Nach den Terroranschlägen von Paris

Solidarität und Gedenken

BERLIN. (hpd) Einen Tag nach den Terroranschlägen in Paris trafen sich auf dem Pariser Platz in Berlin vor der französischen Botschaft Tausende, um den Opfern der Terroranschläge von Paris zu gedenken und den Franzosen ihre Solidarität zu zeigen. Darüber hinaus stellen sich viele Fragen, die über das erste emotionale Reagieren hinausgehen.

Möglicherweise ist das stille Gedenken an die Opfer des Terrors in Paris und das Beleuchten des Brandenburger Tors in den Farben der Trikolore nur Ausdruck der Hilflosigkeit, der Ohnmacht. Es ändert nichts und macht das Geschehene ganz sicher nicht rückgängig. Doch in solchen Zeiten ist es auch nötig, sich der Anteilnahme und des Zusammenhalts zu versichern.

Bis zu 2.000 Menschen haben sich am Samstag Nachmittag bis spät in die Nacht vor der französischen Botschaft eingefunden; viele hatten Blumen dabei oder Kerzen, die sie vor dem Absperrgitter niederlegten. Immer wieder kamen neue hinzu und andere gingen. Viele französisch sprechende Menschen waren darunter; auch eine weinende Frau aus Paris. Meist war es still; bis auf die Touristen, die vor dem Brandenburger Tor für Fotos posierten. Gruppen fanden sich, umarmten sich wortlos und gingen, um Blumen abzulegen. Leiser Beifall kam auf, als eine kleine Gruppe die Marseillaise sang.

Die brennenden Fragen, die sich jetzt stellen, konnten an dem Abend nicht beantwortet werden. Doch sie stellen sich notwendigerweise.

Wie kann, wie muss eine offene, pluralistische Gesellschaft reagieren, ohne den Terroristen letztlich zum "Sieg" zu verhelfen? Denn wenn man davon ausgeht, dass das Ziel von Terrorismus ist, Angst, Schrecken und Ohnmacht zu verbreiten, dann wurde dieses Ziel durch die Pariser Anschläge erreicht. Gegen den “Zufall”, Opfer eines solchen Terroraktes zu werden, kann sich weder der Einzelne noch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit schützen. Müssen wir also tatsächlich lernen, mit solchen Terroranschlägen zu leben? Müssen wir – zum Schutz unserer Freiheitswerte – auch zukünftig "Kollateralschäden" in Kauf nehmen?

Und, nicht zu letzt: Wie läßt sich verhindern, dass Rechtspopulisten die Terroranschläge von Paris dazu nutzen, ausnahmslos gegen alle Flüchtlinge zu hetzen oder sich "der Westen" nun gegen die Flüchtlinge abschottet, die vor eben solchem Terror in Syrien fliehen?

Auch wenn es bitter ist, das auszusprechen: aber die Terroristen, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Auftrag des IS mordeten, haben es mit geringen Mitteln und wenig Personal geschafft, die gesamte westliche Welt zu erschüttern. Reflexartig reagierten einige Konservative mit Drohungen und dem Versuch, den "Westen" gegen den Rest der Welt abzuschotten. Andere – wie WELT-Autor Matthias Mattusek – gar schafften es, den schutzsuchenden Flüchtlingen aus Syrien zu unterstellen, den Terrorismus nach Europa zu bringen.

Der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, unter deren Dach auch die WELT erscheint, schreibt "Die Flüchtlingskrise und nun die Terrorwelle von Paris sind die Brandbeschleuniger eines Kulturkampfes, der seit Langem schwelt. […] Russen, Chinesen und die meisten islamischen Staaten wissen, was sie wollen und setzen das um." Einmal abgesehen davon, dass er mit diesem Satz Russland und China auf eine Stufe mit Terrororganisationen wie den IS stellt; er fordert deshalb eine "eine Politik der Stärke", die darin besteht, ein neues Einwanderungsgesetz zu fordern, "das Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und existentieller Not weiterhin Asyl gewährt, aber Wirtschaftsflüchtlinge und Einwanderer aus sicheren Drittländern konsequent abweist."

