antisemitismusforschung und habe in den letzten Jahrzehnten immer wieder zur Judenfeindschaft in unterschiedlichen Kontexten publiziert. Dies erklärt, warum mir von den Kennern dieser Publikationen schwerlich einseitige Zerrbilder unterstellt werden können. Es gibt aber immer mehr Menschen, die eigene Meinungen haben, aber nur über wenige Sachkenntnisse verfügen. Sie finden im Internet in den Kommentarfunktionen für sich Möglichkeiten, ihre Plattheiten und Ressentiments los zu werden. Dabei nehmen die Gemeinten noch nicht einmal die kommentierten Texte genauer wahr, selbst Themenschwerpunkte und Überschriften überlesen sie mitunter. Wichtig scheint dann nur noch zu sein, was man selbst meint.

Vor einigen Jahren veröffentlichte ich einmal einen Kommentar in der taz zu solchen Themen. Daraufhin wurde mir sowohl unterstellt, ich würde den Antisemitismus verharmlosen, wie, ich würde Israel blind verteidigen. Belege für beide Unterstellungen wurden nicht angeführt. Leider findet man auch beim hpd häufiger Kommentare auf diesem Niveau. Die Anmaßung in Kombination mit Unwissenheit erschrecken immer wieder. Vielleicht darf ich dazu aber mit einem Literaturnobelpreisträger schließen, der seinen 80. Geburtstag gestern am 24. Mai gefeiert hat. Gemeint ist Bob Dylan. Als er seine musikalischen Ausdruckmöglichkeiten elektrisch erweiterte, wurde er mit übelsten Unterstellungen konfrontiert. Bei einem Auftritt beugte er sich angesichts derartigen Gebrülls seinem Gitarristen zu und bemerkte: "Play it fucking loud."

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