Ukraine

Was es noch zu sagen gibt (1)

Warum überhaupt muss sich die Ukraine für eine Richtung entscheiden?

Weil die Diplomaten auf russischer und auf EU-Seite all die Jahre nicht in der Lage waren, sich näher zu kommen und Kompromisslösungen zu finden, die in beiden Lagern Akzeptanz hätten finden können. Ein Dialog fand weder statt, noch wurde ein solcher ernsthaft versucht. Die Ukraine befindet sich in einer Zwickmühle, eingekesselt zwischen rückwärtsgewandter sowjetischer Nostalgie ("in der UdSSR musste niemand hungern") und vorwärtsgewandter europäischer Utopie ("in der EU hat jeder ein tolles Einkommen und mindestens ein Auto"). Für große Teile der ukrainischen Bevölkerung spielte sich der Konflikt auf solch einer Ebene ab. Vor einigen Jahren noch.

Es hat sich seitdem einiges geändert, vor allem während den letzten drei Jahren.

Die Zweiteilung der Ukraine ist künstlich heraufbeschworen oder zumindest bewusst aufgebauscht, unabhängig der historisch gewachsenen Kluft zwischen der Ost- und der Westukraine. Wie es in anderen Konflikten mit anderen Akteuren immer wieder zu beobachten ist: Die Vergangenheit gilt als Steigbügelhalter für nationalistische und sonstige Interessen von Machthabern.

Warum Menschen in der Ukraine demonstrieren

Wut und Angst treibt die Menschen zu den größten Protesten in der Ukraine seit der Unabhängigkeit des Landes vor 22 Jahren.

Wut

Wut über die persönliche Bereicherung einiger Wenigen in diesem Lande, die ihre Machposition zur Plünderung der Staatskasse missbrauchen. Die Ukraine ist faktisch pleite. In Kiew und anderen Städten haben Ärzte, Lehrer, Fahrer von öffentlichen Transportmitteln sowie andere Staatsbedienstete seit Monaten keinen Lohn erhalten.

Präsident Janukowitsch frönt derweil einem feudalen Lebensstil. Unvorstellbarer Luxus, der teils Monarchien aus vergangenen Zeiten in den Schatten stellt. Helikopter, eigene Zugwaggons, ein fürstliches Anwesen als modernes Pendant zum Versailler Schloss ... überbordender Luxus bis ins kleinste Detail. Die goldene Kloschüssel Janukowitschs, Lüster um die 100.000 USD pro Stück, Armbanduhren im sechsstelligen Dollarwert, einen eigenen Helikopterlandeplatz auf einem eigens errichteten großen Gebäude in der Nähe seines "Arbeitsplatzes" und und und. Bilder und Videos über den präsidialen Luxus kursieren im Internet zuhauf. Der "Tagessatz" des Präsidenten, also das, was Janukowitsch den ukrainischen Staat kostet, wurde vor kurzem von Journalisten auf 230.000 USD geschätzt. Nochmals: Täglich!

 

Auch der Premier Asarow ist bekannt für seine Vorliebe für schöne und vor allem teure Dinge des Lebens. Dazu noch einige andere im Dunstkreise des Präsidenten, in erster Linie diverse Minister, die den Begriff "Existenzminimum" wahrscheinlich nicht mal korrekt buchstabieren können, aber die teuersten Limousinen und Geländewagen fahren, in Luxuswohnhäusern leben die man problemlos auch als mittelgroße Hotels führen könnte. Der Innenminister soll in dieser Hinsicht als Referenz erwähnt werden.

Wütend machen ebenfalls all die kleinen Machtkämpfe um Posten und Pöstchen seit 2010, die vielen hier zu schaffen machen und nie Eingang in die westlichen Medien finden. Über alle Hierarchien hinweg wurden und werden Menschen entlassen, bedroht, verhaftet, verurteilt, bloß weil irgendwer aus des Präsidenten Partei der Regionen ein Auge auf eine Stelle in einem Amt geworfen hat, die jemand aus dem oppositionellen Lager innehat.

Wirtschaftsbetriebe erleben mittels Raiderattacken, durchgeführt von Parteigenossen des Präsidenten und tatkräftig unterstützt von staatlichen Stellen, brutale feindliche Übernahmen. Dann steht schon mal unvermittelt eine Truppe uniformierter und maskierter Männer im Büro, Kalaschnikow im Anschlag, herumbrüllend, Akten und Computer entwendend, Mitarbeiter einschüchternd. Vor der Fußball-EM 2012 fanden solche Übernahmen verstärkt statt. So wechselte eines der größten Hotels in Kiew in wenigen Minuten den Besitzer. Hotelmitarbeiter wurden zusammengeschlagen, der Direktor aus dem Haus gejagt, ein Gast angeschossen ... Operation erfolgreich. Das Hotel ist immer noch im Besitz des Raiders, der es jetzt auch offiziell in seinem Besitz hält, wobei die involvierten Behörden schnell und unbürokratisch agierten.

Parlamentarier oder Familienangehörige fahren mit überhöhter Geschwindigkeit und oft unter Alkoholeinfluss Menschen tot. Trotdem werden sie nicht mal in Polizeigewahrsam genommen, kein Gerichtsverfahren wird angestrengt, und Hinterbliebenen von Opfern wird keine Entschädigung zugesprochen.