Das jedoch widerspricht den Grundwerten, auf die wir zu Recht stolz sind. Gerade auch das Recht auf Asyl (und die damit verbundene Einzelfallprüfung) ist das Ergebnis leidvoller Erfahrungen aus der Geschichte.

"Das Blut auf den Pariser Trottoirs ist noch nicht vollständig weggekärchert, da beginnt in Deutschland – und seltsamerweise nicht etwa in Frankreich – eine Debatte über den vermeintlichen Zusammenhang zwischen der akuten Zahl von Flüchtlingen und der Größe der latenten terroristischen Bedrohung. 'Weniger Flüchtlinge = weniger Terrorismus', lautet das Rezept dieser volksnahen Fertigbackmischung." Das schreibt – gleichfalls in der WELT – Sascha Lehnartz, der viele Jahre in Paris lebte. Er weist darauf hin, dass der eine bisher identifizierte Terrorist französischer Staatsbürger war. Welche Grenzsicherungsmaßnahmen stellt sich Herr Seehofer vor, die gegen einen im Landes lebenden Staatsbürger schützen sollen?

Und selbst wenn es sich zeigt, dass eventuell tatsächlich Terroristen als Flüchtlinge getarnt nach Europa einwanderten: gibt uns das das Recht, deshalb alle Flüchtlinge abzuweisen oder überhaupt nur unter einen Generalverdacht zu stellen?

Unsere europäische Willkommenskultur bezeichnet Bernd Ulrich in der ZEIT als den größten "Feind des islamistischen Terrors". Er fordert, dass Europa politisch umdenken muss: "Wir müssen den Islamismus bekämpfen und uns mit den Muslimen versöhnen. Denn das ist das einzige, was wir noch nicht ausprobiert haben: die Araber und Perser so zu behandeln, als seien sie Menschen wie Du und ich, wie Nachbarn." Das klingt allerdings etwas sehr blauäugig, denn solange wir von den ölreichen Staaten abhängig sind und ihnen im Austausch Waffen verkaufen, so lange wird sich außenpolitisch nichts grundlegend verändern. Und – Entschuldigung für den Pessimismus – solange mit Waffen sehr viel Geld verdient werden kann, solange wird sich auch an der europäischen und westlichen Außenpolitik nichts ändern. Es kann auch nicht darum gehen, sich "mit Muslimen" zu versöhnen; denn wer ist damit gemeint? Die saudischen Scheichs oder die Flüchtlinge, die aus dem Terrorkrieg in Syrien nach Europa fliehen?

Richtig ist, dass Europa die Grenzen nicht schließen darf vor denen, die vor den gleichen Terroristen fliehen, die in Paris ein Blutbad angerichtet haben. Wir müssen dem Reflex widerstehen, uns abzuschotten. Und dem, aus "Sicherheitsbedenken" nun noch mehr Freiheiten aufzugeben. Schon werden die Rufe nach einer Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung laut – dabei konnten auch die sehr strengen Anti-Terror-Gesetze in Frankreich die Anschläge nicht verhindern.

Die Gesellschaft muss jetzt auch darauf achten, nicht denen die Meinungshoheit zu überlassen, die die Flüchtlinge für die Terroranschläge verantwortlich machen wollen. Heute Abend in Dresden wird vermutlich genau das versucht werden. "Wer aber die Attentate von Paris mit den Flüchtlingen in Deutschland und Europa in einen einigermaßen direkten, gar ursächlichen Zusammenhang stellt, der hat nicht nur nicht recht, sondern er zündelt" heißt es in der ZEIT. Was eine offene, pluralistische Gesellschaft wie die unsere begreifen muss: "Die größte Beleidigung für ideologisierte Verbrecher ist die Freiheit - die Freiheit, an Gott zu glauben oder die Freiheit, Religion für ritualisierten Humbug zu halten. Es ist die Freiheit, alles Mögliche auf Youtube anzusehen, und die Freiheit, als Mann auch einen Mann heiraten zu können. Zu dieser Freiheit gehören übrigens in Frankreich auch Marine Le Pen und in Deutschland Pegida."

Weiterhin frei zu leben heißt vor allem: sich die Gefahren vor Augen zu halten und weiter so zu leben wie bisher: demokratisch, liberal, humanistisch.