Im gemütlichen, saturierten Prenzlauer Berg tobt plötzlich der Protest. Warum? Weil der Weg ins nächste Multiplexkino ein wenig länger geworden ist.
Planet Erbe ist in Aufruhr! Prenzlauer Berg, der geistige Mittelpunkt der Republik, ansonsten wohlhabend verschnarcht und öffentlich höchstens in Debatten über die Inhaltsstoffe der veganen Eiscreme verstrickt, Prenzlauer Berg hat sich zu einem Straßenprotest bereitgefunden, so wie Maidan, Tahrir, so wie beim Mauerfall!
Und zwar wird den Anwohnern in Gleim- und Helmholtzkiez massiv das Menschenrecht beschnitten, mit ihren Kids gleich ums Eck ins Kino zu gehen, um die neuesten Hollywoodfilme anzusehen: Sammy Brauner, Sohn von Artur Brauner, Besitzer des traditionsreichen Kinos Colosseum, hat im Zuge der Coronakrise für das Kino die Insolvenz verkündet. Der Laden lief wohl schon vorher nicht so besonders gut, und für den neutralen Beobachter war es auch nie recht verständlich, warum man aus dem ehemaligen DDR-Premierenkino ein etwas seltsam geformtes Multiplexkino gemacht hatte, mit den üblichen braven Blockbustern und viel Familienkino und Popcorn für 10 Euro die Flocke, also genau dasselbe Angebot, das einen Fußweg entfernt das Multiplexcenter in der Kulturbrauerei anbietet. Derweil stellt sich heraus, dass schon lange vor Corona, im vorigen Herbst, ein Bauvorbescheid beantragt worden ist, um aus Teilen der ehemaligen Tramwaggonhalle ein Bürogebäude zu machen – Bürogebäude, pfui!
Das Böse hat also Einzug gehalten auf Planet Erbe, der miese, fiese Kapitalismus bedroht ein Auenland aus glücklichen Kindern und Hobbit-Eltern, deren einzige Sorge bislang die etwas überlange Rotphase an der Ampel gewesen ist, und die lange genug tatenlos zugesehen haben, wie Menschen in aller Welt gegen ihre Unterdrücker vorgegangen sind. Jetzt aber erheben sich die Prenzlberger! Und man sollte sie nicht unterschätzen. Sie sind die Ewoks aus "Krieg der Sterne" (denn damals, müsst ihr wissen, hieß "Star Wars" noch "Krieg der Sterne"), sie sind die Ent-Armee aus "Herr der Ringe", sie sind das letzte Aufgebot der Menschheit im Kampf gegen die Aliens aus "Independence Day": Im Juli haben sie eine erste Protestdemo hingelegt, so wie die Menschen in Weißrussland, wie die Montagsdemonstranten in der DDR, so wie Black Lives Matter begehren sie auf gegen das Unterdrückungssystem. Sie haben überall Plakate hingeklebt, in denen lauter Nichtanwesende beschworen werden, an den Verhandlungstisch zu kommen. Haben eine Website eingerichtet. Sie haben in sämtlichen Hauseingängen der Gegend Zettel aufgehängt. Haben per magischer Sprachgewalt aus ihrem schlecht laufenden, leicht deplatzierten Mainstreamkino einen "Kulturstandort" gemacht.
Und nun also, gestern, Donnerstag der 13., ist es soweit. Die Rebellenarmee unter der Führung des Colosseum-Betriebsrates führt den nächsten Schlag: schon wieder eine Demo! 300 kulturell interessierte Prenzlberger haben sich vorm Kino Colosseum versammelt, immer professioneller wird ihr Kampf, Verdi hat sie alle mit echt lauten Klatschpappen ausgestattet, und sie sind bereit, jedes Statement zu bejohlen – aber erst mal ist natürlich eine Schweigeminute angesagt. Danach wird scharf geschossen auf das Unrechtsregime Kapitalismus, das ein unrentables Kino einfach gnadenlos plattmachen will. Selbst die Schauspielstars Jürgen Vogel und Milan Peschel sind hier mit dabei, oder zumindest ihre Grußbotschaften, selbst hochrangige Politiker engagieren sich hier: Klaus Mindrup (MdB/SPD) sieht wacher aus als sonst immer auf den Plakaten, das mag am Mundschutz liegen. Stefan Liebich (MdB/Linke) läuft zur Hochform auf. Er findet, es müsse mit den Eigentümern gesprochen werden! Und ihm ist ganz wichtig, dass da eine Lösung gefunden wird! Eine Bezirksverordnete ist auch noch da, sie trägt einen Strohhut, sie sagt, es gehe jetzt darum, Gesprächsangebote zu machen! Einer von der "Bürgerinitiative Jahnsportpark" ergreift das Wort, da sind ebenfalls skandalöse Baumaßnahmen geplant, und er begeistert sich am heute spürbaren Kipppunkt der Kiezgeschichte, in die Massen ruft er hinein: "Schmeißen wir Brauner raus!"
Die Begeisterung ist enorm. "Jeder braucht Superhelden", sagt ein Demo-Schild, das nächste: "Und Superhelden brauchen ein Zuhause". Das macht alles so viel Mut, das beschwingt, wie hat Milan Peschel gesagt? "Wenn wir zusammenstehen, wenn wir sagen, dass wir es nicht hinnehmen werden – dann können wir es schaffen!" Und in diesem Geiste wird sich allmählich zum Demonstrationszug formiert, das kann dauern, man hat zwei riesige Plakate am Start, welche Immobilienspekulation kritisieren, nun wird man Richtung Helmholtzplatz ziehen, friedlich. Noch! Echter Revolutionsgeist brodelt bereits in dem kiezbekannten, stylish angegrauten Heavy-Metal-Biertrinker, der sonst gern an der Schönhauser Allee in der Sonne sitzt, piekfein herausgeputzt, frisch gewaschenes Metal-T-Shirt, glänzende Lederjacke, sonnengebräunt, gepflegter Bart, gepflegte Haare, Dosenbier. Als Erster zeigt er sich bereit, hier die Systemfrage zu stellen: Die Politiker, merkt er lauthals an, seien Heuchler, Lügner, Wichser! Wie zu Stasi-Ostzeiten sei das hier! Man wolle das Kino behalten! Einen der Redner hat er auch noch auf dem Kieker, was der denn für einen Dialekt gesprochen habe? "Der war niemals in Berlin."
3 Kommentare
Kommentare
Andreas am Permanenter Link
Was ist falsch daran, sich für den Erhalt des Kinos einzusetzen? Was ist daran ein "Prenzlauerberg-Ding"? Was will Klaus Ungerer eigentlich sagen?
Martin am Permanenter Link
Entweder daß Bürogebäude einen für unsere Gesellschaft höheren Wert haben als Kinos oder daß Entscheidungen zur Stadtentwicklung nicht durch den Pleb getroffen werden sollen, sondern durch die Besitzenden.
Andreas am Permanenter Link
@ Martin "Hoch lebe die Oligarchie!"