Europawahl 2014

Warum ist Europa wichtig? (11)

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Frieder Otto Wolf. Foto: © Evelin Frerk

(hpd) In dieser Interview-Serie geht es seit zehn Wochen um den Einfluss der Europawahl auf Menschenrechte und selbstbestimmtes Leben und Sterben.

Zum Abschluss befragten wir Frieder Otto Wolf, den Präsidenten des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) und der Humanistischen Akademie Deutschland. Wolf lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin und war von 1994 bis 1999 für Bündnis 90/Die Grünen Mitglied des Europäischen Parlaments.

Hier geht er auf populistische Entwicklungen und Potenziale für eine humanistische Europapolitik.ein.

Hallo Frieder Otto Wolf,

was macht der Humanistische Verband zur Europawahl und warum ist das für Sie ein wichtiges Thema?

Frieder Otto Wolf: Wir haben uns Mühe gegeben, die Wahl zum Europäischen Parlament genauso ernst zu nehmen wie die Wahl zum Deutschen Bundestag. Alle uns wichtigen Fragen haben wir an die wichtigsten kandidierenden Parteien gerichtet, deren Antworten eingeholt und entsprechend veröffentlicht. Damit konnten wir weit über den Humanistischen Verband Deutschlands hinaus zusätzliche Kriterien an die Hand gegeben, um sich bei diesen wichtigen Wahlen zu entscheiden.

Leider herrscht aber auch unter Menschen in Deutschland, die nicht religiös sind, der Eindruck vor, die europapolitische Ebene sei nicht wirklich wichtig. Deswegen wird wahrscheinlich die Wahlbeteiligung wieder gering sein. Gerade in den wichtigen Bereichen der Gleichbehandlung der Weltanschauungsgemeinschaften und der Auflösung der traditionellen Vermischungen von Staat und Kirchen gibt es in anderen Mitgliedstaaten der EU aber weit fortgeschrittene Entwicklungen, die sich dann auch gelegentlich auf der europäischen Ebene Ausdruck verschaffen. Das sollten wir nutzen, um auch in Deutschland endlich im 21. Jahrhundert anzukommen und einige alte Zöpfe abzuschneiden, wie das kirchliche Arbeitsrecht. Dabei kann europäische Politik hilfreich sein.

Laut Eurobarometer glauben 100 Millionen Menschen in der Union nicht an einen Gott. Das muss deshalb auch auf dieser Ebene immer wieder deutlich gemacht werden, wo in praktischen und politischen Konsequenzen der klare Dissens zu den religiösen Kräften auftritt.

 

Heißt das, der HVD engagiert sich auch außerhalb von Wahlkampfzeiten in der Europapolitik?

Unser Verband ist als Mitglied der Europäischen Humanistischen Föderation (EHF) europaweit im Gespräch mit den Schwesterorganisationen in anderen Ländern. Die EHF setzt sich auf EU-Ebene für die Verwirklichung säkularer Grundsätze in Europa ein und kämpft gegen religiöse Privilegierungen. Wir beteiligen uns hier an den Initiativen der EHF zur Durchsetzung der Gleichbehandlung von Religionsgemeinschaften und anderen Weltanschauungsgemeinschaften. Ferner stehen wir im ständigen Austausch und regelmäßiger Kooperation mit den humanistischen Verbänden in den Nachbarländern.

Als Dachverband auf europäische Ebene sind die MitarbeiterInnen der EHF eine unverzichtbare Interessenvertretung vor Ort, also bei den Institutionen der Europäischen Union und anderen Schlüsselstellen wie dem Europarat. Sie helfen dabei, dass unsere Belange auch dort im Blick bleiben, wo wir als Bundesverband an unsere Grenzen stoßen, z.B. durch Informationsaustausch, Stellungnahmen gegenüber den Institutionen oder eigene Veranstaltungen.

Erst am vergangenen Wochenende hat es im Brüsseler Rathaus eine Konferenz zum Thema gegeben, wie humanistischen Ideen, säkulare Positionen und Menschenrechte generell durch den in den letzten Jahren gewachsenen politischen Extremismus in fast allen EU-Staaten gefährdet werden. Im vergangenen Jahr gab es auch mehrere konkrete Ereignisse, wo Tätigkeit notwendig wurde: die Abstimmungen um die sogenannten Estrela- und Lunacek-Berichte sowie der besorgniserregende Zuspruch für die christlich-konservative Bürgerinitiative „One of Us“ zählen dazu. Zusammenarbeit findet aber auch über den Informationsaustausch und mediale Kommunikation hinaus statt, wenn wir etwa im Rahmen koordinierter Projekte in Kontakt mit den deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament treten.

