Kolumne: Sitte & Anstand

Gehört dem Priester deine Brust? Die Kirche und der Fall Kentenich

Beuys, Goethe, Gandhi, Jesus, Dalai Lama, Che Guevara, Picasso, Warhol, pp. – "große Männer" sind eine weit verbreitete kindliche Vorstellung. Ersehnt wird der liebe Gott in Menschengestalt, und hat man ihn gefunden, so kann man ihn auf Fahnen malen und sein Foto auf kleine Hausaltäre stellen, so kann man die Ungereimtheiten der Welt zu vergessen trachten. Der vergötterte Mensch selbst muss dabei natürlich zu einem makellosen Wesen umgelogen werden, letztlich aus einem Egoismus seiner Verehrer hinaus, die von ihrem Kinderglauben nicht lassen wollen.

Um es einmal vorsichtig zu formulieren: Die Vergötterten haben oft nicht gar zu viel Göttliches an sich. Eher sind sie Menschen mit einem enormen Geltungsdrang, mit Charisma und Talent – und mit der Befähigung zum Netzwerken und zum Selbstentwurf als Ikone. Kaufmannssohn Gandhi entwarf sich irgendwann als eine Art Bettelmönch neu. Der Dalai Lama verbirgt gern hinter seinem Dauerlächeln, für was für eine rückständige Weltanschauung er steht.

Ein Esoteriker mit Nazi-Hintergrund wie Joseph Beuys kann die Welt über alles Fragwürdige und Hochgejazzte seiner Kunst hinwegtäuschen, weil sie sich so in seine Kunstfigur verliebt hat. Zu sehr wollen die Menschen an überlebensgroße Perfektion glauben, an ein Bild, das seit vielen Jahrtausenden von den patriarchalen Religionen verbreitet wird: "Gott" ist eine Verzerrung unseres Denkens, unserer Argumentationen – und vielfach führt er dazu, dass Handlungen widersinnig bis abstoßend sind.

Die katholische Kirche plagt sich gerade mal wieder mit einem dieser Fälle ab. In denen ein Mensch eine Art Quasi-Göttlichkeit für sich beansprucht hat. Um andere zu benutzen. Es gehört ein starker, aufrechter Mensch dazu, nicht den Verlockungen der Priesterverkleidung anheim zu fallen. Josef Kentenich (1885–1968) jedenfalls, über den seit Jahrzehnten gestritten wird in der katholischen Kirche, war einer von denen, die sich zu einer missionarischen Figur erhoben: Er gründete die "Schönstatt-Bewegung", die es bis heute gibt, selbstverständlich inszenierte er sich als Mann mit langem weißem Bart – und die Misshandlungsvorwürfe gegen ihn lesen sich so unappetitlich wie man es sich eben vorstellt im Reich des Vaterkultes und der unterdrückten Sexualität.

Etwa hat der große Meister seine Follower:innen zum "Kindsexamen" gezwungen. Dies war ein Frage-und-Antwort-Spiel, das man sich vielleicht als anregende sadomasochistische Neckerei vorstellen kann, das aber durch die verlogenen Weihen des Sakralen mit großer Wucht auf die Mitspielenden niederbrettert. Die Kolleg:innen von katholisch.de, die sich wacker darum bemühen, den Kentenich-Skandal an der Öffentlichkeit zu halten, zitieren dieses Unterwerfungsspiel als ein "Ritual, bei dem Kentenich Fragen stellte, auf die mit 'Vater' zu antworten war. (…) Wem gehört das Kind? Vater. Was ist das Kind? Nichts. Was ist Vater für das Kind? Alles. Wem gehören die Augen? Vater. Wem die Ohren? Vater. Wem der Mund etc.? Vater. Wem die Brust? Vater. Wem die Geschlechtsorgane? Vater."

Und das war nur das Standardprogramm. Das war die Grundlage für weitere und üblere Grenzüberschreitungen.

