Neues aus den religionspolitischen Debatten der LINKEN

Gegen den Hass und für gleiche Rechte aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften

die_linke_wahlprogramm.jpg

DIE LINKE - Wahlprogramm 2017
Die Linke Wahlprogramm 2017

Der Kurs der LINKEN in religionspolitischen Dingen sorgte unter säkular Denkenden in den vergangenen Monaten für allerhand Unverständnis und auch Wut. Zu Unrecht, findet Helge Meves, der als Referent für Religionsfragen dem Bundesvorstand und der Bundestagsfraktion der LINKEN zuarbeitet.

Kann ich entsprechend meines letzten Willens sterben und bestattet werden? Kann ich meinen Kindern in der Schule die Weltanschauung oder Religion vermitteln lassen, die mir für sie wichtig ist? Muss ich das Kirchengeläut ertragen oder den Gebetsruf eines Muezzin, obgleich ich weder mit einem davon oder mit beiden etwas am Hut habe? Derartige Fragen stellen sich seit vielen Jahren viele Menschen. Über Religion wird wieder diskutiert und darum ist ein Blick auf die religionspolitischen Positionen der Parteien vor der Bundestagswahl von Interesse.

Die beiden in den letzten Monaten hier erschienen Beiträge zur Linkspartei führen diese Auseinandersetzung. Aber sie leisten eine Kritik der Positionen der Linken zur Religion nur begrenzt auch weil sie die internen Debatten nicht zur Kenntnis nehmen. Vergleicht man dazu den ersten Bericht "Die LINKE und die Kirche. Debakel auf dem Parteitag der LINKEN" mit den beschlossenen religionspolitischen Positionen, wird man zu dem Ergebnis kommen, dass sich dort weder die Debatte noch das beschlossene Wahlprogramm S. 124/125, wieder findet. Diesseits dieses Berichtes und zu dem Essay "DIE LINKE und die Religion. Privilegien für die religiöse Rechte" soll hier aufgeklärt werden. Man wird nicht immer einer Meinung sein, Differenzen gehören bei dieser Debatte dazu, aber Missverständnisse auf Grund falscher Fakten müssen nicht sein. Wir brauchen die humanistischen Positionsbestimmungen und laden zur Debatte ein.

Die Linke, die Religion und verschleierte Unterdrückungsverhältnisse

Die Linken sind in religionspolitischen Debatten von besonderem Interesse, weil sie traditionell Kirchen, Religionen und Weltanschauungen kritisiert haben, soweit sie absolutistische Herrschern, Kaisern und Königen, die Legitimität von Gottes Gnaden sicherten und damit die Unterdrückung des Volkes legitimierten. Der Liberalismus ist hier zumindest widersprüchlich. Sein Stammvater John Locke lieferte nicht nur die erste rassistische Begründung für die Sklaverei und forderte nicht nur Zwangsarbeit für Tagelöhner-Kinder ab drei Jahren, sondern auch einen Zwangsgottesdienst für sie. Die Linke knüpfte aber auch selbst an religiöse Traditionen an, wenn diese herrschaftskritisch waren. Religion ist der Linken nicht pauschal ein reaktionärer Ballast, sondern sie konnte auch fortschrittlich  sein, wie bei den sozialreformerischen Bewegungen des Mittelalters, dem christlichen Pazifismus der Quäker, den Befreiungstheologien oder Papst Franziskus mit seinem treffenden Kommentar zur Weltwirtschaftsordnung "Diese Wirtschaft tötet". So z. B. Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci oder Walter Benjamin und – nicht zu vergessen – linke Gläubige aller Bekenntnisse. Ernst Bloch unterschied einmal treffend die Herrscherreligion von der der Unterdrückten.

