Interview

Corona-Langzeitfolgen: Ein unterschätztes Problem?

Der Sommer ist da, Großveranstaltungen finden wieder ungehindert statt, Masken werden kaum noch getragen. Man kann den Eindruck gewinnen, als gäbe es Corona nicht mehr. Unabhängig von den absoluten (gemeldeten) Infektionszahlen – die seit Kurzem wieder steigen – bleiben die Patienten, die ihre Covid-Erkrankung nach der Akutphase nicht loswerden. Long Covid kann nach wie vor entstehen. Der hpd hat mit einer Expertin darüber gesprochen.

hpd: Die Pandemie spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch eine Rolle, seitdem die meisten Beschränkungen Ende März beziehungsweise Anfang April weggefallen sind. Sind wir zu sorglos oder kamen diese Lockerungsschritte zur richtigen Zeit?

Dr. med. Jördis Frommhold: Ich denke – aber das ist meine persönliche Meinung –, dass wir mit dauerhaften Verboten und Regulatorien bei den Menschen nicht viel erreichen werden. Viel wichtiger ist es, Aufklärung zu betreiben und zu berichten: Es gibt eben auch Spätfolgen, es gibt diese Verläufe, es gibt Menschen, die ihr komplettes Leben umstellen müssen, und zwar junge Menschen, die ohne Vorerkrankungen sind, nicht die klassische Risikokonstellation, sondern die jungen, dynamischen, leistungsstarken. Und wenn man das versteht, wenn die Menschheit sozusagen ihr Recht auf Aufklärung wahrnehmen kann, dann überlegt sich vielleicht der eine oder andere, ob er jetzt wirklich in ein volles Fußballstadion gehen muss.

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir ein Verständnis für dieses Krankheitsbild Long Covid entwickeln und dass diese Schutzmaßnahmen, die wir jetzt nicht mehr müssen, aber vielleicht ja dürfen, so ein bisschen ins eigene Fleisch und Blut übergehen, dass es sozusagen jedem selbst ein Bedürfnis ist, die bestmöglichen Schutzmaßnahmen vorzunehmen, weil nach zwei Jahren Pandemie eigentlich jeder wissen sollte, dass eine Maske durchaus hilfreich ist, wenn man die in Menschenansammlungen aufsetzt.

Natürlich wird es dann auch interessant werden … Jetzt in den Sommermonaten sind wir viel draußen, da ist das Risiko relativ minimiert, aber zum Herbst hin, zum Winter hin wird es wieder Wellen geben und da wird man sehen: Sind die Menschen so weit, dass sie, ich sage mal salopp, auf sich selber aufpassen können? Ich denke, das ist ein viel, viel wichtigerer Ansatz über die Aufklärung dahin zu kommen, als jetzt nur Druck auszuüben.

Die Omikron-Variante verursacht weniger schwere Verläufe, allerdings kann man dennoch an Long Covid erkranken. Spielt dieser Faktor eine zu geringe Rolle in der öffentlichen Debatte?

Die Medaille hat zwei Seiten. Auf der einen Seite ist es natürlich so, dass Omikron akut mildere Verläufe macht, wobei man da ja ganz klar herausstellen muss, das kommt auch, weil wir die Impfwirkung sehen. Ich habe heute einen Patienten aufgenommen, 45 Jahre alt, der nicht geimpft war und der einen schweren Omikron-Verlauf hatte. Es ist nicht so, dass Omikron grundsätzlich nur milde Verläufe macht, sondern es kommt auch ein bisschen auf den Impfstatus an. Punkt eins.

Punkt zwei: Es ist so, dass wir sagen müssen, gerade auch bei den milden Verläufen – es ist ja erst einmal sehr löblich, dass wir niedrige Hospitalisierungszahlen haben, aber das heißt nicht, dass die milden Verläufe keine Langzeitfolgen machen und das sehen wir auch bei den vorhergegangenen Mutationen und Varianten, dass auch da die Patienten mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben, die durchaus auch in der Akutphase nur milde Verläufe hatten. Das heißt nicht: Nur, weil der Akutverlauf milde ist, habe ich auch ein genauso geringes Risiko oder deutliche Risikoreduktion für Langzeitfolgen. Dem ist bei Weitem nicht so und wir sehen jetzt zunehmend, dass sich auch Patienten in den Hausarztpraxen melden, die Langzeitfolgen nach Omikron-Verläufen haben.

