Warum die Kriminalisierung professioneller Freitodbegleitungen ein Erfolg kirchlicher Lobbyisten ist

"Diese Politiker sind verantwortlich dafür, dass Sie möglicherweise qualvoll sterben müssen!"

"Das Verbot der Sterbehilfe ist ein Erfolg kirchlicher Lobbyisten" – Interview mit dem Politologen Carsten Frerk ("Kirchenrepublik Deutschland")

Frage: Herr Frerk, nach Ihren Recherchen zu den Kirchenfinanzen haben Sie jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem Sie sich mit der "Kirchenrepublik Deutschland" und dem kirchlichen Lobbyismus beschäftigen. Vorrangig an historischen Beispielen erläutern Sie Art und Struktur dieser Einflussnahmen und Arbeitsweisen der kirchlichen Lobbybüros. Ist dieser Lobbyismus heute noch wirksam?

Dr. Carsten Frerk: Ja. Normalerweise findet diese Einflussnahme im Verborgenen statt. Die Kirchen sehen die Auswirkungen lieber jahrzehntelang in den Gesetzen, als dass darüber in der Tagespresse berichtet wird. Aber vor wenigen Tagen konnte der Kirchenlobbyismus im Bundestag in aller Öffentlichkeit einen grandiosen Erfolg verbuchen: Das Verbot der "geschäftsmäßigen Sterbehilfe" wird als § 217 in das Strafgesetzbuch eingefügt.

Warum schreiben Sie dieses Abstimmungsergebnis den Kirchen als Erfolg zu?

Sie waren die treibende Kraft. Seit Mitte der 1980er Jahre hat es in Deutschland eine Diskussion über die Sterbehilfe gegeben. Der Suizid und die Beihilfe zum Suizid waren in Deutschland grundsätzlich straffrei. Die Gründung von Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz (Exit 1982 und Dignitas 1998) sowie die Entwicklungen in den Niederlanden und Belgien – die eine kontrollierte und von Ärzten ausgeführte Sterbehilfe erlauben – brachten die Diskussion in Deutschland dann auch voran.

Insbesondere die Rolle der Ärzte wurde dabei diskutiert und der Deutsche Juristentag empfahl 2006 die Straffreiheit für Ärzte gesetzlich zu regeln. Die Kirchen, vor allem die katholische Kirche, hat sich früh und ausdrücklich dagegen positioniert sowie Regelungen zur Strafbarkeit der Sterbehilfe in Deutschland gefordert. Nun, 2014 in der Großen Koalition, sollte dieses Thema durchgesetzt werden und es wurde ein "Fahrplan" für ein Gesetz zur Sterbehilfe abgesprochen.

Welche Instrumente nutzen die Kirchen, um ihre Auffassungen politisch wirksam werden zu lassen?

Sie sind mehrgleisig aktiv. Lassen Sie es mich für die katholische Kirche erläutern, bei der EKD ist es etwas komplizierter. Da ich als Wissenschaftler nicht "hinter die Kulissen" blicken kann, schildere ich, was hinsichtlich der Position der Kirche öffentlich geworden ist.

Erstens, auf der obersten Hierarchieebene, sprachen die Bischöfe in Spitzengesprächen mit den Führungen politischer Parteien und verdeutlichten ihre Forderungen hinsichtlich der Sterbehilfe. Dabei konnten sie anmerken, dass es "wahlausgangsrelevante Folgen haben könnte", wenn man die Auffassung der Kirche nicht berücksichtige. Alle Parteivorsitzenden, mit denen damals gesprochen wurde, Dr. Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Cem Özdemir sowie (bis 2013 Mit-Vorsitzende) Claudia Roth (Grüne) stimmten mit "Ja" für den Entwurf Brand/Griese. Gabriel, Özdemir und Roth standen dabei im Gegensatz zu ihren Fraktionen, die mehrheitlich mit "Nein" stimmen.

Zweitens wurden die Laienorganisationen positioniert, die dann (wie das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, ZdK, der Bund katholischer Unternehmer, BKU, die Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung, KVV, das Kolpingwerk, der Caritasverband etc.) entsprechende flankierende Stellungnahmen abgaben. Parallel dazu war die vom Malteserorden gegründete "Deutsche Stiftung Patientenschutz" aktiv, die im Mai 2014 einen Gesetzentwurf vorlegte, der im Kern identisch ist mit dem späteren Brand/Griese-Entwurf.

