Dramatische Säkularisierung in den USA und bisherigen religiösen Hochburgen Europas

Die Säkularisierung hat neuen religionssoziologischen Forschungen zufolge in den vergangenen zehn Jahren auch in bisher ausgeprägt christlichen Staaten rapide zugenommen.

"Wir beobachten etwa in den USA, Italien und Polen eine rasante Entkirchlichung und in vielen Regionen der Welt einen dramatischen Bedeutungsverlust von Religion", erläutert der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster.

Er hat mit seinem Fachkollegen Dr. Gergely Rosta soeben eine stark erweiterte und überarbeitete Neuauflage des Standardwerks "Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich" im Campus Verlag veröffentlicht. Es handelt sich um eine der umfassendsten empirischen Untersuchungen religiöser Trends von 1945 bis heute. "Vieles hat sich jüngst verändert: So bedarf das Bild eines säkularen Europas auf der einen und den tiefreligiösen USA auf der anderen Seite der Revision", so der Forscher. "Zudem stellen wir länderübergreifend fest, dass der Glaube an einen personalisierten Gott abnimmt, der an eine unspezifische höhere Macht zu. Dieser beeinflusst allerdings kaum noch die persönliche Lebensführung und ist insofern ein Ausdruck fortschreitender Säkularisierung." Die Autoren sehen die Säkularisierungstheorie, nach der Modernisierung zum Bedeutungsverlust von Religion führt, durch viele Befunde bestätigt.

"Der internationale und umfassende Niedergang der Religionen seit dem Zweiten Weltkrieg ist historisch beispiellos, in Westeuropa finden wir allenfalls punktuelle Gegentendenzen", betont Pollack. "Dabei geht die Säkularisierung in allen Ländern auf ähnliche Gründe zurück: Individualisierung, wachsendes Wohlstandsniveau, ein breites Konsum- und Freizeitangebot und ein hohes Maß an weltanschaulicher Vielfalt." Wichtige Faktoren seien zudem veränderte Familienstrukturen und demografische Entwicklungen. "In Italien zum Beispiel sinkt die Zahl der generationenübergreifenden Großfamilien, die zentral für die Weitergabe des Glaubens sind. In Polen wiederum messen die aufstiegsorientierten und mobilen Jüngeren der Religion eine viel geringere Rolle in ihrem Leben zu als Ältere." Für die religiösen Traditionsabbrüche sind Barrieren in der Weitergabe der Religion von der älteren zur jüngeren Generation in hohem Maße verantwortlich: "Diese beeinflussen die Mitgliederzahlen mehr als die Kirchenaustritte." Pollack sprach im Themenjahr "Tradition(en)" des Exzellenzclusters, das Entstehung, Überlieferung und Wandel von Traditionen beleuchtet.

Die Studie basiert wie kaum eine andere auf einem reichhaltigen Datenmaterial für mehrere Kontinente und filtert politische, nationale und soziale Einflussfaktoren auf Religion heraus. Die Autoren sehen durch ihre vielfältigen Analysen die Säkularisierungstheorie als weitgehend bestätigt an, der zufolge Modernisierung zum Bedeutungsverlust von Religion und Kirche führt. Über Jahrzehnte stellte sie in den Sozial- und Geschichtswissenschaften das dominante Erklärungsparadigma des religiösen Wandels in modernen Gesellschaften dar. Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie jedoch stark umstritten. "In Westeuropa gibt es heute kaum noch Gegentendenzen zur Säkularisierung", befindet hingegen Pollack. "Auch die Entwicklung hin zu einer individuellen Religiosität bestätigt den Trend, der nun selbst die USA umfasst – bisher oft ein Paradebeispiel für das Zusammengehen von Modernität und Religiosität."

Die Säkularisierungstheorie könne viele Aspekte des religiösen Wandels in der Moderne erklären, sei aber durch andere Ansätze zu ergänzen, um regional zu beobachtende religiöse Aufschwünge wie etwa in Russland einzuordnen. Kritiker bezeichnen die Säkularisierungstheorie als deterministisch und beobachten eine Sakralisierung oder gar eine "Wiederkehr der Götter": Sie verweisen auf Debatten, in denen Religion als Medium zur Austragung politischer, ethnischer oder nationaler Konflikte in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat, etwa mit Blick auf Terrorakte oder Berichte zur Diskriminierung religiöser Minderheiten.

Säkularisierung in den USA

Mit Blick auf die USA führt der Religionssoziologe aus: "Während sich 2007 noch mehr als 90 Prozent der US-Bürger als gottgläubig bezeichneten, waren es 2017 zehn Prozent weniger, gegenüber knapp Dreiviertel im europäischen Durchschnitt. Angesichts der Allianz von evangelikalen Christen mit den Republikanern geben immer mehr Amerikaner, die bereits religiös distanziert sind, ihre religiöse Bindung nun ganz auf." Zwischen religiösen Konservativen und säkularen Progressiven habe sich eine neue Konfliktlinie gebildet, die sich etwa an unterschiedlichen Haltungen zu Abtreibung und Homosexualität zeige: "Evangelikale Christen mit ihren wertkonservativen Einstellungen fühlen sich in der liberaler werdenden Gesellschaft der USA zunehmend marginalisiert. Sie haben sich von der Unterstützung Trumps eine Stärkung versprochen. Aufgrund ihrer Allianz mit Trump und republikanischen Werten sieht sich das Gegenlager jedoch in seiner Abkehr von Religion bestätigt", erläutert Pollack. "Unsere Daten zeigen in mancher Hinsicht jetzt einen ähnlichen Säkularisierungstrend wie in Europa."

Gerade in Westeuropa glauben mehr Menschen an eine undefinierte "höhere Macht" als an einen persönlichen Gott, wie der Soziologe darlegt. "Dieser unkonkrete Glaube hat im Unterschied zum personalen Gottesglauben kaum Einfluss auf die Kindererziehung oder politische Einstellungen." Eine beachtliche Minderheit von 20 bis 30 Prozent fühle sich zudem etwa von Glücksbringern, Horoskopen oder Zukunftsdeutungen angezogen. Daher könne man nicht pauschal von einem säkularisierten Europa sprechen. "Die Daten zeigen aber, dass eine Verbreiterung der religiösen Formen nicht zu einer Vitalisierung des Glaubens führt. Religionssoziologisch betrachtet, handelt es sich bei diesem unbestimmten Glauben vielmehr um eine Zwischenstufe zur Säkularisierung." 

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