Ich glaube, das ist tatsächlich ein Punkt, der absolut unterschätzt wird im Moment. Weil wenn wir nur auf die Hospitalisierung gucken, dann stehen wir ja gut da im Moment. Zum Glück. Aber wir dürfen eins nicht vergessen: In der Bundespressekonferenz habe ich gesagt, wenn man die Pandemie als Eisberg betrachtet, ist das, was wir bisher gesehen haben, die Spitze und Long Covid und die Folgen sind das, was unter der Wasseroberfläche ist und ich glaube, dass das für unsere ganze Gesellschaft noch viel nach sich ziehen wird, dass wir zum Beispiel auch im beruflichen Gesundheitsmanagement aktiv werden müssten, dass wir die Unternehmen schulen müssten: Wie gehe ich mit Long-Covid-Patienten um, wie kriege ich die wieder eingegliedert, was ist mit flexiblen Arbeitsplatzgestaltungen, weil wenn es so viele Betroffene gibt, können wir es uns nicht leisten, dass die dauerhaft arbeits- oder erwerbsunfähig werden. Heißt im Umkehrschluss: Wir müssen uns überlegen, wie gehen wir mit dieser Patientengruppe um?

Vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht und wir können von der Pandemie lernen, weil wenn ich mir vorstelle, sonst war es für viele Menschen in Deutschland normal, auch Zwölf-Stunden-Arbeitstage zu haben. Das ist sicherlich auch nicht gesundheitspräventiv. Wenn wir jetzt über diese Long-Covid-Situation gezwungen sind, uns gesellschaftlich umzuorientieren und umzudenken, ist das nicht unbedingt etwas Schlechtes, sondern vielleicht sogar notwendig gewesen.

Wer ist denn in erster Linie von Long Covid betroffen?

Klassischerweise ist es so, dass der Akutverlauf eher mild war oder auf jeden Fall nicht so schlimm, dass man im Krankenhaus behandelt werden müsste. Es sind häufig junge Menschen zwischen 20 bis 50 Jahren. Das heißt nicht, dass nicht Rentner auch Long-Covid-Symptome bekommen können, aber bei den Jüngeren scheint es eher auffällig zu werden. Das kann auch daran liegen, weil das Menschen sind, die arbeiten müssen und dementsprechend auch Probleme mit ihren Symptomen bekommen können.

Ansonsten gibt es keine wirkliche Risikokonstellation. Aber es ist schon so, dass es sehr häufig Menschen sind, die wir behandeln, die einen sehr hohen Anspruch an sich selbst haben. Sie sind sehr ehrgeizig, haben häufig Führungsqualitäten oder arbeiten in sehr emotional aufwendigen Bereichen, das sind alles Menschen, die sich wirklich auch über ihre Arbeit oder ihren Sport oder wie auch immer identifizieren. Das wäre so das Einzige, was man jetzt klinisch herausarbeiten kann, dass das vorher wirklich alles sehr leistungsstarke Menschen waren. Und deswegen denke ich auch, dass Long Covid ein Problem unserer Leistungsgesellschaft ist und dass das häufig Patienten betrifft, die es einfach verlernt haben, auf ihre ureigensten Bedürfnisse zu horchen und darauf Acht zu geben. Und das kann man natürlich schon schulen oder von vornherein versuchen, ein bisschen in die richtigen Bahnen zu lenken. Ob das komplett Long Covid verhindert, das sei mal dahingestellt. Aber es kann durchaus hilfreich sein.

Was sind die häufigsten Krankheitsbilder und Symptome bei Long Covid?

