Ein Jahr Todestag von Jina Mahsa Amini:

"Feministische Revolution" verängstigt Mullah-Regime

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Der Slogan der iranischen Revolution: "Frauen.Leben.Freiheit" bei einer Demonstration 2022 in Köln. Auf den Plakaten im Hintergrund ist ein Foto von Jina Mahsa Amini zu sehen.
"Frauen.Leben.Freiheit"-Demonstration 2022 in Köln

Morgen jährt sich der Todestag von Jina Mahsa Amini und damit auch der Beginn des säkularen Aufstands für Frauen, Leben, Freiheit. Rudimentär erkämpfte Errungenschaften wie Händchenhalten von unverheirateten Paaren oder unbedecktes Frauenhaar auf den Straßen bringen das Islamische Regime seither zum Zittern. Mit dem Gedenktag fürchten die Mullahs ein neues Aufflammen des Ungehorsams. Aus Angst vor Autoritätsverlust schlägt der islamistische Terrorstaat mit einer geplanten Verschärfung des Hijab-Gesetzes und willkürlichen polizeilichen Repressionen um sich. Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen und die Zukunft der Protestbewegung zu betrachten.

Die Sittenpolizei des islamistischen Regimes im Iran verhaftete am 13. September 2022 die 21-jährige Jina Mahsa Amini in der Hauptstadt Teheran. Drei Tage später starb die junge Frau. Regime-Gegner sind überzeugt, dass dies auf die Folgen schwerer Folterungen im Zuge eines Verhörs zurückzuführen ist. Als Vorwand für die mutmaßliche tödliche Misshandlung brachten die Regime-Beamten das "nicht angemessen" sitzende Kopftuch der Kurdin vor. Verstöße gegen die islamistische Kleiderordnung verbucht die Theokratie unter "Korruption auf Erden" oder "Krieg gegen Gott".

Die Islamische Republik Iran ging zu weit

Dieser mutmaßliche Mord war "einer zu viel". Kurze Zeit später erfasste eine Protestwelle das Land, die sich im weiteren Verlauf als schwerste Erhebung gegen das islamistische Regime seit seiner Gründung 1979 herausstellen sollte. Ausgelöst in den kurdischen Provinzen Irans und angeführt unter dem Slogan "Jin, Jiyan, Azadi" (Kurdisch zu Deutsch: "Frau, Leben, Freiheit"), zeigte der Aufstand sich in spontanen Kundgebungen, Massendemonstrationen, Streiks, Social Media-Kampagnen, Tänzen auf den Straßen, solidarischem Haare-Kürzen als Akt der Trauer und öffentlichem Verbrennen der zwangsverordneten Kopftücher in den Metropolen und Dörfern des Vielvölkerstaates.

Die Minimalforderungen der Bewegung lauten nach wie vor "sexuelle Selbstbestimmung", "individuelle Freiheit" und "Minderheitenrechte". Diese gehen mit dem Ruf nach einem Regime Change zur Beseitigung der Mullah-Herrschaft einher. Die islamistische Theokratie mit ihrem "religiösen Revolutionsführer" als Platzhalter für den "verborgenen" zwölften Shia-Imam wird von weiten Teilen der Bewegung als nicht reformierbar identifiziert sowie als Wurzel des Staatsterrorismus abgelehnt. Insbesondere griffen die Proteste die Frauenunterdrückung und Geschlechterapartheid als tragende Säulen der Islamischen Republik an. Frauen, Männer sowie Angehörige sexueller und ethnischer Minderheiten kämpften und kämpfen weiterhin Seite an Seite für die Errichtung einer gleichberechtigten und säkularen Ordnung, womit von einer "feministische Revolution" die Rede ist.

Hoffnung auf ein Ende des Systems der Ayatollahs

Die monatelangen Unruhen nahmen eine bisher beispiellose Dimension an. So lautstark, deutlich und entschlossen waren die Menschen im Iran noch nie. Trotz der historischen Kontinuität vergleichsweise kleinerer Proteste gegen die islamistischen Machthaber, demonstrierten nun hunderttausende Menschen lagerübergreifend im ganzen Land, um dem diktatorischen Regime ihren Unmut entgegenzusetzen.

