Kindern ist vermeidbares Leid zu ersparen – diesem Grundgedanken des Kinderschutzes stimmt heute jeder sofort zu. Völlig konträr dazu sind medizinisch unnötige Verletzungen des sexuellen Intimbereichs von Kindern aber gestattet. Wir müssen wieder über die Jungenbeschneidung sprechen.
Das Parlament hat vor genau zehn Jahren den Paragrafen 1631d BGB verabschiedet. Eltern dürfen ihrem Kind, das selber noch nicht entscheiden kann, die gesunde Penisvorhaut operativ entfernen lassen. Und das teils von Personen ohne medizinische Sachkunde.
Die zuständigen medizinischen Fachgesellschaften haben seinerzeit vehement gegen diese Regelung votiert. Es gibt aus medizinischer Sicht keinen Grund dafür, einem gesunden Jungen seine gesunde Vorhaut, den sexuell sensibelsten Bereich des Penis, abzuschneiden. Dies verdeutlicht die aktuelle medizinische Leitlinie zur Behandlung der Phimose.
Der Eingriff hat erhebliche Risiken und gravierende Folgen, die bei jeder Penisvorhautentfernung eintreten. Extreme Schäden sind zwar selten (z.B. Amputation der Eichel, Nekrosen, Tod). Aber auch sie kommen vor. Ebenso lebenslange leidvolle Beeinträchtigungen des Sexuallebens. Nicht selten ist eine operative Nachversorgung des Kindes nötig. Für Kinderchirurgen ist klar: Die Beschneidung ist keine Lapalie, sondern ein schwerer Eingriff, der nur mit Indikation, Vollnarkose und Befunddokumentation durchgeführt werden darf.
Nota bene: Durch den Eingriff verliert das Kind große erogene Zonen – für immer. Es kommt zwingend zu einem deutlichen Sensibilitätsverlust. Die Vorhaut ist für den Schutz der Eichel und die lustvoll erlebte Intimität sexueller Beziehungen wichtig und kein "überflüssiges Stück Haut".
Eine Entfernung der Penisvorhaut hat auch psychische Auswirkungen und erschwert die entwicklungspsychologisch bedeutsame Inbesitznahme der eigenen Sexualität, zum Beispiel durch Selbstbefriedigung. Sie mindert erheblich das sexuelle Empfinden beim Verwenden eines Kondoms. Dies führt auch das Beschneiden zur Aids-Prophylaxe ad absurdum – der bessere Schutz, den das Kondom bietet, wird mit dem Eingriff de facto verhindert.
Hierzulande berufen Eltern sich häufig auf ihr religiöses Erziehungsrecht. Dieses Recht kann ihnen den Eingriff jedoch nicht gestatten. Das zeigt schon der Umstand, dass jeder andere gewaltsame Erziehungsakt verboten ist (auch ein milderer); nur der eine soll erlaubt sein, die Vorhautentfernung. Auch sind jegliche Eingriffe im Intimbereich bei Mädchen zu Recht verboten (z.B. die oberflächliche Einritzung der Schamlippen). Will man eine Diskriminierung nach dem Geschlecht vermeiden, muss Jungen derselbe Schutz zuteilwerden.
Weder im Judentum noch im Islam gibt es eine religiöse Pflicht des Kindes, sich der Prozedur zu unterziehen. Vorrang eingeräumt wird vielmehr den Interessen der Eltern. Sie wollen den Eingriff nicht aufschieben, da sie wissen, dass sich Erwachsene nur selten freiwillig ihre Vorhaut abschneiden lassen. So wird das Selbstbestimmungsrecht des Kindes in verfassungswidriger Weise missachtet.