Die Symptome sind sehr, sehr vielfältig. Es kann bis zu zweihundert verschiedene Long-Covid-Symptome geben in unterschiedlichster Zusammensetzung und Konstellation. Das heißt, da haben wir schon das nächste Problem: Ein Long-Covid-Patient gleicht nicht unbedingt dem anderen und das macht die Diagnostik eben auch relativ aufwendig und schwierig. Bei den allermeisten herrschen aber "Kardinalsymptome" vor: Ein ganz häufiges ist die Fatigue-Symptomatik, also eine massive Erschöpfung, wo auch kleinste Anstrengungen zur Verschlechterung und dann auch zu Crash-Symptomatiken führen können, also: dass praktisch gar nichts mehr geht, die Patienten nur noch im Bett liegen müssen. Es kommen auch kognitive Einschränkungen vor, also Wortfindungsstörungen, Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen oder dass die Merkfähigkeit eingeschränkt ist; dass man Texte liest, aber den Inhalt nicht verstehen kann; man nennt das "Brain Fog". Diese kognitiven Einschränkungen machen den Patienten häufig sehr zu schaffen und sind schwer anzugehen. Letztendlich sind sie dann auch limitierend, was die Arbeitsfähigkeit anbelangt.

"Wenn man die Pandemie als Eisberg betrachtet, ist das, was wir bisher gesehen haben, die Spitze und Long Covid und die Folgen ist das, was unter der Wasseroberfläche ist"

Dann haben wir es häufig mit Belastungsluftnot, Hustenreiz, Schmerzen im Brustkorb zu tun. Das sind Symptome, die meistens noch aus der Akutphase mit weitergeführt werden, von den Patienten häufig unbemerkt. Außerdem haben wir Patienten mit Haarausfall, Gelenk- und Muskelschmerzen, mit vegetativen Dysfunktionen, also Neigung zu schnellem Herzschlag oder zu Blutdruckentgleisung.

Und natürlich haben sie auch psychosomatische Probleme. Kann man sich ja vorstellen, wenn das junge Patientinnen und Patienten sind, die jetzt solche Symptome haben und wir es mit einer chronischen, bisher nicht heilbaren Erkrankung zu tun haben, dass dann gewisse Ängste, Existenzängste und Depressionen aufkommen. Wir können ihnen aber durchaus Symptomlinderung verschaffen und ihnen den richtigen Umgang mit dieser Erkrankung beibringen. Es gibt immer wieder auch die Schlussfolgerung nach dem Motto: "Ja, Long Covid, das ist ja alles eigentlich nur psychosomatisch und das bilden sich die Patienten ein" – damit, denke ich, wird man vielen Betroffenen nicht gerecht, denn auch nach anderen Infektionen, nach der Spanischen Grippe etwa oder nach dem Epstein-Barr-Virus, kommen solche Syndrome vor, die Long Covid sehr ähnlich sind und das sind somatische Probleme, auf die dann psychosomatische Probleme aufsatteln.

Sie sind Autorin des Buches "Long Covid – Die neue Volkskrankheit", das vor Kurzem erschienen ist. Worauf müssen wir uns einstellen? Wie weitreichend sind die Corona-Langzeitfolgen für unsere Gesellschaft?

Man muss abwägen, in welcher Ausprägung die Langzeitfolgen vorhanden sind. Diese Differenzierung, wie sich das Ganze auf den Arbeitsmarkt, auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit auswirkt, die haben wir noch nicht erfasst.

Gibt es schon Zahlen zur Häufigkeit von Long Covid bei Omikron? Hat sich die Situation Ihrer Erfahrung nach durch Omikron und die Impfungen verändert?

