Ukraine

Ruhe vor dem Sturm?

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Foto: Maidan.in.ua

KIEW. (hpd) Vergangenen Dienstag sind euphorische Meldungen durch die internationale Presse gegangen: Etappensieg für die Opposition. Premierminister Asarow ist zurückgetreten. Kurz darauf ist die gesamte Regierung abgetreten.

Asarow ist nur ein Bauernopfer. Er selber wird es sehr gelassen angehen können und seinen Reichtum genießen, den er sich in der Ukraine, aber auch vor allem in Österreich angehäuft hat. Er wird seine neu gewonnene Freiheit genießen, während in der Ukraine weiterhin das politische Machtspiel weitergeführt wird.

Die eigentliche Ernüchterung aber ist: Nichts hat sich geändert. Der Interims-Premier, Arbusow, einer der ganz engen "Familienmitglieder" der Regierung, wird es nicht nur in puncto Loyalität zum Präsidenten seinem Vorgänger gleich tun. Er ist einer der Emporkömmlinge, die im Dunstkreis des Präsidentensohnes eine unglaublich rasante politische Karriere hingelegt haben: vom kleinen Bankfilialleiter zum Finanzminister in Rekordzeit.

Keine Deeskalation angestrebt

Die Personalwahl des Präsidenten beweist deutlich, dass er weiterhin auf Konfrontation aus ist. Dies hatte er übrigens bereits vorher bewiesen, indem er Klujiew als Koordinator für Gespräche mit der Opposition einsetzte. Ein rotes Tuch für die Opposition. Klujiew gilt als Strippenzieher der brutalen Übergriffe vom 30. November auf die Demonstranten auf dem Maidan.

Sicher, der Präsident hat der Opposition als erstes den Posten des Premierministers angeboten. Jatseniuk als Premier, Klitschko als sein Vertreter. Ein vergifteter Vorschlag, wie Klitschko es formulierte. Sinn dieser Operation war es, Zwiespalt innerhalb der Opposition zu säen. Man kann auch sagen, es war schlicht eine plumpe Falle, in die die beiden Oppositionspolitker folgerichtig nicht gefallen sind.

Erleichterung brach aus bei der Meldung, die umstrittenen Gesetze, die die Freiheit der Menschen in der Ukraine massivst beschneiden, wären zurückgenommen. Wieder eine Finte seitens der Regierung.

Die Rücknahme dieser umstrittenen Gesetze ist bislang nicht vom Parlamentssprecher und vom Präsidenten unterschrieben worden. Ergo gelten diese Gesetze weiterhin. Obendrein hat gestern das Ministerkabinett Maßnahmen unternommen, die Macht der Berkut (Spezialeinheit, die für die Niederschlagung von Protesten eingesetzt wird) zu erweitern und hat die Zahl der Berkut versechsfacht. Dies beunruhigt viele Demonstranten äußerst und es sieht definitiv nicht nach einer friedlichen Lösung aus. Darüber hinaus wurden diversen Behörden nichtoffizielle Anordnungen für einen Ausnahmezustand zugestellt.

Janukowitsch setzt parlamentarische Regeln außer Kraft, um seine Vorstellungen als Gesetze durchzuboxen. Dem Parlament lagen 4 Entwürfe zum Amnestiegesetz vor. Der Präsident ordnete die Wahl eines Phantomgesetzes an, ansonsten würde er das gesamte Parlament entlassen. Phantomgesetz deshalb, weil den Abgeordneten der entsprechende Gesetzesentwurf nicht schriftlich vorlag, diese also über ein Gesetz bestimmen sollten, deren Inhalt sie nicht kennen.

Gestern hat der Präsident der Opposition einen Kuhhandel vorgeschlagen: Befreiung der inhaftierten Demonstranten, falls innerhalb von 15 Tagen die besetzten Regierungsgebäude geräumt werden und die Demonstranten von der Straße verschwinden würden. Auf beiden Seiten weiß man, dass diese Forderung nicht erfüllt werden wird. Ein artifizieller Grund für einen kommenden Eingriff von Polizeieinheiten ist geschaffen.

Repressionen gehen weiter

Währenddessen werden in der Ukraine weiterhin Bürger verfolgt, misshandelt und getötet. Immer noch und immer wieder werden Verletzte von Polizisten aus Krankenhäusern gegen den Willen der Ärzte abgeführt und verhaftet. Unabhängig davon, ob diese nun tatsächlich in die Demonstrationen verwickelt waren oder nicht.