Kulturhistorisch wird bei nicht-therapeutischen Vorhautentfernungen rituelle Gewalt genutzt, um patriarchalische Rechts- und Rollenauffassungen sowie gruppale Identität zu etablieren. Die zentrale Botschaft an das Kind lautet: "Deine Sexualität gehört nicht dir, sondern uns. Wir machen damit, was wir wollen, damit du dich später an unsere Regeln und Gesetze hältst." Diese schmerzvolle Erfahrung löst im Kind so große Ängste aus, dass es nur die Option hat, sich mit der Bezugsgruppe und deren Ritualen zu identifizieren. Kritisches Hinterfragen des Erlittenen ist deshalb auch später schwierig. Trotzdem äußern sich erste Beschneidungsopfer und klagen vor Gerichten auf Schadensersatz. Auch in Israel beginnen Eltern, ihre Jungen unverletzt aufwachsen zu lassen.
Traditionen, die auf rituellen Verletzungen der kindlichen Intimsphäre basieren, sind nicht tabu. Sie werden sich einem kinderrechtlich bestimmten Diskurs zu stellen haben. Dass dies in Deutschland auch zehn Jahre nach dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz im politischen Raum immer noch nicht geschieht, ist aus Sicht des Kinderschutzes beschämend. Wie 2012 von vielen Organisationen vorgeschlagen, brauchen wir einen "Runden Tisch" aller Verantwortlichen unter Beteiligung leidvoll Betroffener und Fachkundiger.
Jede kindheitliche Erfahrung von Gewalt und Schmerz hinterlässt Spuren – manchmal lebenslang. Der Schutz intakter kindlicher Genitalien gehört deshalb zu den Entwicklungsaufgaben einer sich in Richtung empathischer Vernunft und Gewaltfreiheit zivilisierenden Gesellschaft. Das sollte in aufgeklärten Demokratien für alle Kinder ausnahmslos gleich gelten und umgesetzt werden.
Mit diesem Ziel richtet sich ein Offener Brief an die Bundesregierung. Die 2012 auch von den Befürwortern des Erlaubnisgesetzes geforderte Debatte muss jetzt endlich geführt werden. Die Diskussion dieses leidvollen Themas ist schwierig, gerade auch in Deutschland. Wir sind sie aber den betroffenen Kindern schuldig.
7 Kommentare
Kommentare
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Für den arabisch-islamisch geprägten Kulturkreis hatte die algerische Schriftstellerin Fatima Gallaire bereits 1990 in einem Theaterstück, "La fête virile", darauf aufmerksam gemacht; sie war eine dezidierte
David Z am Permanenter Link
Die medizinische sowie die rechtliche Einordnung war und ist eindeutig: medizinisch nicht notwendig und rechtlich eine Körperverletzung.
Jeder weiß das.
Das Problem sind nicht die medizinischen und rechtlichen Fakten, sondern vielmehr der Umstand, dass das Thema aufgrund unserer Geschichte ein Politikum darstellt - mit dem grotesken Ergebnis, dass wir uns selbst im Weg stehen und grade jenen Leid zufügen, die wir eigentlich besonders schützenswert erachten sollten.
Die Kernfrage in der Sache ist daher vielmehr folgendes: In wie weit darf man jemanden kritisieren, dem man großes Leid zugefügt hat.
Lars Temme am Permanenter Link
"Die Kernfrage in der Sache ist daher vielmehr folgendes: In wie weit darf man jemanden kritisieren, dem man großes Leid zugefügt hat."
Das ist nur eine Scheinfrage. Sie spielen auf den Holocaust und die Juden an. Von den heute lebenden Menschen hierzulande war aber praktisch niemand mehr am Holocaust beteiligt, weder Juden (als Opfer, versteht sich) noch Nichtjuden. Dass in der Debatte trotzdem vielfach so empfunden wird, als wäre es anders, mit Schuldgefühlen auf nichtjüdischer Seite und Opfergefühlen auf jüdischer, ist nicht logisch, sondern nur psychologisch zu erklären.
Da dieses Empfinden vorhanden ist, sollte man es nicht ignorieren. Da es aber im Kern unlogisch ist, ist der einzig richtige Umgang meines Erachtens der, zunächst über die Unlogik der hinter dem Empfinden stehenden Idee (generationenübergreifende Schuld) aufzuklären, und anschließend die aus dem Empfinden folgenden Schlüsse in der Debatte konsequent zurückzuweisen.