Wir wissen nicht, wie der Prozentsatz der Langzeitfolgen bei Omikron ist, weil das einfach noch zu früh ist. Die Ergebnisse, die wir haben, beziehen sich auf die Varianten davor. Es gibt eine Studie, die geht von 10 Prozent der ungeimpften Infizierten aus, die Langzeitfolgen haben. Es gibt aber auch schon verschiedene Studien, die untersuchen oder untersucht haben, ob die Impfung einen Benefit bringt, nicht nur für die akut milderen Verläufe, sondern ob sie auch eine Risikoreduktion für Langzeitfolgen haben und dem ist so: Eine Studie aus England und eine Studie aus Israel – zwar mit einer relativ geringen Fallzahl noch, aber das sind die, die es jetzt eben zu diesem Thema gibt – die postulieren schon, dass es eine Risikoreduktion bei Geimpften, die Durchbruchsinfektionen haben, für Long Covid gibt. Diese Risikoreduktion liegt bei 50 bis sogar 70 Prozent.

Das heißt: nicht mehr 10 Prozent wie bei den Ungeimpften, sondern vielleicht 3 bis 5 Prozent der Geimpften mit Durchbruchsinfektion haben Spätfolgen. Also: Die Impfung schützt nicht nur vor akut schweren Verläufen, sondern auch vor Langzeitfolgen. Das ist ein Plus in der Impfargumentation. Allerdings darf man nicht vergessen: Es gibt mitunter auch Patienten, die nach Impfungen von Long-Covid-ähnlichen Symptomatiken berichten. Allerdings wissen wir da noch in keinerlei Weise, in welcher Relation das steht und wie viele das sind. Das muss noch gegeneinander abgegrenzt werden. Die gibt es, wir haben auch schon eine Handvoll solcher Patienten in unserer Klinik behandelt. Aber es scheinen deutlich weniger zu sein als andersherum. Der Benefit der Impfung scheint deutlich vorne anzustehen.

Darüber hinaus können wir Long Covid bei Omikron noch nicht mit Zahlen in Studien beziffern, weil diese Zahlen einfach noch fehlen und das Problem ist auch, dass die Spätfolgen erst mit einer gewissen Latenz auftreten, von ein bis drei Monaten in etwa. Bei uns fingen die ersten Omikron-Fälle Anfang des Jahres an. Jetzt ist so die Zeit, wo wir so langsam sehen werden, wie es mit Omikron und den Spätfolgen aussieht. Aber jetzt einfach zu sagen: Naja, Omikron, da sind die meisten Fälle leicht und dann habe ich auch nichts mit Spätfolgen zu tun, das kann man so nicht gleichsetzen. Das muss man ganz klar so sagen.

Wir haben aber auch Erkenntnisse im rehabilitativen Bereich gewonnen, dass wir durchaus auch nach dem Akutverlauf unterstützen können und wir haben jetzt im Moment mit vielen Patienten zu tun, die sich in so einem Zwischenstadium befinden. Die sagen, sie haben vielleicht noch nicht wirklich Long Covid, aber die nach der Akutinfektion nicht mehr so richtig "aus dem Knick" kommen, sagen wir es mal so. Die haben vielleicht noch Belastungsluftnot oder sind noch ein bisschen erschöpft und haben sicherlich noch nicht alle Kriterien für ein klassisches Long Covid, aber sind in einer Art Zwischenstadium. Da ist es zum Beispiel auch total wichtig, dass wir schon Tipps geben können, was die Akutphase anbelangt.

Dr. med. Jördis Frommhold ist Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie sowie Notfallmedizinerin. Sie arbeitet als Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien an der MEDIAN Klinik Heiligendamm, wo unter anderem Reha-Behandlungen nach einer Covid-19-Infektion angeboten werden, und steht dem Ärzte- und Ärztinnenverband Long Covid als Präsidentin vor. Im März dieses Jahres veröffentlichte sie ein Buch zu den Spätfolgen einer Corona-Erkrankung.

Welche sind das? Gibt es denn Möglichkeiten der vorherigen Risikoabwägung oder der Prävention?