Interessant ist es, dass sich auf katholischer Seite hier nun eine theologische Debatte anknüpfen lässt: Wer war mit "Vater" gemeint? Kentenich selbst? Oder doch der liebe Gott in seinen Wolken da droben? Kentenich hat das wohl bewusst offen gelassen. Das sich anschließende Argument lautet nun: Wenn der liebe Rauschebart im Himmel gemeint gewesen sei, so habe die Aussage des Rituals ja ihre Richtigkeit. Denn alles gehöre ja dem. Sei hinwiederum Kentenich selbst gemeint gewesen, so sei der ganze Vorgang kritikabel. Als Außenstehender würde man ja gern einmal reinrufen: Hallo! Das ganze Konzept ist verkehrt! Wo das Überirdische inszeniert wird, lacht es aus! Werft euch nicht auf den Boden vor ihm!

Nur ist das ja der Kern des ganzen Geschäftsmodells. Die gängigen religiösen Glaubenssysteme lassen sich beschreiben als die machtvolle Errichtung ebendieser Fiktion: Es gebe eine allmächtige, perfekte, megaliebende Vaterfigur. Die uns letztlich alle Verantwortung nimmt, Hauptsache, wir liegen immer schön demütig im Staub. Diese im Grunde recht kuriose Idee ist wirkmächtig bis zum heutigen Tag, und sie ermöglicht im Jahr 2021 unserer Zeitrechnung ein Interview wie das in der Sonntagszeitung stattgehabte zum Fall Kentenich mit einem Würdenträger, der zunächst einmal selbst mit Latinismen und moderneren Belegen der Quasigöttlichkeit aufgepumpt wird ("Viele kennen ihn durch seine Bücher, Fernsehauftritte und die Zeit als Wallfahrtsdirektor im mittelschwäbischen Maria Vesperbild"), ein Herr Wilhelm Imkamp. Was hat der nun zu den schwerwiegenden Vorwürfen zu sagen? Es liest sich wie folgt:

Katholische Sonntagszeitung: Herr Apostolischer Protonotar, für viele Freunde und Mitglieder der Schönstattbewegung sind die neuerdings gegen Pater Josef Kentenich erhobenen Vorwürfe so etwas wie ein Schlag ins Gesicht. Wie stichhaltig finden Sie die Anschuldigungen, nach denen in Quellen von Manipulation, ja Missbrauch an Schwestern die Rede ist?

Imkamp: Pater Kentenich ist ohne Zweifel eine der ganz großen, herausragenden und überaus erfolgreichen Gründergestalten des 20. Jahrhunderts. Unabhängig von den jetzt erhobenen Vorwürfen ist es aus feministischer Sicht schon ein Beweis für patriarchalische Strukturen, wenn ein Mann eine Lebensgemeinschaft für Frauen gründet. Feminismus, Me-too-Bewegung und LGTB-Pamphlete müssen zur Kenntnis genommen werden, sollten aber die Agenda solcher Untersuchungen nicht bestimmen, auch nicht terminologisch.

Wie war noch mal die Frage? Egal. Man kann so etwas fortwedeln. Man muss es vielleicht auch, als Apostolischer Protonotar, was immer das heißen mag. Mit dem Herrn an meiner Seite kann ich über jede Frage, jede Kritik einfach wegsurfen und dann daherreden, was mir gerade in den Sinn kommt. Irgendwie eine Erleichterung.

Es ist ein bisschen wie bei der Romanfigur Arthur Dent in "Per Anhalter durch die Galaxis", über die es an einer Stelle so ungefähr heißt: Man könne sein Gehirn durch eine einfache Programmierung ersetzen, die auf jeden Sachverhalt eingeht, indem sie sagt: "Wo gibt's hier Tee?" Aber Arthur Dent sieht sich ja auch, als schlichter Erdenbewohner, plötzlich den unbegreiflichen Weiten des Weltraumreisens gegenüber. So stellt sich die moderne Welt wohl dem theologisch vorgeformten Hirn dar.

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