Wir beobachten auch die Benachteiligung der EHF gegenüber insbesondere den christlichen Kirchen im Rahmen des in Artikel 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehenen Dialogs mit ihren Institutionen.

Schließlich gibt es auch die persönliche Begegnung zwischen den Mitgliedern der in der EHF vertretenen Verbände, damit sich zum Beispiel konfessionsfreie Jugendliche aus den verschiedenen EU-Ländern kennenlernen und feststellen können, dass es junge Humanistinnen und Humanisten in anderen Gegenden gibt und was sie gemeinsam bewegt.

Sicher wäre es wünschenswert, dass wir hier noch mehr tun könnten, in jeder Hinsicht. Angesichts unserer begrenzten Mittel wäre es dafür nötig, dass sich mehr konfessionsfreie Menschen darüber klar werden, dass Europa ein zutiefst humanistisches Projekt ist. Und, so wie viele andere gesellschaftliche Kräfte international denken und handeln, sollten wir das ebenfalls tun. Das kostet Kraft und Geld, aber ohne geht es eben nicht.

 

Europa Parlament in Straßburg: Ansicht von Ost und West
Fotografie, Illustration © Evelin Frerk

 

Wo sehen Sie Ansätze für eine humanistische Politik auf europäischer Ebene?

Zunächst einmal sollte man sich klarmachen, dass der Schwerpunkt der EU-Politik in der Wirtschafts- und Währungspolitik und den damit unmittelbar zusammenhängenden Bereichen liegt. Dennoch gibt es viele Formen der Kooperation und der gegenseitigen Beeinflussung zwischen den Mitgliedsländern, die für eine humanistische und säkulare Politik von Interesse sind.

Die Tatsache, dass bei der Verhandlung über den Lissabon-Vertrag der von deutscher Regierungsseite stark gemachte Wunsch nach einem Gottesbezug im geplanten Verfassungsvertrag nicht durchgekommen ist, sondern gleichberechtigt auf christliche und humanistische Tradition Europas verwiesen wurde, lässt deutlich erkennen, dass hier noch ein ganz erhebliches Potenzial in Richtung eines modernen, aufgeklärten und eben auch humanistischen Selbstverständnisses der europäischen Völker und der UnionsbürgerInnen besteht.

Viele Themen sind hier heute aus humanistischer Sicht relevant. Während der vergangenen Jahre und vor allem in den letzten Monaten gab es auf der europäischen Ebene wiederholt Angriffe auf Grundrechte, wie ich eben schon kurz anführte. Sie rühren daher, dass die vorhandenen Krisen politisch und religiös extremistischen und ebenfalls populistischen Strömungen überall neuen Auftrieb verliehen haben. Wir sehen das ja auch in Deutschland. Nationalistische und fremdenfeindliche Haltungen haben sich wieder in ganz Europa verbreitet. Demokratische Verhältnisse, Frauen- und Minderheitenrechte, Gleichbehandlungsgesetze oder auch die Forschungsfreiheit gehören zu ihren Zielen. Hier müssen wir auch in Zukunft zusammenstehen.

 

Gibt es denn für eine solche humanistische Europapolitik überhaupt schon institutionelle Voraussetzungen?

Wenn wir uns unvoreingenommen ansehen, was in dieser Hinsicht bereits in den Verträgen verankert ist, werden wir positiv überrascht: Auch wenn die Europäische Kommission bisher diese Instrumente einseitig im Sinne einer Bevorzugung der christlichen Kirchen genutzt hat, gibt es grundsätzlich Instrumente für einen kontinuierlichen Dialog der europäischen Institutionen mit den Weltanschauungsgemeinschaften in Europa. Hier geht es vor allem darum, durch beharrliche Arbeit durchzusetzen, dass diese Instrumente im Sinne einer völligen, diskriminierungsfreien Gleichbehandlung aller Weltanschauungsgemeinschaften angewendet werden, die auf dem Boden der modernen Menschen- und Bürgerrechte stehen.

Gerade als Vertreter des organisierten Humanismus dürfen wir nicht vergessen, dass mit dem Europarat ein wichtiges, in der deutschen Öffentlichkeit unterschätztes Instrument zur Durchsetzung einer umfassenden Politik zur Verfügung steht, das tatsächlich gesamteuropäisch zu wirken in der Lage ist. Angesichts der gegenwärtigen Gefahren einer erneuten Aufspaltung des europäischen Kontinents in nicht mehr miteinander kommunizierende Blöcke ist dies eine wertvolle Ressource, die im Sinne einer humanistischen Politik in Europa unbedingt weiter genutzt und gestärkt werden muss.