Da helfen zum Beispiel Atemübungen sehr gut, auch wenn man nicht im Krankenhaus ist. Auch wenn man vermeintlich keine akute Lungenbeteiligung hat. Wir sehen nämlich, dass viele Patienten eine stille Lungenbeteiligung haben. Da hilft es wirklich ausgesprochen gut, wenn man da auch schon mit Atemübungen gegensteuert. Das habe ich auch sehr ausführlich in meinem Buch zu den zwei Jahren Rehabilitationserfahrungen mit Covid-Spätfolgen beschrieben. Da gibt es verschiedenste Anregungen zu Atemtherapien, die jedermann in der Akutphase machen kann, um auch prophylaktisch tätig zu werden.

Vor allem sollte man sich auch bewusst machen: Solange ich noch Symptome habe, wenn ich denn welche habe, ist es nicht sinnvoll, sofort wieder zur Arbeit zu gehen, sondern man sollte es wirklich ausheilen lassen und sich auch die notwendige Erholungszeit geben. Und ja, auch Husten ist ein Symptom, oder Schlucken können. Da sagen sich viele "Ach, das ist ja nichts" und da merken wir, gerade wenn relativ schnell und zum Teil auch überschießend wieder in den Alltag gestartet wird, dass diese Patienten dann doch mitunter auch Rückfälle erleiden und dass es wichtig ist, diese Akutphase ausheilen zu lassen. Wenn man dann zurück ins Berufsleben kommt, sollte man darauf achten, das nicht überstürzt zu tun, sondern sich wirklich bewusst in Achtsamkeit üben, in einem ruhigen Einstieg, nicht gleich mit 140 Prozent anfangen.

Wie viele Erkrankte sind Ihnen bisher bekannt?

Die Statistik ist da sicherlich nicht ganz sauber. Aber wenn wir von 10 Prozent der Infizierten bei den Ungeimpften und 3 bis 5 Prozent bei den Geimpften ausgehen und der aktuellen Gesamtzahl der registrierten Infektionen, dann haben wir Hunderttausende bis Millionen in Deutschland, die betroffen sind.

Ist es denn so, dass das wirklich bei Covid-19 besonders häufig vorkommt oder schauen wir da jetzt nur besonders genau hin?

Prozentual gesehen kommt es ja nicht unbedingt besonders häufig vor, aber trotzdem fällt es auf, weil wir einfach zu einem Zeitpunkt sehr viele Infizierte haben, wodurch die absoluten Zahlen dann natürlich viel höher sind. Eine solche Menge von gleichzeitig betroffenen Epstein-Barr-Patienten hatten wir zum Beispiel nie.

Wie ist die momentane Versorgungslage für die Betroffenen?

Die stationäre Reha ist sicherlich im Moment eine Therapieform, wo wir Ansatzmöglichkeiten haben und das sehen wir auch in Studien, dass wir hier Therapie- beziehungsweise Symptomlinderungsoptionen haben. Das Allerwichtigste ist zunächst, einem Patienten zügig eine Diagnose zu stellen. Das heißt, ich brauche ein gut geschultes hausärztliches und fachärztliches Netz an der Basis. Ich brauche nicht unbedingt noch mehr Spezialambulanzen, sondern die sind ergänzend da, es muss ja nicht jeder Patient in die stationäre Reha. Wir müssten hinkriegen, dass Reha und Akutmedizin weiter zusammenrücken. Setzt voraus, dass auch die medizinischen Heil- und Hilfsberufe dementsprechend im Long-Covid-Bereich geschult sind. Was bisher auch noch nicht der Fall ist. Wir haben ein großes Dilemma, was die Schulung und die Aufklärung anbelangt und das müssen wir flächendeckend ausweiten, am besten in relativ kurzer Zeit. Vor allem müssen auch die Kosten übernommen werden, was bisher nicht immer der Fall ist, denn diese Patienten sind sehr aufwändig in der Diagnostik. Und auch danach geht es ja noch weiter, dass wir dann die Wiedereingliederung brauchen, dass wir berufliches Gesundheitsmanagement brauchen, dass wir eine gute Nachsorge brauchen.