"Es entstand in der Tat eine 'Überbewegung', die zum ersten Mal auf eigenen Füßen stand, ohne sich auf traditionelle und religiöse Institutionen und deren Grundlagen zu stützen und dabei moderne, demokratische, anti-diskriminierende und frauenrechtliche Forderungen vertrat", so die Initiative Free Iran Now Kassel auf hpd-Anfrage zur Einschätzung der "neuen" Bewegung.

Durch Soziale Medien und die guten Verbindungen der Inlandsopposition mit säkularen Exil-Iranern gelingt der Bewegung eine Strahlkraft weit über die Grenzen Irans hinaus. Die federführende "Generation Z" sorgte mit Social Media-Trends maßgeblich dafür, dass der Terror des islamistischen Regimes nicht blind von der Weltgemeinschaft ignoriert werden konnte und die betroffene Bevölkerung Solidarität erfuhr. Erstmals wurden die Opfer der Islamischen Republik über Social Media umfangreich thematisiert und erhielten in der Öffentlichkeit Namen und Gesichter. Zumindest zeitweise herrschte die Auffassung in der westlichen Medienlandschaft: Wenn wir wegsehen, mordet das Regime.

Auch in den diplomatischen Beziehungen westlicher Länder zur Islamischen Republik Iran schien sich ein Wandel anzukündigen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfing im November 2022 vier iranische Frauenrechtlerinnen (Masih Alinejad, Shima Babaei, Ladan Boroumand und Roya Piraei) im Elysée-Palast. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2023 gehörte das Podium erstmalig den iranischen Oppositionsvertretern Masih Alinejad und dem Sohn des letzten Schahs Reza Pahlawi statt offiziellen Diplomaten des Regimes. Nach der Repräsentation der iranischen Bevölkerung durch unverschleierte, selbstbewusste Frauen sollte die Audienz Reza Pahlawis bei der israelischen Regierung in Jerusalem im April 2023 die zweite große narzisstische Kränkung der antisemitischen Islamischen Republik im Zuge der Protestbewegung werden.

Regelmäßig zeigten sich in den USA und ganz Europa unzählige Kundgebungen solidarisch mit der iranischen Bevölkerung. Die iranische Diaspora verfügt in Deutschland über eine stabile Infrastruktur und gründete in vielen deutschen Großstädten lokale "Frauen, Leben, Freiheit"-Ortsgruppen. 80.000 Menschen bekundeten Ende Oktober 2022 in Berlin ihre Solidarität mit der iranischen Freiheitsbewegung. Über Monate hielten die Proteste in und außerhalb des Irans an.

Schwerste Legitimationskrise des islamistischen Regimes

Optimistisch betrachtet sah es für ein paar Wochen des vergangenen Jahres so aus, als würde sich ein Richtungswechsel in der westlichen Außenpolitik abzeichnen und die Kraft der demonstrierenden Bevölkerung das Mullah-Regime allmählich in die Knie zwingen. Brutale Repressionen des islamistischen Unrechtsstaates gegenüber der eigenen Bevölkerung, wirtschaftliche Notsituationen sowie leere Versprechen des Westens schwächten jedoch schließlich die "Jin, Jiyan, Azadi"-Bewegung und führten zu einer Eindämmung der Straßenproteste.

Massendemonstrationen, breit angelegte Streiks und öffentlichkeitswirksame Rebellionen gegen die Geschlechtersegregation drohten zeitweise das Mullah-Regime ernsthaft zu destabilisieren. Große Teile der iranischen Bevölkerung entfremdeten sich sukzessive von der Herrschaftsclique des Regimes sowie der islamischen Religion als solche. Laut einer niederländischen Umfrage von 2020 identifizieren sich 63 Prozent der Iranerinnen und Iraner nicht (mehr) als Muslime. In der jüngsten Freiheitsbewegung fand dieser Widerspruch seinen aufbegehrenden Höhepunkt. Das System der Ayatollahs spürt diesen realen Machtverlust. Im vergangenen Jahr stärkte das Regime seine Sanktionsorgane, um mit roher Gewalt Autorität durchzusetzen.

