War es nur ein Sturm im Wasserglas – oder doch ein großes Finale? Die dänische Ratspräsidentschaft wollte kommende Woche über eine Neuauflage der Chatkontrolle entscheiden lassen, die sich bereits mehrfach als unvereinbar mit europäischen Grundrechten erwiesen hatte. Nach einem kurzen, aber heftigen Aufschrei der Zivilgesellschaft wurde das Vorhaben jetzt abgeblasen. Es könnte der letzte Versuch gewesen sein.
Kurz gesagt ging es bei diesem Gesetzentwurf darum, die Vertraulichkeit unserer privaten Online-Kommunikation infrage zu stellen. Sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung hat sich bei Messenger-Diensten wie Signal, Threema oder WhatsApp als Standard etabliert. Damit sollte eigentlich niemand ein Problem haben – privat ist privat. Aber natürlich gibt es Menschen, die im Schutze dieser Privatheit schlimme Dinge tun. Abbildungen und die Anbahnung sexueller Gewalt gegen Kinder ("CSAM" und "Grooming") sind dabei ein besonders ernstzunehmendes und abscheuliches Delikt. Diese – und nur diese – sollten nun zum dritten Mal als moralische Brechstange dafür herhalten, das Prinzip der Verschlüsselung auf die eine oder andere Art zu brechen.
Die Vorschläge dazu waren vielfältig: Man wollte alles scannen, aber bei unverdächtigen Inhalten quasi wegschauen. Man wollte Inhalte schon vor der Verschlüsselung direkt auf dem Gerät durchsuchen ("Client Side Scanning"). Oder jetzt eben: Man durchsuche Inhalte nur nach bereits bekanntem Bildmaterial (und benachrichtige selbstredend die Polizei, wenn etwas Kompromittierendes gefunden wird). Der Abgleich mit bekannten Bildern hätte tatsächlich den Vorteil, dass man nur Hashwerte – quasi eine Quersumme – abgleichen müsste und so keinen Zugriff auf andere Inhalte hätte. Auf diversen öffentlichen Plattformen ist so eine Kontrolle bereits bis auf Weiteres Praxis. Aber wie man es dreht und wendet: Diese neue Überwachungsinfrastruktur wäre an so vielen Stellen hanebüchen, dass Experten durch die Bank davor warnen, diese Büchse der Pandora zu öffnen.
Unwirksam und dystopisch
Dabei kann man der Chatkontrolle nicht einmal besondere Wirksamkeit bescheinigen, denn Kriminelle wissen sich zu helfen. Diverse Missbrauchsbetroffene haben sich immer wieder gegen jede Chatkontrolle ausgesprochen. Sie ist fehlerbehaftet, führt zu Falschbezichtigungen und untergeschobenen Kompromaten, kriminalisiert Jugendliche und führt für uns alle zu einem sofortigen "Chillfaktor", wenn wir unsere Kommunikation überwacht wissen. Und das ist erst der Anfang.
Denn denkt man die Sache zu Ende, ergeben sich schnell dystopische Szenarien. Riesige Materialsammlungen würden entstehen, die gehackt werden können oder durch Beamte (auch das ist bereits vorgekommen) wiederum ihren Weg in dunkle Kanäle finden. Europol hat Interesse angemeldet, ungefilterten Zugang zu Daten zu erhalten, "da selbst ein unschuldiges Bild Informationen enthalten kann, die irgendwann für die Strafverfolgung nützlich sein könnten." So kommt man von Hölzchen auf Stöckchen. Warum Terrorismus ausblenden? Organisierte Kriminalität, Spionage und Drogenhandel? Separatismus? Wehrkraftzersetzung? "Homosexuelle Propaganda"…wo hört das auf?
