Ist die Klimastreikbewegung eine Säkularreligion?

An der Klimastreikbewegung scheiden sich derzeit die Geister. Während die einen die Bewegung unterstützen, wird sie von anderen abgelehnt und sogar mit Begriffen wie "Greta-Jünger", "Weltuntergangssekte" oder jüngst "Säkularreligion" bezeichnet. Was ist dran an diesen Vorwürfen? Ist die Klimastreikbewegung wirklich eine Säkularreligion? Eine Religion, der sogar überzeugte Atheisten auf den Leim gehen? Werfen wir mitten in der hitzigen Debatte einen kühlen Blick auf die Materie.

Auf den ersten Blick scheint der Begriff "Säkularreligion" ein Widerspruch in sich zu sein. Auf den zweiten auch. Denn während der Begriff "Religion" im Allgemeinen den Bezug auf eine – wie auch immer geartete – göttliche oder transzendente Sphäre bezeichnet, verweist das Wort "Säkular" auf dezidiert weltimmanente Zusammenhänge. Trotz seiner Widersprüchlichkeit ist jedoch ersichtlich, was mit dem Begriff "Säkularreligion" gemeint ist. Er dient der Bezeichnung von gemeinschaftlich vertretenen Überzeugungen, die Züge einer Religion aufweisen, hierbei jedoch nicht Bezug nehmen auf einen Gott oder transzendente Mächte.

Doch was sind Züge einer Religion? Neben der zentralen Annahme, dass Götter oder eine transzendente Sphäre existieren, die Einfluss auf die Welt nehmen, zeichnen sich Religionen durch ein ganzes Bündel von Eigenschaften aus. Sie geben ihren Anhängern moralische Regeln vor, bieten ihnen eine umfassende Sinn- und Weltdeutung und emotionalisieren sie nicht selten. Ihr Gedankengebäude und oft auch ihre Argumentationsmuster fußen auf irrationalen Grundannahmen – den zentralen Glaubensinhalten –, die nicht hinterfragt werden dürfen. Oft enthalten Religionen auch Erzählungen vom Anfang und Ende der Welt, Schöpfungsmythen und apokalyptische Weltuntergangsszenarien sowie Vorstellungen eines paradiesischen Himmels oder einer Hölle samt konkreter Handlungsanweisungen für den Gläubigen, wie er in ersteren gelangen und den Aufenthalt in letzterer vermeiden kann. Verbreitet sind in Religionen auch Propheten, die eine besondere Beziehung zur göttlichen Sphäre haben und die aufgrund ihrer göttlichen Beziehungen oder herausragenden Einsichten in den Glauben teilweise gottgleich verehrt werden.

Nicht jede Religion muss alle diese Elemente enthalten, doch die meisten Religionen weisen mehrere davon auf. Allerdings weisen nicht nur Religionen diese Elemente auf. Auch politische Ideologien, Weltanschauungen oder gesellschaftliche Bewegungen sind davon nicht notwendigerweise frei. Wer jemals waschechte Fußballfans in einem Stadion beobachtet hat, ihr Gruppengefühl, die gemeinschaftlichen Fangesänge, die Zentralität des Fußballs für ihr Leben sowie die Irrationalität ihrer Grundannahmen – dass Verein XY der einzig wahre ist und die anderen Vereine alle Mist sind –, der kann sich durchaus an religiöse Massenveranstaltungen erinnert fühlen. Insbesondere das Element der Irrationalität findet sich in vielen rein weltlichen oder politischen Bewegungen. Die ins Fundament der Grünen verwobene Naturromantik wäre hier ebenso zu nennen wie der irrationale Glaube der FDP an die Kraft des Marktes. Ja sogar dezidiert nicht-religiöse Weltanschauungen können Elemente enthalten, die üblicherweise eher Religionen zugerechnet werden. Kein Geringerer als Michael Schmidt-Salomon schrieb beispielsweise in seinem Buch "Hoffnung Mensch", dass auch im Zentrum des evolutionären Humanismus ein Glaube steht, "nämlich der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen".

Doch ist der Humanismus deshalb eine Säkularreligion? Ist es der Fußball? Sind die Grundsatzprogramme von Grünen und FDP säkularreligiöse heilige Schriften? Wer es so sehen möchte, kann das aufgrund der genannten Strukturelemente, die sich auch bei Religionen finden, sicherlich tun. Doch ist es sinnvoll?

Der Sinn von Begriffen ist es, einen differenzierten und differenzierenden Blick auf die Realität zu ermöglichen. Wer Begrifflichkeiten verwendet, die im Prinzip auf alles anwendbar sind, hat diesbezüglich wenig gewonnen. Folgt man dieser Methode, so könnte man beispielsweise auch sämtliche Farben als "Teile von Weiß" bezeichnen. Schließlich lässt sich das von uns als weiß wahrgenommene Licht mittels eines Prismas in Spektralfarben zerlegen. Doch die Frage ist, inwieweit es dem Erkenntnisgewinn dient, wenn ich alle Farben der Welt als 'Shades of White' beschreibe, statt die unterschiedlichen Farben mit eigenen Begriffen zu belegen.

Tatsächlich nehmen wir solche Differenzierungen meistens vor. Doch es scheint Bereiche zu geben, in denen wir es vorziehen, weniger differenziert auf die Welt zu blicken. Dies gilt insbesondere für jene Bereiche, die nicht mit unseren eigenen Ansichten im Einklang sind oder die wir sogar – berechtigter- oder unberechtigterweise – als Gefahr wahrnehmen. Etwas, das evolutionär betrachtet durchaus Sinn ergibt, denn ob es sich bei der gestreiften Großkatze, die mir im Busch plötzlich in die Augen schaut, eher um einen sibirischen, einen bengalischen oder einen malaiischen Tiger handelt, ist doch eher zweitrangig, während ich versuche, nicht gefressen zu werden.