Dazu empfiehlt sich, eine ausgeprägte Aufklärungskampagne zu initiieren. Es bringt mir nichts, wenn eine gewisse Elite vielleicht von diesem Krankheitsbild Long Covid weiß, aber Heiner Müller-Schulze überhaupt nicht versteht, was mit seinem Arbeitskollegen los ist und warum der trotz Reha immer noch nicht kann.

"Wenn wir von 10 Prozent der Infizierten bei den Ungeimpften und 3 bis 5 Prozent bei den Geimpften ausgehen (...), dann haben wir Hunderttausende bis Millionen in Deutschland, die betroffen sind."

Es hat sich ja schon viel getan – wir haben bei uns in der Klinik die ersten Patienten im April 2020 behandelt, im Sommer 2020 habe ich bereits darüber berichtet, dass es solche Fälle wie Long Covid gibt, damals war das undenkbar, das war nur "Angstmacherei" – aber es reicht eben noch nicht. Die Politik sieht, dass wir mit Long Covid was tun müssten. Sie sieht, dass da gehandelt werden muss. Aber wir müssen natürlich jetzt am Ball bleiben. Es gibt immer noch Patienten, die nicht ernst genommen werden mit ihren Symptomen. Aber wenn man es im kompletten Kontext sieht, hat sich schon was bewegt, das darf man auch nicht zu schwarzmalen. Auch wenn es natürlich für den Einzelnen mitunter noch so ist, dass da noch Platz nach oben ist in der Versorgung.

Wie werden Menschen mit Long Covid behandelt und wie gut sind die Behandlungserfolge?

Wichtig ist, den Patienten individuell erst mal zu anamnestizieren und wirklich zu schauen: Was ist das Hauptproblem, wo liegen meine Fallstricke? Und dann ein breitgefächertes Therapiekonzept, also: Atemtechniken rauf und runter, Ergotherapie, Hirnleistungstraining, aber zum Beispiel auch Ausdauer- und Krafttraining. Wenn ich jetzt jemanden habe mit einer ausgeprägten Fatigue, darf ich da kein massives, körperlich aktivierendes Training machen. Das geht völlig nach hinten los. Da sind es dann eher Fatigue-Schulungen, mit Pacing, mit Erholungsphasen, mit Achtsamkeitstraining, verhaltenstherapeutische Ansätze, generell psychologische Mitbetreuung, Gesprächsgruppen, auch zum Teil mit Selbsthilfecharakter, Hilfe zur Selbsthilfe lernen, Koordinationstraining spielt eine große Rolle, aber eben auch sozialmedizinische Betreuung, welche Möglichkeiten im Berufsleben habe ich, wie komme ich zurück in meinen Alltag? Also, das ist ein sehr breitgefächerter Therapieansatz.

Wir haben nicht die eine Pille, die wir nehmen können – und zack, Long Covid ist jetzt weg. Das ist schade. Die wünschen wir uns alle, aber die gibt es im Moment nicht und das ist dementsprechend eine chronische Krankheit, wie es auch andere chronische Erkrankungen gibt, wo wir einfach die Krankheitsakzeptanz lernen müssten. Und das fällt unserer modernen Gesellschaft sehr schwer. Einfach Dinge zu akzeptieren. Natürlich ist es immer schlimm für die betroffenen Menschen selbst, aber das heißt nicht, dass wir jetzt wissenschaftlich-medizinisch irgendwie hintenanstehen, sondern es ist ganz normal, dass man bei einer neuen Erkrankung noch nicht alles sofort weiß. Und deswegen muss man eben erst mal diese Krankheitsakzeptanz fördern und interessanterweise gibt es viele Betroffene, die sich durchaus darauf einlassen können und dann ihr Leben so ändern, dass sie mit Long Covid leben können und das ist jetzt nicht schlecht. Manchen geht auch auf: Okay, vielleicht war einfach auch das Leben, was ich vorher hatte, nicht so ganz optimal. Flexibilität ist ja auch immer ein Teil unseres Daseins. Man muss sich darauf in einer gewissen Weise einlassen können.

Was raten Sie den Menschen in der derzeitigen Situation – lieber weiter auf Nummer sicher gehen oder das berühmte "mit dem Virus leben lernen"?