Debatten in der LINKEN

Dazu kommen bei den Mitgliedern und Sympathisanten der Linkspartei heute ganz praktische Erfahrungen, wie auch in der ganzen Gesellschaft. Gemeinsam mit religionsfernen und eine Religion bekennenden Menschen wird sich engagiert für die Möglichkeit eines Ethikunterrichts, für religiöse Satiren auf Kosten der Mächtigen (der Witz auf Kosten der an den Rand oder darüber hinaus Gedrängten bewegt sich irgendwo zwischen geschmacklos und einem Beitrag zum Teile und Herrsche der Mächtigen), in der Friedensbewegung, für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und in den letzten Jahren besonders bei der Flüchtlingshilfe, die oft von den Kirchen und islamischen Verbänden getragen wurde. Das in älteren linken Parteien distanzierte bis feindliche Verhältnis zur Religion weicht heute einem praktischen: man trifft sich in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und arbeitet zusammen, wo die Ziele ähnlich sind. Oder man steht sich eben auch gegenüber, wenn es etwa um die sog. Lebensschützerbewegung geht. Die Frage ist nicht mehr pro oder contra Kirchen, Religionsgemeinschaften, Humanismus, Freidenkern u. a., sondern die Auseinandersetzungen gehen quer durch die einzelnen Religionen oder Weltanschauungen.

Auf Grund ihrer Geschichte und Erfahrungen gibt es daher in der Linkspartei sowohl Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften von Laizisten als auch von Christinnen & Christen und darüber hinaus viele Einzelpersonen, die in den letzten beiden Jahren etliche Positionsbestimmungen veröffentlicht haben; Hinweise dazu am Schluss des Essays.

Nach eine unbeendeten Parteitagsdebatte 2016 wurde vom Parteivorstand Anfang dieses Jahres eine "Kommission Religionsgemeinschaften,  Weltanschauungsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft" ins Leben gerufen, die diese Fragen diskutieren und Entscheidungsgrundlagen für die gesamte Partei vorlegen wird. Ihre Mitglieder bilden mit Mitgliedern des Humanistischen Verbandes, der Freidenker, der wichtigsten Religionsgemeinschaften sowie Staats- und Arbeitsrechtlern und nicht zuletzt Areligiösen das gesamte Spektrum dieser Debatte ab.  

Das Bundestagswahlprogramm der LINKEN stellt den aktuellen Debattenstand dar. Er kann am ehesten über drei Fragen erklärt werden. Welche religionspolitischen Themen stehen aktuell zur Debatte und bewegen die Gesellschaft? Wie steht es mit dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit? Wie kann das Verhältnis zwischen Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geregelt werden?

Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit

Die anfangs gestellten Fragen sind nicht einfach zu entscheiden, müssen aber entschieden werden, weil es um das Grund- und Menschenrecht auf Religionsfreiheit geht: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet", heißt es im Artikel 4 des Grundgesetzes und ähnliche Formulierungen finden sich im Artikel 10 der Charta der Grundrechte der EU und Artikel 18 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO.

Mit diesem Grund- und Menschenrecht, hier der Kürze halber Bekenntnisfreiheit genannt, wird der Staat verpflichtet, dieses zu wahren, zu schützen und zu verteidigen.

Das Konfliktpotenzial ist offensichtlich. Geschützt werden sollen eben verschiedene weltanschauliche oder religiöse Bekenntnisse gleichermaßen, die aber miteinander konkurrieren oder sich ausschließen können. Das ist kein Privileg der Religionen, nicht mal eins der monotheistischen. Auch ein weltlicher Humanismus konkurriert mit einem evolutionären und letzterer wieder kann Religionen ausschließen wollen, wenn er sich vom atheistischen zum antitheistischen wandelt. Soll in diesen Fragen unparteiisch entschieden werden, muss der Staat in diesem Sinne neutral sein. Dies ist Voraussetzung wie auch Folge einer konsequenten Trennung von Kirche und Staat.