Drittens wurden in Katholischen Akademien Tagungen organisiert, auf denen kirchennahe Professoren und Sachverständige die Aspekte ausarbeiteten, die an die Verbände und den Kirchen nahe stehenden Politikern als Argumentationshilfen weitergegeben wurden. Dabei wurden Kommunikationsstrategien formuliert, die darauf abzielten, den Menschen (Bürgern, Parlamentariern) Angst zu machen: Werde die organisierte Sterbehilfe nicht verboten, würde das einen "Dammbruch" bedeuten. Ältere Menschen könnten sich gehäuft veranlasst sehen, sich zu töten, um ihrer Familie nicht zur Last zu fallen. Randphänomene wie der Verein "Sterbehilfe Deutschland" wurden dabei in ihrer Bedeutung drastisch überhöht und die Suizidhilfe – im Widerspruch zu jeder Realität – als "Dienstleistung: Tod" dargestellt, als ob es eine Selbstverständlichkeit werden würde, sich mal eben schnell selbst zu töten.

In Ihrem Buch "Kirchenrepublik Deutschland" betonen Sie die Bedeutung der sogenannten Katholischen und Evangelischen Büros. Haben auch sie eine Rolle in der Sterbehilfedebatte gespielt?

Cover

Selbstverständlich. Das Katholische Büro, das schon seit 2003 vor der Sterbehilfe warnte, prüfte 2015 die vier vorliegenden Gesetzentwürfe und verbreitete eine Stellungnahme. Der weitestgehende Entwurf (Sensburg/Döhring), der Sterbehilfe generell unter Strafe stellen wollte, wurde zwar als grundsätzlich richtig, aber als zu radikal und nicht durchsetzungsfähig bewertet. Der Entwurf Brand/Griese, der "nur" die "geschäftsmäßige Sterbehilfe" unter Strafe stellt, wurde als Kompromiss befürwortet. In der "ganzheitlichen Betreuung" der katholischen MdBs durch das Büro wurden bei Gebetsfrühstücken, parlamentarischen Abenden u. a. m. die überzeugten Katholiken in diesem Sinne bestärkt. Je näher der Termin der Abstimmung im Bundestag rückte, desto aktiver wurde das Büro. Wenige Tage vor der Abstimmung schickte das Katholische Büro zusammen mit dem Evangelischen Büro auf dem sogenannten Doppelkopfbriefbogen an alle Bundestagsabgeordneten ein Schreiben, in dem sie noch einmal für den Entwurf Brand/Griese warben.

Ein ähnliches Schreiben ging dann auch über die Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, SPD und Bündnis90/Grüne an ihre jeweiligen Fraktionsmitglieder…

Richtig. Einen Tag vor der Abstimmung schickten Kauder, Gabriel und Göring-Eckardt an alle Mitglieder ihrer Fraktionen ein an den Kirchenbrief stark erinnerndes Schreiben, in dem sie – vorgeblich als einfache Abgeordnete, aber eben doch mit der Autorität und Macht ihrer Ämter – für die Zustimmung zum Entwurf Brand/Griese plädierten. Dadurch entstand ein verkappter Fraktionszwang, obwohl der für die Abstimmung ja nicht gelten sollte. Hilfreich war dabei natürlich die namentliche Abstimmung, da nun im Nachhinein für jeden Abgeordneten überprüft werden kann, wie er bzw. sie abgestimmt hat, was dann wohl auch entsprechend vermerkt wird.

Was haben die Kirchen und die Parlamentarier davon, sich über die Auffassungen und Wünsche der Mehrheit von rund 80 Prozent der Bevölkerung hinwegzusetzen?

Ein Teil der MdBs wird eigenen Überzeugungen folgen, ein anderer Teil unterwirft sich dem Druck von Kirche, Parteiführung und Fraktionsvorsitz. Den Kirchen geht es um etwas Anderes. Ihre gesellschaftliche Macht beruht u. a. darauf, dass sie die Deutungshoheit über das Leben des Menschen beanspruchen, insbesondere den Anfang des Lebens und das Lebensende. Hinsichtlich des Lebensanfangs haben die Kirchen in den 1970 und 1990er Jahren hinnehmen müssen, dass ihnen ihre Deutungshoheit über den Lebensanfang (durch Pille, Schwangerschaftskonfliktberatung und Abtreibung) verloren ging. Nun wollen sie nicht auch noch die Deutungshoheit über das Lebensende verlieren.

Steht aber nicht die gesamte gesellschaftliche Entwicklung des größeren Freiheitsraumes des Individuums diesem Anspruch entgegen? Die Befreiung des Menschen von staatlichen oder religiösen Vorschriften?