Die regimeseitigen Gegenreaktionen auf die Protestbewegung waren an Brutalität nicht zu überbieten: Zu berichten ist von blutigen bis tödlichen Schlägen, Schüssen, Folter, Vergewaltigungen, Verfolgungen und Hinrichtungen als skrupellose Antwort auf Frauen wie Männer, die für ihr Menschenrecht "Freiheit" auf die Straße gehen und dabei im Zweifel bereit sind, ihr Leben zu riskieren. Die Regimeschergen töteten mindestens 500 und inhaftierten 30.000 Dissidenten.

Nicht nur im In-, sondern ebenfalls im Ausland versuchen die Agenten der Islamischen Republik den Widerstand zu brechen. Um die vernetzte Protestbewegung einzuschüchtern, greifen die Spione des Terrorstaates zu Drohbriefen, Hackerangriffen und Entführungen mit anschließenden Todesurteilen für Regimegegner. So traf es zum Beispiel den deutsch-amerikanischen Staatsbürger iranischer Herkunft Jamshid Sharmahd.

Neben der brutalen Exekutive lassen sich täglicher Widerstand und Massenstreiks unter dem Einfluss einer enormen Inflation nicht lange aufrechterhalten. Existenznöte und Probleme des bloßen Überlebens zwangen die vielen mutigen Iranerinnen und Iraner immer mehr zu einer öffentlichen Zurückhaltung.

Zusätzlich entpuppten sich westliche Solidaritätsbekundungen mit den Freiheitsprotesten vielfach als bloße Lippenbekenntnisse: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock leugnete einen Zusammenhang zwischen der misogynen Gewalt der Islamischen Republik und der Ideologie des (Politischen) Islam; die EU verweigerte eine Listung der regime-treuen Revolutionsgarde (IRCG) als Terrororganisation; eine Hannoveraner Privatklinik behandelte Ende Juli 2023 den eingeflogenen Mullah-Todesrichter Hossein Ali Naeiri; im Hintergrund gaben die USA 6 Milliarden Dollar der Islamischen Republik als Folge von Geiseldiplomatie frei und gleichzeitig liefen Geheimgespräche zur Neuverhandlung des Atomdeals.

Angesichts dieser westlichen Doppelmoral brachten Stimmen der iranischen Jugend im Juni 2023 im IranJournal ihre Enttäuschung zu Wort:

"Die Hände der westlichen und östlichen Regierungen sind mit dem Blut der iranischen Jugend befleckt." (…) "Wir sind die Menschen im Nahen Osten. In den Augen des Westens sind Angst, Folter und schreckliche Tode ein Teil unseres Schicksals."

Point of no return: Ein ungebrochener säkularer Geist

Trotz aller Hürden jetzt von einer Resignation der iranischen Protestbewegung zu sprechen, wäre falsch. "Die moralischen, psychologischen und kulturellen Errungenschaften dieser Bewegung sind unumkehrbar", betont Free Iran Now Kassel im Gespräch mit dem Autor. Im Grundsatz habe sich nichts geändert, die revolutionäre Überzeugung bleibt unter den Iranerinnen und Iranern bestehen. Sie wurde mehr ins Private verlagert und zeigt sich vor allem in kleineren, spontanen Widerstandsaktionen innerhalb der öffentlichen Alltagsführung, wie durch radfahrende Frauen oder der Normalisierung von unbedecktem Frauenhaar in der Fußgängerzone. Ein progressiver Wandel ist im Stadtbild iranischer Metropolregionen zu beobachten. Ein ganz neuer Lebensstil ist entstanden, der sich trotz des Wegfalls der großen Aufstände auf den Straßen Irans widerspiegelt.

Einige Iranerinnen und Iraner sprechen von einer "kulturellen Revolution", die sich in den sozialen Beziehungen vollzieht und damit eine moderne gesellschaftliche Transformation des Irans vorantreibt. Konstatiert werden muss also, dass die Anzahl der Demonstrationsteilnehmer nicht das einzige Anzeichen für Veränderung darstellt, sondern die sich wandelnde Einstellung eines Großteils der Bevölkerung maßgeblich ist.