Plakativ: Der Holocaust rechtfertigt nicht die Verstümmelung eines einzigen kindlichen Genitals.
David Z am Permanenter Link
Selbstverständlich ist diese Betrachtung irrational. Aber Irrationalität ist Teil des politischen Meinungskampfes.
Das ist ja grade das Problem. Ich bin ziemlich sicher, dass jeder der Beteiligten damals sehr wohl wusste bzw inzwischen realisiert hat, dass: "Der Holocaust rechtfertigt nicht die Verstümmelung eines einzigen kindlichen Genitals." Und dennoch wird die eigene Position nicht justiert. Wir kämpfen hier nicht gegen Sachargumente sondern gegen Emotionen, Schuldkomplexe und Ideologien. Und genau das macht die Sache so schwierig.
Albert Voß am Permanenter Link
Mein Leserbrief vor genau zehn Jahren an die Westfälischen Nachrichten, der nie abgedruckt wurde.
Leserbrief 12.12.12
Beschneidung
Niemand weiß, was "Beschneikrim" ist. Ich auch nicht. Aber der Bundestag hat das jetzt am 12.12.12 produziert.
Auf Druck von Jahwe und Allah und unter Drucksen ihrer Bündnisopfer im Parlament hält nun der endgültige Sieg einer Straffreiheit für die Beschneidung, ein Rabbiner- und Mullah-Recht, feierlich Einzug in unser Rechtssystem.
Fähnchenschwenkend bilden christliche Talare beim Defilee dieses Neuen Religiösen Standrechts (RStRG) ein Segensspalier (ihrerseits wohlwollend begleitet von Kommentaren der Presse - außer Leserbriefen!). Teilen sie doch immer schon mit den beiden anderen eine Leidenschaft: den Heilskrieg gegen die Sexualität des Menschen.
Und so kann jetzt die körperlich verstümmelnde Religionsunterweisung überall frei und schneidig ihre Kreise ziehen ("zirkumzisen", wenn man so will).
Von Recht gestützt zu-recht-gestutzt wird nun jeder Junge, der in Greifweite eines jüdischen oder muslimischen Vaters den Schatten der Welt erblickt. Die Segnungen folgen später dann prompt und zuverlässig. So berichtet z.B. ein erst mit 30 Jahren Beschnittener, der also vergleichen kann, verzweifelt, für immer einen Lustverlust (Libido, Dauer, Tiefe der Empfindung, Verlauf der Erregungskurve, Erreichen und Halten der Plateaus, Orgasmus usw.) von geschätzten mehr als 70 % erlitten zu haben (siehe auch: beschneidung-von jungen.de).
Millionen und Generationen werden nie vergleichen können. Und - das sollen sie auch nicht!
Die damit für den Rest des Lebens geraubte größtmögliche, da unbeschnittene Empfindungstiefe des Selbst ist einer DER Kristallisationspunkte für die Bildung der Ich-Stärke des Individuums. Instinkt- und zielsicher setzen die Religiosen hier ihr Skalpell an!
Die Mächtigen und ihre Politiker wissen: In einer humanen Gesellschaft, einer anständigen ohne Religion würde diese "Krimhäutung" nicht stattfinden!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Zu Deinem letzten Satz, alle Achtung, genau so ist es leider und nur im Konjunktiv
möglich, momentan.
Wir Humanisten sollten dies nicht aus den Augen verlieren, da diese Manipulationen
Lars Temme am Permanenter Link
"...der in Greifweite eines jüdischen oder muslimischen Vaters..."
Was verleitet sie zu der Annahme, die Mütter seien weniger verantwortlich? Meines Wissens sind Mütter sogar erwiesenermaßen konservativer als Männer, ergo wahrscheinlich noch stärker treibende Kraft hinter der Beschneidung ihrer Söhne.