 

Engagieren sich Deutschlands Humanisten, Atheisten, Freidenker usw. zu wenig auf europäischer Ebene?

Darin unterscheiden sie sich leider nicht von den allermeisten Deutschen, die von der gegenwärtigen Bundesregierung ja auch in der Illusion bestärkt werden, dass alles Wichtige in Deutschland geschieht und die europäische Politik keine eigenständige Bedeutung hat. Das ist aber ganz offensichtlich falsch, auch wenn es wiederum Kanzlerin Angela Merkel ist, die als durchsetzungsstarke europäische Politikerin den Umgang mit der Finanzkrise oder mit den gegenwärtigen Krisenprozessen zwischen Nord- und Süd-Europa oder im Verhältnis zu Russland managt. Wer glaubt, dass dies vom deutschen Bundestag wirksam kontrolliert wird, der kann genauso gut auch noch an den Osterhasen und den Weihnachtsmann glauben!

Ganz wesentliche Zukunftsfragen – beispielsweise die gesamte Netzpolitik oder die Handelspolitik – werden längst auch offiziell auf der europäischen Ebene verhandelt und entschieden. Als Demokraten müssten sich gerade die Humanisten und Humanistinnen große Sorgen machen darüber, dass auch in der Europapolitik wirkliche demokratische Beteiligung zu Stande kommt. Dass kann nicht allein durch die Regierungen im Ministerrat und die von einer europäischen Minderheit gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments geleistet werden. Gerade die deutschen Humanistinnen und Humanisten sollten am Aufbau einer europäischen Zivilgesellschaft mitwirken, die auf Dauer – als Ergänzung der repräsentativdemokratischen Formen – allein die Qualität der demokratischen Mitwirkung an der europäischen Politik gewährleisten kann.

Allerdings gehören diese Dinge zu den großen Herausforderungen, von deren Komplexität sich die Bürgerinnen und Bürger im Alltag schnell erdrückt fühlen können. Sich auf die europäische Ebene zu begeben, kann aber schon im Kleinen beginnen: Indem man sich klarmacht, in welchem politischen und kulturellen Rahmen man sich als Person mit humanistischen und konfessionsfreien Überzeugungen befindet, und dass die hier geteilten Ideen und Positionen eine wertvolle Besonderheit darstellen.

In so gut wie allen EU-Staaten hat sich in den letzten Jahren gezeigt, wie fragil das humanistische Projekt Europa unter dem Druck der multiplen und voraussichtlich noch länger andauernden Krisenlagen geworden ist. Die europäische Ebene zu betreten, hieße wohl nicht nur, von der Notwendigkeit und vom Wert der vorhandenen Zusammenarbeit zu wissen, sondern auch eine Haltung einzunehmen: sich nicht als isoliertes Individuum zu sehen, sondern eben als Europäer und als verantwortlicher Angehöriger einer großen, länderübergreifenden und vielfältigen Kulturgemeinschaft. Und das ist doch immer möglich.

Das Interview führte Corinna Gekeler

In der hiermit abgeschlossenen Interview-Serie zur Europawahl erschienen:

Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)

Dr. Margret Steffen: Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und Expertin für gewerkschaftliche Europapolitik

Werner Hager: Sprecher der Säkularen Grünen NRW, der sich insbesondere mit Europapolitik befasst

Elfriede Harth: Katholische Feministin, die sich für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung engagiert

Conny Reuter: Generalsekretär von SOLIDAR, Co-Präsident der Liasion-Gruppe der europäischen Netzwerke beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss  und bis 2013 Präsident der Europäischen Sozialplattform.

Rob Buitenweg:  Vorstandsvorsitzender des Nederlands Humanistisch Verbond und im Vorstand der European Humanist Federation (EHF).

Karin Heisecke: Aktivistin zu sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, insbesondere auf europäischer Ebene.

Dr. Klaus Sühl: Leiter des Brüssel-Büros der Rosa Luxemburg Stiftung und ehemaliger Vorsitzender vom Humanistischen Verband Deutschland

Ulrike Lunacek: Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament und deren Spitzenkandidatin für die Europawahl sowie Vizepräsidentin und außenpolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament. Und Ko-Präsidentin der Intergroup on LGBT Rights

Andreas Kyriacou: Präsident der Freidenker-Vereinigung Schweiz (FVS)

 

Illustration: © Evelin Frerk