Betrachtet man nun die genaueren Umstände der Verwendung des Begriffs "Säkularreligion", so zeigt sich, dass er tatsächlich so gut wie nie sachlich beschreibend, sondern fast ausschließlich abwertend gebraucht wird, um ein politisches oder gesellschaftliches Konzept zu diskreditieren, das nicht dem eigenen entspricht. Von einer Säkularreligion im Zusammenhang mit der Klimastreikbewegung sprechen beispielsweise gern Personen, die leugnen, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Doch auch fernab der Klimadiskussion ist der Begriff abwertend gebräuchlich. Anti-Feministen bezeichnen beispielsweise den Feminismus als Säkularreligion und Demokratie-Skeptiker die Demokratie. Besonders abwertend wird es natürlich, wenn der Begriff von Atheisten und Religionskritikern verliehen wird, da für sie "Religion" ein eindeutig negativ behafteter Begriff ist. Doch auch Religiöse verwenden das Wort "Säkularreligion", um gesellschaftliche oder politische Prozesse abwertend zu beschreiben, die mit der Verdrängung der eigenen Religion einhergehen.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage, ob die Klimastreikbewegung eine Säkularreligion ist. Dass sie Elemente enthält, die auch bei Religionen vorhanden sind, dürfte evident sein – doch das gilt, wie bereits ausgeführt, auch für den Fußball, den evolutionären Humanismus sowie politische Ideologien unterschiedlichster Schattierung. Und es ist völlig legitim, die Klimastreikbewegung auf diese Elemente aufmerksam zu machen. Ebenso wie es legitim ist, auch andere politische oder gesellschaftliche Bewegungen auf solche Elemente in den eigenen Überzeugungen hinzuweisen.

Für die Gesamtbeurteilung einer Bewegung sollten jedoch nicht nur einzelne, religiös anmutende Elemente sondern möglichst alle ihre Elemente überprüft werden, um so zu einer sinnvollen Einschätzung der 'Stärke ihrer Religiosität' zu kommen. Betrachtet man beispielsweise den evolutionären Humanismus, so bezieht dieser sich zwar erklärtermaßen auf einen Glauben – nämlich jenen an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen – doch er legt eben auch "größten Wert darauf, dass seine Hoffnungen nicht auf kulturellen Fiktionen, sondern auf empirischen Belegen gründen" und argumentiert auch sonst recht rational und evidenzbasiert. Die Anwendung des Begriffs "Säkularreligion" auf den evolutionären Humanismus wäre deshalb wenig sinnvoll.

Das Fundament der Klimastreikbewegung ist ebenfalls im höchsten Maße evidenzbasiert. Sie beruft sich nicht auf vermeintlich irrationale Glaubensinhalte, sondern auf die Ergebnisse der Wissenschaft, die für die Erde trübe Aussichten vorhersagt, falls der Mensch seinen Ausstoß von Treibhausgasen nicht zügig in den Griff bekommt. Eine Vorhersage, die auch die innerhalb der Bewegung von Einigen empfundenen Zukunftsängste erklärlich macht. Obwohl Ängste als solche irrational sind, sind diese Ängste also rational sehr gut begründet.

Im Gegensatz zu einer Weltuntergangssekte, die gottergeben ihren Propheten anbetet, demütig auf das Ende wartet und dabei versucht, Andere zum eigenen Glauben zu bekehren, geht die Klimastreikbewegung keineswegs davon aus, dass das Ende nicht mehr zu verhindern ist. Im Gegenteil, die Motivation der Klimastreikbewegung ist eine zutiefst optimistische. Man ist nicht vor Angst gelähmt, sondern geht davon aus, dass durch das eigene Tun das Schlimmste verhindert werden kann – indem man einerseits das eigene Handeln ändert und andererseits durch Demonstrationen Druck auf die Politik ausübt, damit diese wiederum im größeren Maßstab zu effektivem Handeln schreitet. Wie dieses Handeln aussehen soll, bestimmen nicht irrationale moralische Regeln der Klimastreikbewegung, sondern die Empfehlungen von Wissenschaftlern.

Auch Greta Thunberg spielt innerhalb der Klimastreikbewegung eine wesentlich geringere Rolle als dies von vielen Außenstehenden vermutet wird. Sie wird nicht als Prophetin verehrt, sondern als Gründerin der Bewegung geschätzt. Dass ihre Forderungen in großen politischen Zusammenhängen Gehör finden, wird von der Klimastreikbewegung natürlich bejubelt. Doch das hat nichts mit quasi-religiöser Verzückung zu tun, sondern soll in ähnlicher Form gelegentlich auch bei Atheisten vorkommen, die Statements bekannter Persönlichkeiten der säkularen Szene in Fernsehdiskussionen beklatschen.

Wer den Begriff "Säkularreligion" und verwandte Bezeichnungen weiterhin für die Klimastreikbewegung verwenden möchte, kann dies natürlich tun. Doch er sollte sich dabei im Klaren sein über die fragwürdige Sinnhaftigkeit des Begriffs im Allgemeinen und dessen Anwendung auf die Klimastreikbewegung im Besonderen. Und er sollte sich auch klar machen, dass er die Klimastreikbewegung mit dieser Bezeichnung diskreditiert, weil der Begriff negativ konnotiert ist. Nachgeschobene freundliche Worte für das grundsätzliche Engagement der jungen Menschen heben diesen Effekt nicht auf.