"Mahsa Day Rally": Mullahs setzen auf Abschreckung

Es herrscht damit keine Rückkehr zu einer sogenannten "Normalität". Der befürchtete Stillstand ist nicht eingetreten, sondern markierte vielmehr eine Atempause, die dem Kräftesammeln für eine zweite Phase der "feministischen Revolution" dienen könnte. Berichte von ersten militanten Angriffen auf Institutionen des Regimes, wie zum Beispiel der Anschlag Ende Juli auf eine Polizeiwache im Südosten des Iran, zeigen, dass die Proteste jederzeit neu aufflammen und sich wieder verhärten können. In der säkularen Diaspora-Gemeinschaft wird unter dem Titel "Mahsa Day Rally" international zu Großdemonstrationen zum Beispiel in Los Angeles, Kanada, Schweiz, Australien, Türkei und Niederlande mobilisiert. In Deutschland ist am 16. September 2023 mit Straßenprotesten in Hamburg, Köln und Berlin zu rechnen.

Nicht nur die Opposition, sondern vor allem das islamistische Terrorregime bereitet sich mit Verschärfungen der Hijab-Auflagen und polizeilichen Sanktionen auf die Wiederbelebung des Protestes vor. Einem neuen Gesetzentwurf zufolge sollen Verstöße gegen das zwangsverordnete Kopftuchtragen mit fünf bis zehn Jahren Haft, statt bisher mit zehn Tagen bis zwei Monaten, bestraft werden (der hpd berichtete). Zusätzlich drohen Repressionen für Geschäftsbesitzer, die Frauen ohne "korrekt sitzenden" Zwangsschleier bedienen. Darüber hinaus verbreiten sich Nachrichten über Überwachungskameras, die mit Software aus China und Hardware zum Beispiel von Bosch aus Deutschland eine Identifizierung von "Hijab-Verstößen" vereinfachen soll.

Neben der Verstärkung der systematischen Geschlechterdiskriminierung zur sexuellen Kontrolle von Frauen (Hijab-Pflicht), versucht das Regime, mit einer Inhaftierungs- und Klagekampagne Druck auf die säkularen Bürger Irans auszuüben. In den vergangenen Wochen beschuldigte die islamistische Justiz des Iran eine reformorientierte Zeitung wegen "Kollaboration mit feindlichen Staaten". Das de facto iranische Scharia-Gericht verklagte den Anwalt von Jina Mahsa Amini aufgrund von "Propaganda gegen das System", verhaftete sechs Organisatoren des Mahsa-Days und verurteilte eine Frau zu 74 Peitschenhieben, weil sie mutmaßlich gegen den obligatorischen Hijab verstieß.

Das Regime wird sichtlich nervös und zieht seine Schrauben an. Mit dem Erfolg einer "feministischen Revolution" würde der islamistische Terrorstaat von seinem diametralen Gegensatz und schlimmsten Albtraum abgelöst werden. So rezitierte die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri eine junge Frau aus Teheran:

"Was ist, wenn wir es schaffen? Dann würde es einen Iran geben, der befreundet wäre mit Israel. Dann bräuchte Israel weniger Waffen und Saudi-Arabien auch. Es gäbe keinen Krieg im Jemen. Irak könnte seine eigene Politik bestimmen. Die Hisbollah und die Hamas hätten keine Finanzierer mehr. Russland würde keine Drohnen und keine Mittelstreckenraketen geliefert bekommen, die sie im Krieg gegen die Ukraine einsetzen. Putin hätte keinen mächtigen Verbündeten mehr in der Region. Die Gefängnisse, in denen unsere Intellektuellen, unsere Anwälte, die politischen Gefangenen sitzen, wären leer. Und man müsste sich nicht mehr fürchten vor einer Atombombe in den Händen der Mullahs. Und eine Frau wäre Präsidentin, die als ersten Amts-Akt nach Yad Vashem geht und einen Kranz niederlegt."

In diesem Sinne: Rest in peace Jina Mahsa Amini – make her memory be a secular revolution.

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