Messsenger geben eher ihren Dienst in Europa auf, als ihre Nutzer einer Durchleuchtung auszusetzen
Verfassungsrechtler haben eine klare Meinung zu der Sache: Sie ist nicht mit den Grundwerten der EU vereinbar. Auch vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bis zum Chaos Computer Club, von Wirtschaftsverbänden bis zu hunderten Wissenschaftler:innen im In- und Ausland oder dem juristischen Dienst des EU-Parlaments war das Urteil einhellig vernichtend. Führende Messenger-Dienste wie Signal und WhatsApp hatten unmissverständlich angekündigt, eher ihren Dienst in Europa einzustellen, als solchen Bestimmungen nachzukommen. Denn das Bewusstsein für Vertraulichkeit in der privaten Kommunikation ist unter dem Eindruck der Bedrohungen aus Russland und China eher gewachsen. Erst vor wenigen Wochen hat der Kreml seine staatlich kontrollierte Messenger-App MAX ausgerollt und beginnt bereits damit, Funktionen auf WhatsApp und Telegram zu blockieren. China hatte dies bereits im vergangenen Jahr vorgemacht. In den USA sehen wir täglich, wie schnell sich mächtige Plattformen gegen ihre User wenden können.
Wie schlecht es Europa zu Gesicht gestanden hätte, die Überwachung nun selbst in neue Gefilde voranzutreiben, wurde dann wohl auch den eher überwachungsfreundlichen Konservativen in Deutschland bewusst. Am Mittwochabend berieten die Koalitionäre der Bundesregierung, ob sie mit der Absage der Ampelregierung brechen und dem Dobrindt-Vorstoß folgen sollten, sich für das Client-Side-Scanning auszusprechen. Überraschend unmissverständlich tönte es dann: "Mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird es keine anlasslose Kontrolle digitaler Kommunikation geben. Verlässliche Vertraulichkeit ist eine Grundlage unserer Freiheitsrechte und Voraussetzung dafür, dass Menschen und Unternehmen dem digitalen Raum vertrauen können."
Puritaner und Zombies
Diese Klarheit bei Leuten wie Jens Spahn überrascht. Denn hier stoßen tieferliegende Mentalitäten aufeinander. Auf der einen Seite stehen vermeintliche Kinderschützer, die oft eine Nähe zu puritanischen Vorstellungen einer reinen Unschuld und einer wohlmeinend kontrollierbaren Welt haben. Nach dem Motto "Wir sind die Guten" wird jede Waffe in ihrer Hand zu einem Werkzeug für das Gute. Ashton Kutchers Kinderschutz-Organisation Thorn passt in diese Kategorie. Sie hat in der EU für den vorgeblichen Kinderschutz, höchst uneigennützig aber vor allem für ihre millionenschwere Software, lobbyiert. Die Argumente haben im arglosen bürgerlichen Lager der Mitte breit verfangen, wo man sich einfache Lösungen erhofft hatte. Da ist es gut zu wissen, dass nicht nur 72 Prozent der Bevölkerung dagegen sind, sondern auch das liberale Gewissen vieler Parlamentarier:innen erwacht ist, denen vor derlei totalitären Übergriffen graut. Deren drittes "Nein" zur Chatkontrolle in Deutschland war nun offenbar das entscheidende Votum, um Europa in dieser Hinsicht stabil zu halten.
Doch wer weiß, Mehrheiten und Positionen verändern sich derzeit schnell. Heute ist die AfD zum Beispiel aus nachvollziehbaren Gründen gegen die Chatkontrolle, doch wenn die ansonsten illiberale Partei an die Regierung käme, könnte sie es eher halten, wie ihr Vorbild Viktor Orbán in Ungarn. Der votierte noch stets dafür. Und wie die Vorratsdatenspeicherung scheint auch die Chatkontrolle ein Zombie zu sein, der dazu verdammt ist, alle paar Jahre wieder aus der Schublade gezogen zu werden. Von Innenpolitiker:innen, die sich selber übrigens von dieser Art der Durchleuchtung ausnehmen wollen. Geht's eigentlich noch bigotter?
Der Autor hat als Referent für digitale Grundrechte der Giordano-Bruno-Stiftung 2021 eine Aktion gegen die Chatkontrolle durchgeführt.







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Kommentare
Peder Iblher am Permanenter Link
Update 31. Oktober 2025: Wie erwartet hat die Dänische Kommissionspräsidentschaft die Initiative zurückgenommen. Es steht zu hoffen, dass die Einwände diesmal nachhaltiger im Gedächtnis bleiben.
https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/eu-verzichtet-auf-anlasslose-ueberwachung-von-messengern-a-78f9a6ea-7007-4a9e-9d37-7e05589f6df3?sara_ref=re-so-app-sh