Die LINKE setzt genau bei dieser Verteidigung des Menschenrechts auf Bekenntnisfreiheit an und sie kann das auch, weil sie keine Weltanschauungspartei ist. Wir wollen das Recht auf ein Bekenntnis schützen. Wir wollen das Recht schützen, ohne ein solches Bekenntnis zu leben. Wir wollen, dass beide Haltungen öffentlich gelebt werden können. Genauer: die Entscheidung für oder gegen eine Weltanschauung oder Religion ist höchst privat, sie im öffentlichen Leben zeigen zu dürfen, ist aber keine Privatsache mehr, sondern Menschrecht. Alle Forderungen im religionspolitischen Teil der Linken lassen sich prinzipiell in diesen drei Dimensionen darstellen und sie entsprechen auch dem aktuellen Stand der Debatte um das Menschenrecht auf Bekenntnisfreiheit; Hinweise hierzu auch am Schluss.

Islamophobie und antimuslimischer Rassismus

Wirft man einen Blick in die Studien der letzten Jahre zum Stand der Religionsfreiheit und der Diskriminierung von Menschen, drängt sich ein Problem auf. Alle Studien zeigen, dass es gegenüber keiner Religion zunehmend mehr Vorurteile, gegenüber keiner zunehmend mehr irrationale Abneigungen gibt, als gegenüber dem Islam. Die Vorurteile und Abneigungen gegenüber dem Islam sind nicht vom Himmel gefallen. Rechtpopulisten und Nazis schüren seit vielen Jahren den Hass. Für die AfD "gehört der Islam nicht zu Deutschland", das "Minarett lehnt sie ebenso ab wie den Muezzin-Ruf". Ihre Forderungen bestreiten das Menschenrecht auf eine ungestörte Religionsausübung. Die AfD lehnt auch das Schächten ab, wie vor ihr zuletzt die NSDAP mit ihrem ersten deutschen Tierschutzgesetz 1933. Das Ziel ist in ihrem Bundestagswahlprogramm genauso klar wie 1933: Muslimen und Juden soll ein Leben in Deutschland unmöglich gemacht werden, sie gehören nicht hier her, sollen also weg, antisemitische Positionen sind zumindest latent präsent. Das ist die Herausforderung für eine jede Positionsbestimmung zur Religionsfreiheit heute.

Trennung von Kirche und Staat

Klar ist und vorausgesetzt wird, dass erst die Trennung von Kirche und Staat eine Debatte über solche Fragen erlaubt und erfordert – vordem legte die jeweilige Staatskirche fest, was gilt, und wurden  gegensätzliche Positionen der Häresie verdächtigt. Für diese Trennung von Kirche und Staat gibt es etliche Modelle, Erfahrungen und Religionsverfassungen, die jeweils eng mit der Religionsgeschichte eines jeden Landes verbunden ist.

Frankreich war monoreligiös katholisch. In dem Skandal um die Dreyfus-Affäre wurde deutlich, dass vom Gerichtsverfahren bis zu den Beweismitteln fast alles von Repräsentanten der katholischen Kirche manipuliert wurde, weil ihr Machteinfluss in Militär und Justiz übergroß war. Frankreich zog daraus die Konsequenzen und erließ 1905 das "Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat", 1946 folgte die Festschreibung des Laizismus in der Verfassung. Dieses laizistische Modell ist daher eine spezifisch französische Institution.

Während sich in Frankreich der Staat vor der katholischen Kirche schützen musste, war es in den USA quasi umgekehrt. Trennung von Kirche und Staat bedeutet dort, dass die Religionsgemeinschaften vor dem Staat geschützt werden und dieser dazu schwächer ist, als etwa in Frankreich. Der Grund liegt dort auch in der Geschichte. Die Erfahrungen der Gründer der USA waren davon geprägt, dass sehr viele ihrer Religion wegen in ihren Heimatländern verfolgt wurden und deshalb in die USA exilierten, Dissenter wie die Quäker, Leveller, Puritaner.

