Meilenstein in deutscher Rechtsgeschichte

Gequälte Ferkel erheben Verfassungsbeschwerde

Gegen die Praxis der betäubungslosen Kastration bei Ferkeln hat die Tierrechtsorganisation PETA heute Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das Besondere daran: Die Beschwerde erfolgt im Namen der männlichen Ferkel. Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte treten Tiere so selbst als Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht auf.

Jedes Jahr werden deutschlandweit etwa 20 Millionen männliche Ferkel in ihren ersten Lebenstagen kastriert. Hierdurch soll sich der sogenannte Ebergeruch vermeiden lassen, der bei einem geringen Anteil des Fleisches männlicher Schweine beim Braten entsteht und an dem sich Verbraucher stören könnten. Bei der Kastration wird den Ferkeln meist ohne Betäubung die Haut über den Hodensäcken aufgeschnitten. Anschließend werden die Hoden herausgedrückt und die Samenstränge durchtrennt oder einfach abgerissen. Das Ende dieser tierschutzwidrigen Praxis war bereits 2013 mit einer Übergangsfrist bis Ende 2018 beschlossen worden; dennoch wird die betäubungslose Kastration weiterhin standardmäßig durchgeführt. Am 29. November 2018 beschloss der Bundestag auf Initiative der Bundesregierung die Verlängerung der Übergangsfrist um weitere zwei Jahre. Ab 2020 soll der sogenannte "Vierte Weg" erlaubt sein, bei dem die Tierhalter selbst Ferkel mit dem Narkosegas Isofluran betäuben dürfen – und so die Kosten für einen tierärztlichen Eingriff sparen. Voraussetzung ist lediglich die Teilnahme an einem nur zwölfstündigen Lehrgang. Hierbei kann das veterinärmedizinisch erforderliche Wissen nicht vermittelt werden, sodass in den Ställen erhebliche Tierquälereien an der Tagesordnung sein werden – etwa, wenn eine zu geringe Menge des Narkosemittels verabreicht wird. Isofluran ist zudem in seiner Wirksamkeit umstritten.

Hintergrund
Wenn in Deutschland ein Gesetz nicht eingehalten wird, kann üblicherweise nur derjenige, der selbst von dem Gesetz begünstigt wird, Klage einreichen und sein Recht notfalls mit staatlichem Zwang durchsetzen lassen. Tiere werden überwiegend behandelt, als wären sie keine Rechtssubjekte und somit nicht klagefähig. Nur aus diesem Grund ist es möglich, dass die festgeschriebenen Gesetze zum Schutz der Tiere schon fast standardmäßig missachtet werden. So werden zum Beispiel weiterhin männliche Ferkel ohne Betäubung kastriert, obwohl es dem Tierschutzgesetz und dem Staatsziel Tierschutz widerspricht und es darüber hinaus sogar wirtschaftlichere Alternativen für die Landwirte gibt.
Das sogenannte Verbandsklagerecht ist theoretisch dazu gedacht, die Durchsetzung von Tierschutzbestimmungen zu verbessern, kann die bestehenden Defizite jedoch nicht auffangen. Es existiert bislang nur in sieben Bundesländern und die Klagemöglichkeiten erfassen bei weitem nicht alle Bereiche der Tiernutzung. Darüber hinaus hat sich bereits gezeigt, dass Gerichte die Verbandsklagen teilweise als "Klagen zweiter Klasse" behandeln und sogar verschleppen.

Die Tierrechtsorganisation PETA hat nun im Namen der männlichen Ferkel eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, in welcher die Tiere ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit einfordern. Ein Fall, der weit über sich selbst hinausweist: Die Frage, ob Tieren der Status von Rechtspersonen zuerkannt werden soll, liefert immer wieder Zündstoff für kontrovers geführte Debatten. Dass nun erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte Tiere selbst als Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht auftreten, ist deshalb ein Novum von enormer Tragweite.

Die eingereichte Beschwerdeschrift wurde von PETA und der Rechtsanwältin Dr. Cornelia Ziehm ausgearbeitet. Mit dem Rechtsbehelf wird das Gesetz angegriffen, mit dem die betäubungslose Ferkelkastration um weitere zwei Jahre verlängert wurde, da auf diese Weise das Staatsziel Tierschutz verletzt wurde. Neben einer Stellungnahme des Rechtswissenschaftlers Prof. Dr. Jens Bülte von der Universität Mannheim als Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren wird diese Verfassungswidrigkeit durch ein von PETA und Prof. Dr. Anne Peters LL. M. (Harvard) – Rechtswissenschaftlerin und Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht – initiiertes Rechtsgutachten zusätzlich belegt.