Die Kirchen denken nicht pragmatisch oder vom Menschen her, sie sind korporative "Überzeugungstäter". Sie denken in Kategorien wie Strafe, auch wenn 140 Professoren des Strafrechts eindeutig erklärt haben, dass jedwede Regelung zur Sterbehilfe im Strafrecht nichts zu suchen habe. Und, wie es militärisch heißt: Rückzugsgefechte werden am härtesten geführt! Gerade weil die Säkularisierung der Gesellschaft voranschreitet, halten die Kirchen dagegen. In den vergangenen zehn Jahren lässt sich eine entschlossenere religiöse Positionierung im öffentlichen Raum beobachten. Sei es das "Adventssingen" im Gebäude des Bundestages und der Landtage, sei es, dass alle Bundesminister, einschließlich der Kanzlerin, die Eidesformel "So wahr mir Gott helfe" geschworen haben.

Die Religionsbeauftragten der Parlamentsfraktionen, früher eine nebensächliche Aufgabe, sind seit zwei Legislaturperioden entschlossene Interessenvertreter der Kirchen, die ihre gläubigen Kollegen "bei der Stange halten". Es ist wahrlich kein Zufall, dass der den Kirchen genehme Gesetzentwurf von der Pfarrerstochter Kerstin Griese, MdB, vorgetragen wurde. Seit 2008 ist sie Sprecherin des "Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD" und von 2006 bis 2009 und seit 2011 Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Seit 2003 ist sie zudem Mitglied der Synode der EKD.

Ähnliches gilt auch für die Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und den Grünen, oder?

In der Tat. Volker Kauder, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, ist nicht nur bekennender evangelikaler Christ, sondern wurde im Juni 2014 auch mit der Komturstufe des päpstlichen Gregoriusordens dekoriert, für "sein von christlichen Werten geprägtes Handeln in Politik und Gesellschaft". Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen, ist seit 2007 Mitglied im Vorstand des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags und war von 2009 bis Oktober 2013 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Griese, Kauder und Göring-Eckardt sind, neben einigen anderen, bedeutende "Brückenköpfe" des kirchlichen Lobbyismus im Deutschen Bundestag.

Sind Sie eigentlich ein Anhänger von Verschwörungstheorien?

Wahrlich nicht! Ich spreche hier auch nicht von einer "großen, geheimen Verschwörung", sondern von einer im Grunde recht alltäglichen Form des politischen Netzwerkens. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass die Kirchen zwar reiche Organisationen sind, die aufgrund ihrer Geschichte über beste Kontakte zur Politik verfügen, dass dies aber keineswegs bedeutet, dass sie die Demokratie tatsächlich lenken könnten. Im Falle der Sterbehilfe konnten sich die Kirchen trotz der Stimmen der CDU/CSU nicht sicher sein, ob sie sich mit ihren Wünschen durchsetzen würden. Auch die maßgeblichen Politiker konnten nicht unbedingt davon ausgehen, dass ihre Fraktionen im Sinne der Kirchen abstimmen würden. Ansonsten wäre es wohl kaum zu der Intervention der drei Fraktionsvorsitzenden gekommen. Immerhin bedeutete dieses Dreikopf-Schreiben ja eine klare Verletzung parlamentarischer Regeln. Niemand nahm ihnen ab, dass sie sich nur als "einfache Abgeordnete" an ihre Kollegen wandten. Kauder, Gabriel und Göring-Eckardt standen offenbar unter gehörigem Druck und nutzten jede Chance, um die Mehrheit für das Verbotsgesetz zusammenzubringen, was ihnen schließlich auch gelang, prinzipiell aber auch hätte scheitern können.

Ist der Titel Ihres Buches "Kirchenrepublik Deutschland" dann nicht doch etwas überzogen?

Nein. Die Kirchen sind seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland geräuschlos in den kompletten Gesetzgebungsprozess in Bund und Ländern eingebunden. Dafür bestehen keinerlei rechtliche Grundlagen. Sie agieren wie ein Schattenparlament oder eine Art Nebenregierung ohne jegliche demokratische Legitimation. Insofern sind sie maßgebliche Akteure der Politik. Aber: Sie sind natürlich keineswegs die einzigen Akteure. Und aus eben diesem Grund heißt mein Buch auch "Kirchenrepublik Deutschland" – nicht "Kirchendiktatur Deutschland". Die Zivilgesellschaft kann dem kirchlichen Lobbyismus durchaus entgegenwirken. Doch dazu muss das Problem des kirchlichen Lobbyismus zunächst einmal erkannt werden, wozu meine Studie hoffentlich beitragen kann.