In Deutschland ist die Geschichte wieder anders verlaufen. Seit der Reformation mussten Verfahrensweisen und Lösungen dafür gefunden werden, wie mit zwei sich befeindenden Religionen in einem Gebiet umzugehen ist. Kriege wechselten sich über die Jahrhunderte ab und unzählige Menschen wurden ihrer Religion wegen umgebracht. Vom Augsburger über den Westfälischen Frieden bis ins 20. Jahrhundert wurden in der Folge verschiedenste Kooperationsmodelle entwickelt, wie Menschen miteinander überleben können, die einander Widersprechendes glauben. Gibt es aber nicht nur die eine protestantische oder eine katholische Wahrheit mehr, ist die Öffnung dieses Modells für weitere Wahrheiten und damit andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften möglich. Das heute praktizierte Modell, Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften über die Verleihung desselben Rechtsstatus gleichzustellen, hat in dieser deutschen Geschichte seine Wurzeln. Kooperation zwischen Kirchen und Staat auf der Grundlage der Trennung derselben ist die Lösung; dies ist auch Konsens in der Menschenrechtsdebatte.

Religionsunterricht in verschiedenen Modellen der Trennung

Ganz praktisch lassen sich diese unterschiedlichen Modelle am Religionsunterricht demonstrieren. In Frankreich ist ein Religionsunterricht in staatlichen Schulen nicht erlaubt. Der offensichtlich bestehende Bedarf danach würde mit dem französischen Modell durch nichtstaatliche religiöse Institutionen gedeckt werden, die das meiste Geld haben –  und die Inhalte wären ihnen weitgehend frei gestellt, weil sie es eben selbst bezahlen. Nun mag es immer und überall auch uneigennützige Mäzene geben. Aber erfahrungsgemäß werden Großkapitalisten oder reiche Staaten eher Herrscherreligionen unterstützen und diese legitimieren eher Unterdrückung, Verfolgung und Krieg.

In den USA führt die Trennung von Kirche und Staat dahin, dass die Evolutionstheorie in der Schule durch irgendeine kreationistische Schöpfungstheorie ersetzt werden kann. Wie in Frankreich wird gelehrt, was selbst bezahlt wird.

In Deutschland kann Religionsunterricht in Schulen erteilt werden; die Inhalte werden auf der Grundlage der Staatsverträge zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und dem Staat gemeinsam vereinbart und die Lehrer dafür vom Staat bezahlt. Im Unterschied zu Frankreich gibt es also staatlichen Religionsunterricht und im Unterschied zur USA sind die Inhalte Ergebnis eines gemeinsamen demokratischen Aushandlungsprozesses. Das deutsche Modell hat offensichtlich Vorzüge, die es aber erst dann entfalten kann, wenn der Unterricht allen Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen zugänglich ist. Und er sollte weiter um ein für alle verbindliches Fach ergänzt werden, in welchem die Schülerinnen und Schüler ihre verschiedenen Wertevorstellungen diskutieren und sich in Kenntnis der jeweils anderen Position in Toleranz einüben können. Im Bundestagswahlprogramm der LINKEN wird gefordert, einen derartigen Ethikunterricht einzuführen und den Religionsunterricht für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu öffnen.

Verzichtet man allerdings auf die Möglichkeit eines fakultativen Religions- bzw. Weltanschauungsunterrichts, wird es keine Kenntnisse geben, über die man sich gemeinsam verständigen kann, möchte ich ergänzen. Oder: die Kenntnisse werden eben bei irgendeiner Herrscherreligion erworben, was aber einem gegenseitigen Verständnis sicher abträglich ist. Das Modell der USA ist schon problematisch. Das französisch-laizistische zeigt mit Blick auf das Verhältnis der Religionen in Frankreich ein anderes bestürzendes Ergebnis. Laizisten müssen dazu auch reflektieren, dass dieses Modell für die Ausgrenzung von Muslimen instrumentalisiert wird. Marine Le Pen und der Front National fordern in ihrem 95. Versprechen zur Präsidentschaft "Förderung der Laizität und Kampf gegen den Kommunitarismus". Und auch Alexander Gauland ist deutlich: "Wir sind ein christlich-laizistisches Land, der Islam ist ein Fremdkörper". Dagegen gaben in einer Erhebung vom vergangenen Sommer 10 Prozent der Katholiken und 6 Prozent der Protestanten, aber 18 Prozent der Konfessionslosen an, die AfD wählen zu wollen – trotz bzw. wegen der Netzwerke von Beatrix von Storch.

