Justizreform in Israel: "Das Pulverfass steht kurz vor der Explosion"

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Demonstration gegen die geplante Justizreform, 13.02.2023
Demonstration gegen die geplante Justizreform

Zehntausende Israelis demonstrierten vergangenen Montag in Jerusalem gegen die von der Regierung vorangetriebene Justizreform. Zahlreiche Anwaltskanzleien und High-Tech-Unternehmen stellten ihre Mitarbeiter*innen frei, um an den Protesten teilzunehmen. Präsident Isaac Herzog warnte bereits vor Wochen vor Ausschreitungen und richtete mehrere fruchtlose Appelle an die Regierung. Nun hat sich sogar US-Präsident Joe Biden zu Wort gemeldet.

Während am Montag mehrere zehntausend Israelis auf die Straßen drängten, ging es im Justizausschuss nicht minder tumultartig zu: Im Laufe der ersten Lesung schwangen sich Abgeordnete der Oppositionsparteien über die Tische, skandierten "Schande!" und wurden schlussendlich von Sicherheitskräften der Räumlichkeiten verwiesen, manche gar unter Anwendung körperlichen Zwangs. Die Wutausbrüche der Opposition folgten auf eine Weigerung der Ausschussleitung, dem Vorschlag von Staatspräsident Isaac Herzog nachzukommen und die erste Lesung zugunsten der Kompromissfindung zu vertagen.

Netanyahus geplante Reformen (der hpd berichtete) stellen eine gravierende Zäsur im demokratischen System Israels dar. In Israel, wo es aufgrund des Einkammer-Parlaments de facto nur zwei staatliche Gewalten gibt, genießt der Supreme Court von allen staatlichen Institutionen das größte Vertrauen in der Bevölkerung. Von politischer Schlagseite des Gerichts kann, wie der ehemalige Associated Press-Redakteur und Israel-Korrespondent Dan Perry in einem Kommentar für die Jerusalem Post darlegt, allerdings keine Rede sein. Die Reformvorstöße von Netanyahus rechtsreligiöser Koalition seien, so Perry, vielmehr das Gebaren "unpatriotischer Politiker, trunken von Macht, die nach despotischer, unbeschränkter Herrschaft lechzen".

Sofern die Pläne der Regierung umgesetzt würden, könnte künftig eine einfache Mehrheit der Knesset jede Entscheidung des Supreme Court widerrufen. Auch das neunköpfige Panel, das Richter*innen am Supreme Court ernennt, wäre dann in der Hand der jeweils amtierenden Regierung. Die Argumentation, mit der Netanyahus Regierung die Pläne verteidigt, ist allerdings bestenfalls wackelig: Da Israel keine geschriebene Verfassung hat, gebe es keine Legitimation für ein Verfassungsgericht, das vom Parlament erlassene Gesetze revidieren könnte. Netanyahus Fraktion bezeichnet diese Art der Jurisprudenz – in Absenz einer Verfassung – paradoxerweise als "verfassungswidrig".

Die Situation ist derartig einzigartig in der Geschichte Israels, dass sich nun sogar US-Präsident Joe Biden zu einer Stellungnahme in der New York Times hinreißen ließ: "Die Stärke der US-amerikanischen wie auch der israelischen Demokratie liegt darin, dass sie auf starken Institutionen aufbauen, auf der Idee der Gewaltenteilung und auf der Unabhängigkeit der Justiz. Wenn es um fundamentale Reformen geht, ist Diskursbereitschaft essentiell, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung auch hinter diesen Reformen steht", so Biden.

Es ist wohl das erste Mal, dass ein amtierender US-Präsident sich öffentlich zu Interna der israelischen Politik äußert. Die Verbindung dieser beiden Staaten reicht weit über milliardenschwere Rüstungspartnerschaften und Tech-Kooperationen hinaus, es ist auch eine Wertepartnerschaft zweier Demokratien. Dennoch haben sich die USA bislang aus den innenpolitischen Angelegenheiten Israels, zumindest offiziell, herausgehalten. Dass sich Präsident Biden also gerade jetzt zu Wort meldet, verdeutlicht die zum Bersten angespannte Natur der Situation.

Staatspräsident Isaac Herzog warnte bereits vor einigen Wochen davor, dass der Konflikt um die Justizreform das demokratische Gefüge Israels zu zerreißen drohe: "Ich sehe, dass sich beide Seiten für einen Kampf um die Natur des Staates Israels bereitmachen, und ich habe Angst, dass wir vor einem internen Konflikt stehen, der uns alle verschlingen könnte", so Herzog. Er appelierte an die Regierung, das Gesetzesvorhaben zu verschieben und einen Dialog anzustoßen: "Das völlige Fehlen jeder Diskursbereitschaft zerreißt uns von innen, und ich sage euch: Dieses Pulverfass steht kurz vor der Explosion. Das hier ist ein nationaler Notfall."

Doch wie die letzten Tage gezeigt haben, stoßen alle Beschwörungen Herzogs auf taube Ohren. Der Justizausschuss unter Leitung von Simcha Rothman kündigte am Mittwoch an, die Hauptinhalte der Reform nicht zur Debatte zu stellen und wie geplant voranzutreiben – die Zivilgesellschaft reagierte mit Aufrufen für die nächste Großdemonstration und einen Generalstreik. Rothman bezeichnete die Forderungen nach einer Vertagung als "unverschämt" und einen "Schlag ins Gesicht von zwei Millionen rechtsgerichteten Wählenden". Eine jüngst durchgeführte Umfrage zeigt historische Polarisierungswerte in der israelischen Bevölkerung, knapp jede*r Dritte rechnet mit Ausschreitungen. Es scheint, dass Netanyahu und seine Koalition bereit sind, den offenen Konflikt zu riskieren, um ihre Justizreform durchzudrücken.

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