Die Besonderheit der Beschwerde: Die männlichen Ferkel treten selbst als Rechtspersonen auf und sind damit formal und inhaltlich Beschwerdeführer. PETA bzw. die Rechtsanwältin Dr. Ziehm fungieren lediglich als Prozessvertreter der Ferkel im Verfahren. Dass die Schweine das Recht haben, selbst als Beschwerdeführer aufzutreten, wird aus der bestehenden Rechtsordnung abgeleitet: Die Fähigkeit, eigene (Grund-)Rechte zu haben und gerichtlich einzufordern, hängt davon ab, ob eine Person von der Rechtsordnung als interessensfähig und intrinsisch schutzwürdig angesehen wird – Voraussetzungen, die im Fall der Ferkel erfüllt sind. Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau und Auslegung zahlreicher Vorschriften der deutschen und europäischen Rechtsordnung, insbesondere aus dem Tierschutzgesetz und dem Staatsziel Tierschutz in Artikel 20a des Grundgesetzes sowie den dazugehörigen Gesetzesmaterialien.

Als weiterer Beschwerdeführer fungiert PETA Deutschlands 2. Vorsitzender Harald Ullmann. Er macht eine Verletzung seiner Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) durch die evidente und fortgesetzte Verletzung des dem deutschen Recht zugrunde liegenden Prinzips eines ethisch begründeten Tierschutzes geltend. Tiere sollen demnach um ihrer selbst willen vor unnötigen Schmerzen geschützt werden. Die menschliche Würde, so die Argumentation, wird verletzt, wenn der in den Wertvorstellungen des Menschen verwurzelte Schutz nicht verwirklicht, sondern systematisch und in strafrechtlich relevanter Weise missachtet.

Der Gedanke, dass Tieren Rechte zugestanden werden, ist keineswegs neu. Am 28.01.2015 wurde die 1986 im Rostocker Zoo geborene Orang-Utan-Dame Sandra im Rahmen einer Haftprüfungsbeschwerde von einem Bezirksgericht aus ihrer über 20-jährigen Gefangenschaft im Zoo von Buenos Aires freigesprochen. Am 03.11.2016 folgte der Freispruch der Schimpansen-Dame Cecilia aus ihrer über 30-jährigen Haft im Zoo von Mendoza durch die Richterin María Alejandra Mauricio. Auch in den USA gab es bereits mehrere Anhörungen in Verfahren, in denen Tiere Beschwerden zur Prüfung ihrer Gefangenschaft in Labors und Zoos einlegten: die erste für die in einem New Yorker Tierversuchslabor eingesperrten Schimpansen Hercules und Leo am 27.05.2015 vor dem höchsten Gericht des Bundesstaates New York, weitere für die im New Yorker Bronx-Zoo gehaltene Elefantin Happy 2018 und 2019. Die nächste Anhörung in diesem Verfahren findet am 06.01.2020 statt.

Auch mehrere indische Gerichte, darunter das höchste indische Gericht, haben bereits Grundrechte von Tieren anerkannt, zum Beispiel die Würde aller Tiere des Tierreichs, das Recht von Bullen, nicht als Unterhaltungsobjekte in Rennen missbraucht zu werden, oder das Recht von Vögeln, frei im Himmel fliegen zu dürfen, statt in Käfige eingesperrt und verkauft zu werden. Sogar der Natur wurden an vielen Orten auf der Welt bereits Personenrechte zugesprochen: So können Menschen stellvertretend für die Natur als Verfahrenspartei gegen die Verschmutzung von Flüssen und Seen Klagen formulieren, unter anderem die Bürger von Toledo (Ohio) für den Eriesee, alle Menschen in Ecuador für "Pachamama" (Mutternatur), Indigene in Neuseeland für den auf der Nordinsel gelegenen Fluss Whanganui, Menschen in Indien für den Ganges und den Yamuna sowie in Kolumbien für den Atrato.