Der Wissenschaftsrat unterstützt einen Ausbau der Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften, was analog für die Schulen gilt. Diese Position wurde auch hier zuletzt vertreten.

Staatsverträge mit nicht-staatlichen Körperschaften öffentlichen Rechts

Der Religionsunterricht wie auch die theologische Ausbildung wird im Rahmen von Staatsverträgen vereinbart, wie auch die eingangs angesprochenen Fragen nach Friedhofsordnungen, dem Baurecht für Sakralbauten oder Feiertagen, an denen dann z. B. eine Prüfungs- oder Arbeitsfreistellung möglich wird. Das Modell der Staatsverträge wurde mittlerweile aber auf andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften erstreckt und der Humanistische Verband in Bayern bekommt für jede Schule oder Kita dasselbe Entgelt, als wenn die Kirche sie betreiben würde. Dieses Gleichbehandlungsprinzip ist die große Stärke dieses Modells. Problematisch an dieser Rechtsform ist sicher, und ich teile hier Gunnar Schedels Intention, dass sie ihrer Entstehungsgeschichte wegen kirchenförmig ist und andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften benachteiligt, weil sie nicht wie die Kirchen organisiert sind. Allerdings nehme ich diesen Nachteil in Kauf, da das bestehende Modell gestattet, dass alle Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ihren Aufgaben nachkommen können. Das ist ein Fortschritt gegenüber der Zeit, als z. B. die Wahl der Schule nur zwischen einer evangelischen und einer katholischen möglich war. Es bleibt dabei, dass ein neues Religionsverfassungsrecht erforderlich wäre, aber hier wird man wohl noch einige Vorarbeit erledigen müssen und Geduld benötigen. Nicht zuletzt geht es in der Politik nicht nur um die besseren Ideen, sondern um Macht und Mehrheiten. Bereits für die Evaluierung der Ablösung der Staatsleistungen aber gibt es keine Mehrheit, obgleich dieser Verfassungsauftrag seit fast 100 Jahren besteht. Die LINKE hatte dies 2015 beantragt, aber CDU/CSU und SPD waren dagegen und die Grünen enthielten sich in der Bundestagsabstimmung der Stimme. Mit der Forderung nach einem selbständigen Einzug der Beiträge der Mitglieder von Religionsgemeinschaften sind wir ebenfalls nicht mehrheitsfähig. Und auch mit der Forderung nach Abschaffung der Sonderarbeitsrechtsregelungen für Tendenzbetriebe wie z. B. in der Diakonie gemäß § 118 Betriebsverfassungsgesetz ist die LINKE allein im Bundestag.

Derzeit ist die Ausweitung des Modells der Staatsverträge die einzig praktikable Lösung für eine Gleichbehandlung und darum setzt sich die LINKE auch für "die rechtliche Gleichstellung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein", wie es im Bundestagswahlprogramm nachgelesen werden kann. Auch hier schließt sie an die Menschrechtsdebatte an, in der Konsens ist, dass die Trennung von Kirche und Staat die Kooperation beider erfordert.

Verträge für die religiöse Rechte?

Gunnar Schedel hat nun angemerkt, dass diese Staatsverträge eher der religiösen Rechten zugutekommen. Das soll hier nicht im Einzelfall geprüft werden, weil es darum m. E. nicht geht. Bevor ein Staatsvertrag mit einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft geschlossen wird, werden die Voraussetzungen dazu geprüft. Rechts- und religionswissenschaftliche Gutachten werden eingeholt und bezüglich der islamischen Vereine hat der Wissenschaftsdienst des Deutschen Bundestages zuletzt in einem Gutachten zusammenfassend festgestellt, dass alle antragstellenden Vereine wie DITIB, VIKZ, Schura die Voraussetzungen dafür erfüllt hatten. Freilich kann die LINKE mit Religionsgemeinschaften mehr zusammen machen und eher für Frieden, soziale Gerechtigkeit und eine solidarische Welt streiten, wenn sie ihren Positionen näher sind. Allerdings darf dies kein Kriterium sein, welchen Rechtstatus sie erhalten. Grund- und Menschrechte sind unteilbar und wenn bei mir Nazis demonstrieren oder Lebensschützer werde ich an einer Sitzblockade oder einer Gegendemonstration teilnehmen – aber die gleichen Rechte kann ich ihnen nicht in Frage stellen.

