(hpd) Der Soziologe Peter Ullrich nimmt in seinem Buch eine Analyse einschlägiger Debatten um die Einstellung zum Staat Israel im genannten politischen Lager vor. Das Buch beeindruckt durch eine differenzierte und reflektierte Sicht auf das Thema, wirkt aber durch den Abdruck von bereits erschienenen Texten insgesamt aber etwas fragmentarisch.
Die Einschätzung der Rolle des Staates Israel im Nahost-Konflikt gehört zu den in Deutschland wohl mit am emotionalsten und heftigsten diskutierten politischen Fragen. Dies gilt auch und gerade für die politische Linke, womit hier das politische Lager in Gänze und nicht nur die sich so nennende Partei gemeint ist. Dort besteht ein "antideutscher" Flügel, der eine pro-israelische Auffassung einnimmt, und ein "antiimperialistischer" Flügel, der eine pro-palästinensische Position vertritt. Erstere unterstellen Andersdenkenden vorschnell Antisemitismus, während Letztere die Existenz von Judenfeindschaft in der Israel-Feindlichkeit leugnen.
Ein Beobachter und Kommentator derartiger Auseinandersetzungen ist bereits seit Jahren der Kulturwissenschaftler und Soziologe Peter Ullrich, der einige seiner Analysen zum Thema in dem Band "Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs" zusammengefasst hat. Darin will er aus wissenssoziologischer Sicht einschlägige Diskurse untersuchen.
Bereits am Anfang benennt und kommentiert er die Pole der Debatte: "Die am lautesten wahrnehmbaren Stimmen kennen oft nur ein Entweder-Oder: Sie verfügen über unverbrüchliche Identifizierungen mit einer der Konfliktseiten, bekämpfen sich gegenseitig auf Basis festgefügter Feindbildern, äußern – obwohl Zweifel doch so oft angebracht wäre – mit äußerst geringer Selbstreflexion verbundene rigide Antisemitismusvorwürfe oder weisen – das andere Extrem – solche mit schon fast verblüffender Leichtigkeit reflexhaft zurück" (S. 13).
Die Heftigkeit der Debatte führt Ulrich, auch in vergleichender Betrachtung der Linken in Großbritannien, mit auf die Erinnerungsdiskurse bezogen auf Holocaust und Nationalsozialismus zurück. Es gebe jeweils ausgeprägte Identifikationen mit den Juden bzw. den Palästinensern als Opfern der Diskriminierung und Verfolgung in Geschichte bzw. Gegenwart. Einschlägige stereotype und vereinfachende Weltbilder spitzten sich in der innerlinken Debatte immer wieder emotional und ideologisch zu.
Dabei könne man sehr wohl auch antisemitische Einstellungen ausmachen, wenngleich nicht in allen jeweils behaupteten Fällen. Als wichtiges Kriterium im Sinne eines "Lackmustest für die 'Israelkritik'" fragt Ullrich danach, ob "die Lage und berechtigten Interessen aller heute in der Region lebenden Menschen zum Ausgangspunkt des Engagements gemacht wird" (S. 115).
Neben antisemitischen konstatiert der Autor aber auch rassistische Tendenzen, etwa wenn die Palästinenser in der "antideutschen Linken" als antisemitisches Kollektiv gelten würden. Danach geht es um unterschiedliche andere Aspekte des Themenkomplexes, wozu etwa die Nachwirkungen des Antisemitismus und des Nationalsozialismus im medialen Nahostdiskurs oder der Umgang der DDR mit den dortigen Juden und dem Staat Israel gehören. Schließlich findet noch die Debatte um einen Antisemitismus in der Partei „Die Linke“ gesonderte Aufmerksamkeit, wobei Ullrich mit einigen Ausnahmen die Angemessenheit einschlägiger Behauptungen verneint.
Die meisten Texte des Bandes erschienen als Artikel oder Aufsätze bereits zuvor an anderer Stelle, so erklärt sich der fragmentarische Eindruck des Gesamtwerkes. Eine allzu kurz gehaltene Antisemitismus-Definition (vgl. S. 52) findet man etwa erst nach einem Viertel des Textes, wobei sie zuvor um der klaren Einordnung der Ausführungen willen schon nützlich gewesen wäre. Gleichwohl muss Ullrich gegenüber Lob für die theoretischen Aspekte seiner Betrachtungen ausgesprochen werden, unterscheidet er doch bei seiner Analyse unterschiedliche Ebenen (vgl. S. 53). Differenzierte Einschätzungen werden erst durch differenzierte Methoden möglich. Ab und an kann gefragt werden, ob hinter einer dramatisierenden und einseitigen Israelfeindlichkeit nicht ein dogmatischer Antiimperialismus statt ein vehementer Antisemitismus steckt. Diesen Gesichtspunkt hätte Ullrich in der Gesamtanalyse noch stärker berücksichtigen können. Unabhängig davon handelt es sich aber um eine differenzierte und reflexionswürdige Erörterung.
Peter Ullrich, Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs. Unter Mitarbeit von Daniel Bartel, Moritz Sommer und Alban Werner. Mit einem Vorwort von Micha Brumlik, Göttingen 2013 (Wallstein-Verlag), 208 S., 19,90 €.