Das ist eine ganz individuelle Entscheidung, ich kann jetzt da nur meine eigene, persönliche Einstellung wiedergeben. Ich würde immer jemandem raten, was die Schutzmaßnahmen anbelangt oder wie man sich selber positioniert: das Leben ist jetzt. Wir werden lernen müssen, mit der Pandemie, mit dem Virus zu leben und es wird immer neue Mutationen geben und wir werden uns daran immer flexibel anpassen müssen. Es wäre utopisch zu glauben, dass auf einmal alles weg ist und dann ist es so, wie es 2019 war. Das ist Quatsch. Das heißt also, wir müssen mit dieser Situation irgendwo zurechtkommen und das Krankheitsbild Long Covid zum Beispiel wird bei uns eine Krankheit werden wie jede andere chronische Erkrankung im Moment auch. Wir können nur hoffen, dass es keinen Überschwall von Personen gibt, die davon betroffen sind, sondern dass sich das so mit einsortiert. Und es ist ein Krankheitsbild, an dem wir weiter forschen müssen, unbedingt, aber bei dem wir lernen müssen, damit umzugehen.

Das heißt aber auch: Wenn ich selber überlege, ich möchte jetzt vielleicht zu irgendeiner Veranstaltung gehen und habe schon so ein ungutes Gefühl im Bauch – diesen Menschen würde ich einfach raten: achtet da auf das Bauchgefühl und wenn es einem unwohl ist oder man da vielleicht nicht hin möchte oder das Gefühl hat, das wird jetzt aber von einem erwartet, dass man das tut, dann wäre das sicherlich der schlechte Weg. Wenn aber draußen irgendein Konzert ist mit viel Platz und ich fühle mich da sicher, dann ist es, denke ich, auch legitim und wie gesagt – das Leben muss ja auch irgendwo weitergehen. Aber es wäre der falsche Ansatz, wenn man jetzt naiv glaubt, es ist alles weg und mir kann jetzt nichts mehr passieren.

Ich denke, der richtigere Weg wäre so, dass man das Leben lebt, dass man auch Dinge, die Spaß machen, wieder macht, aber dass man sozusagen eine Rückkopplung hat: Ist das jetzt okay, passt das in mein Sicherheitsempfinden oder ist es eher so, dass ich denke: Ach, wenn ich jetzt in den und den Supermarkt gehe, dann möchte ich vielleicht doch lieber noch eine Maske aufsetzen, wenn das kein anderer tut. Was ja überhaupt nicht schlimm ist.

Ich glaube, das ist ein sehr individuelles Empfinden und da muss man natürlich an jeden Einzelnen appellieren: Wenn man selber Erkältungssymptome hat, dann geht man damit halt einfach nicht einkaufen. Oder irgendwo anders hin. Das sollte zu einem gewissen Selbstverständnis werden, dass man mit Erkältungssymptomen eben auch nicht zur Arbeit geht, denn dadurch schützt man alle anderen und letztendlich auch sich selbst, egal ob es jetzt Covid ist oder nicht. Das ist eine Einstellung, die uns allen so ein bisschen abhandengekommen ist in der Leistungsgesellschaft. Ich kann selber aus meiner eigenen Erfahrung sagen, auch gerade in der Medizin ist es ja so: Man trägt den Kopf nicht unter dem Arm und wieso kommt man dann nicht zur Arbeit? Wieso ist man da krank? Das ist vielleicht auch eine Art Chance für unsere Gesellschaft, dass man sagt: Okay, Krankheitssymptome, das heißt: Nicht zur Arbeit. Schonen. Man kann sich ja erinnern, wie das früher war: "Ich habe nur ein bisschen Schnief und gehe aber trotzdem auf die Familienfeier." Heutzutage eigentlich undenkbar.


Hinweis der Redaktion: Das Interview wurde vor dem neuerlichen Anstieg der 7-Tage-Inzidenz geführt, der mittlerweile als "Sommerwelle" bezeichnet wird.

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