Kollektiv vs. Individuum?

Auf eine der von Gunnar Schedel aufgeworfenen Fragen soll hier noch abschließend eingegangen werden, ohne damit freilich alle Fragen beantwortet zu haben. Hat die LINKE nur das Kollektiv im Blick, nicht aber das Individuum? Das kann aufgeklärt werden Die LINKE hat das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum mit ihrem Grundsatzprogramm 2011 S. 5 und 27 letztmalig geklärt: "Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird" und mit einer Erinnerung an eine Kritik zur Russischen Revolution "Für Rosa Luxemburg endet Gleichheit ohne Freiheit in Unterdrückung, und Freiheit ohne Gleichheit führt zu Ausbeutung. Wir streben eine sozialistische Gesellschaft an, in der jeder Mensch in Freiheit sein Leben selbst bestimmen und es im Zusammenleben in einer solidarischen Gesellschaft verwirklichen kann". Diese Bestimmung ist eine der drei Grundideen des Grundsatzprogramms und schließt auch an das frühere Grundsatzprogramm von 2003 an und zieht sich dann auch durch den aktuellen religionspolitischen Teil des Bundestagswahlprogrammes. Organisationen, Verbände, Vereine, soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Kirchen treten dann in den Blick, wenn es darum geht, wie gemeinsam Interessen vertreten werden. Dies ist der LINKEN wichtig, das möchte sie befördern, weil sonst die wenigen Reichen und Mächtigen immer das Leben der Schwächeren und Vereinzelten bestimmen, "Allein machen sie Dich ein". Bei Religions- und Weltanschauungsfragen kommt ein Unterschied hinzu. Muslime etwa werden nicht diskriminiert, indem der oder die Eine diskriminiert wird. Sondern jede und jeder Muslim wird diskriminiert, weil sie alle Teile der Gruppe der Muslime sind. Will man dahin kommen, dass jeder einzelne Mensch unabhängig von seinem Bekenntnis als Individuum respektiert wird, muss man diese Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit bekämpfen und zurückdrängen. Mit dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit für Muslime würden  die Menschenrechte fallen. Mit den Menschenrechten die Chance, eine solidarische, friedliche und gerechte Gesellschaft auf demokratischem Wege zu erreichen.


Zum Nachlesen:

Texte zur Debatte in der LINKEN

"Liberté, Égalité, laïcité", ein nicht entschiedener Antrag an den Bundesparteitag 2016, hier in der vom Landesparteitag Sachsen beschlossenen Fassung. Dazu micha.links 2/2016 der LAG Christinnen und Christen Hessen mit dem Schwerpunktthema "Christen, die Linke und der Laizismus" und Interview mit Rico Gebhardt "Wir brauchen einen Dialog mit den säkularen Verbänden". Zur Vorgeschichte dieser Debatte Sebastian Prinz: "Kirchenkampf in der Linkspartei" in: Herder-Korrespondenz 11/2016, S. 29-31

Texte zur Debatte um das Menschenrecht auf Religionsfreiheit

Vom früheren Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte und Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Religions- und Weltanschauungsfreiheit Heiner Bielefeldt: "Streit um die Religionsfreiheit. Aktuelle Facetten der internationalen Debatte". Erlangen, 2012, 60 S.. Von ihm zur Dialektik von Trennung und Kooperation von Staat und Kirchen: "Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats. Verständnisse und Missverständnisse eines Verfassungsprinzips". In: "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" 4/2011, S. 24-27 Download.