Offiziell gibt es zu beklagen: 5 Tote, 90 Vermisste, 1.000 Inhaftierte. Kaum jemand zweifelt daran, dass die tatsächlichen Zahlen weitaus höher liegen. Das Parlament und der Präsident gehen mit keiner Silbe darauf ein. Im Gegenteil, ein Gesetz, das Polizeibeamte und Berkut zur Rechenschaft ziehen sollte, wird nicht verabschiedet. Straffreiheit für gesetzlich verordnetes Morden!

Teile der Presse versuchen zu informieren. Aber:Journalisten werden gezielt ins Visier genommen. Ihnen wird Beteiligung an Massenaufständen zur Last gelegt und sie müssen sich vor Gericht dafür verantworten. Prominente Reporter verlassen das Land. Polizisten und Berkut betrachten Journalisten als ihre Feinde. Einige ukrainische Journalisten verlassen regierungsnahe TV-Anstalten.

EU laviert, Putin reagiert

Während die EU weiterhin wortreich alle Seiten zur Vernunft und zum Gewaltsverzicht auffordert, bastelt die Regierung Janukowitsch unbeirrt weiter am Machterhalt.

Die EU versteckt sich hinter einer Pseudodiplomatie aus Angst vor Russlands Putin. Deutlich geäußertes Missfallen an seiner Ukraine-Politik wird nicht laut. Auf Putins Vorwurf einer Einmischung der EU in innerer Angelegenheiten der Ukraine folgt kein Contra, z.B. ihn auf seine eigene Einmischung hinweisen durch Ausübung von Druck, Erpressung und – wie immer öfters aus verschiedenen Quellen berichtet wird – auch Senden von russischen Spezialeinheiten in die Ukraine.

Letzte Nacht, 29. Januar um 0:00 Uhr, hat Russland seine ökonomische Blockade gegen die Ukraine erneuert. Der russische Zoll hat damit begonnen, 100 Prozent aller Waren aus der Ukraine zu inspizieren. Ukrainische Unternehmen haben seit heute wieder massive Probleme an den russischen Grenzen.

Putin agiert und mischt sich auf eine Weise in die ukrainischen "inneren" Angelegenheiten ein, die die Unabhängigkeit des Staates Ukraine ad absurdum führt. Die EU beobachtet.

Friedliche Lösung in weiter Ferne

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Regierung und der Präsident das Feld nicht freiwillig räumen werden. Warum?

Längst schon geht es nicht mehr um Politik. Es geht um Macht und Reichtum ... und beides steht in der Ukraine in einer Wechselbeziehung.

Die Postion des Präsidenten ist für ihn und sein Umfeld prekär. Die Chance auf eine friedliche Lösung sind seit den gewalttätigen Zusammenstößen in der Gruschtscheskowo Straße auf Null gesunken. Man wird den Präsidenten nicht straffrei davonziehen lassen können. Er wird sich zu verantworten haben vor dem Volk für die Toten und Verletzte in dieser Auseinandersetzung.

Die Hauptforderung der Demonstranten darf trotz aller zur Zeit stattfindenden Gespräche nicht vergessen werden: Rücktritt der Regierung und des Präsidenten. Mit weniger werden sich die Protestler nicht zufrieden geben. Sie werden weiter demonstrieren ... bis zum Ende.

Für viele Menschen ist die Lage aussichtlos. Wird Janukowitsch weiterhin Präsident bleiben, werden sie mit schlimmsten Repressalien rechnen müssen. Furchtbare Rachefeldzüge werden befürchtet. Also kämpfen sie um ihr Leben, auch wenn sie es zu verlieren riskieren.

Die Aktivisten des Euromadians, der Zivilgesellschaft, haben folgenden Aufruf veröffentlicht:

"Während Sie auf der PACE-Konferenz debattieren: Mütter finden ihre Kinder tot, erfroren, mit zusammengebundenen Händen in Wäldern. Aktivisten werden aus Krankenhäusern entführt. Die Ukraine ist überflutet von Terror und niemand wird dafür verantwortlich gemacht! – Ihre politische Entscheidung kann das Leben tausender Unschuldigen retten!"

Ruhe vor dem Sturm?
Ruhe vor dem Sturm!