Franz Segbers: "Religion nur Privatsache? Die LINKE, der Laizismus und das Menschenrecht auf Religionsfreiheit", rls- Standpunkte 39/2016. Zur Spezifik der Menschenrechtsdebatte im Islam Mahmoud Bassiouni: "Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität" Suhrkamp, Berlin, 2014

Debatten und Beschlüsse oder Autoritäten? Meinungsbildung in der LINKEN

Zu Gunnar Schedels "DIE LINKE und die Religion. Privilegien für die religiöse Rechte" eine Korrektur zum generellen Bild von der politischen Meinungsbildung in der LINKEN, soweit er an der irreführenden Darstellung aus dem ersten Bericht anknüpft und über Personen debattiert wird, statt um Inhalte. Zum Verständnis und Vergleich ist daher auch ein Blick auf die Satzungen und Verfahren der anderen Parteien hilfreich.

Das Bundestagswahlprogramm der LINKEN ist über ein halbes Jahr hinweg entwickelt worden. Erste Fassungen standen im Parteivorstand zur Debatte, wurden überarbeitet und erneut debattiert. Bei Regionalkonferenzen mit den Mitgliedern und etlichen Treffen mit den verschiedensten Vereinen, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Wissenschaftlern wurden weitere Anregungen gesucht und in den Entwurf eingearbeitet. Zu diesem Entwurf hatten dann zunächst alle Mitglieder des Parteivorstandes ein Änderungsantragsrecht und darauf alle Mitglieder bzw. Gliederungen der Partei auf dem Wahlparteitag. Entschieden hat letztlich der Bundesparteitag. Ein solches Verfahren ist nicht selbstverständlich. Beim Bundestagswahlprogramm von CDU/CSU etwa entscheiden beide Parteivorstände über das Programm und die Mitglieder haben kein Antragsrecht. Bei den anderen Parteien haben die Mitglieder ein Änderungsantragsrecht. Allerdings kann ein solcher Änderungsantrag durch eine sogenannte Teilübernahme entschärft werden. Zur letzten Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen lag z. B. der Antrag der Grünen Jugend GS-WG-01-068 vor, den Mindestlohn "auf mindestens 12 Euro zu erhöhen". Sie wollte mit der Festlegung auf diese Höhe eine Hürde für eine Koalition mit der CDU und eine Brücke zu einer Koalition mit LINKE und SPD bauen, weil die LINKE auch diese  Mindestlohnhöhe fordert. Mit der Teilübernahme heißt es jetzt im Wahlprogramm der Grünen S. 217, dass "eine Erhöhung des Mindestlohnes begrüßt" wird. Die Grüne Jugend hatte gegen diese Teilübernahme kein Widerspruchsrecht, obwohl das offensichtlich nicht dem Anliegen der Antragsteller entsprach. Anders bei den LINKEN. Wenn hier eine Teilübernahme eines Änderungsantrages erfolgt, kann der Antragsteller beantragen, dass alle Parteitagsdelegierten entscheiden, ob darüber erneut abgestimmt wird. Dieses Verfahren sichert damit eine basisdemokratische Beteiligung und schränkt zugleich die Einflussmöglichkeiten einzelner Personen ein, wie es in keiner anderen Partei Praxis ist.

Genauso lief es auch mit dem Rückholantrag beim Bundesparteitag. Nach mehreren persönlichen Erklärungen u.a. von Jochen Dürr, Benjamin-Immanuel Hoff, Klaus Lederer, Petra Pau und Christine Buchholz wurde von einem weiteren Delegierten ein Antrag auf Wiederholung der Abstimmung gestellt und dieser mit etwa drei Viertel angenommen. Danach gab es zwei Pro- und Contra-Reden zu diesem Antrag und danach stimmten die Delegierten gegen die Entscheidung vom Vorabend.

Darum ist der Rekurs auf agierende Personen in der LINKEN – wie in beiden Artikeln – wenig hilfreich. Und, weil besonders herausgehoben in den Artikeln: Christine Buchholz ist die religionspolitische Sprecherin in der Bundestagsfraktion und im geschäftsführenden Parteivorstand der LINKEN und sie wurde für ihre Arbeit immer wieder mit überdurchschnittlichen Wahlergebnissen bestätigt. Sie ist eine konfessionslose Religionswissenschaftlerin. Nicht zuletzt sollte man auf ihre Argumente eingehen.