Unheilige russische Allianz

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Der russische Präsident Wladimir Putin und der Moskauer Patriarch Kyrill I.
Wladimir Putin und Patriarch Kyrill

Schon häufig in der Geschichte bildete die Allianz aus Thron und Altar eine sichere Herrschaftsgrundlage. Von dieser altbewährten Taktik macht auch der russische Präsident Wladimir Putin Gebrauch. Er ­selbst soll zwar Atheist sein, doch nach außen gibt er sich als frommes Kirchenmitglied. Er verhalf der russisch-orthodoxen Kirche zu erneuter Bedeutung in der Gesellschaft, dafür erweist sie sich als treue Unterstützerin seiner Politik, auch im aktuellen Ukraine-Krieg.

Jedem Krieg geht das Aufhetzen von Menschen gegeneinander voraus. Der Gegner wird entmenschlicht, dem grausamen Vorgehen gegen ihn mit Gewalt, Mord und Zerstörung muss eine Begründung beigefügt werden, die es zum "gerechten Krieg" macht, damit Menschen das, was sie anderen Menschen antun, vor sich selbst rechtfertigen können. Putins Begründung für seinen Krieg in der Ukraine sind "Drogenabhängige" und "Faschisten", die die Macht in der Ukraine innehätten, ein "Naziregime", das dort einen "Genozid" verübe. Patriarch Kyrill I., Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, stimmte mit ein und ergänzte die religiöse Verklärung: "Böse Kräfte" seien am Werk, sie bedrohten Russland und die ganze "Rus". Damit bestätigt er Putins Vorstellung einer Zusammengehörigkeit von Ukraine, Belarus und Russland. Das, was den russischen Präsidenten auf politischer Ebene stört, ist dem russischen Patriarchen auf kirchlicher Ebene ein Dorn im Auge: Die Unabhängigkeit der Ukraine.

Vor mehr als drei Jahren bildete sich mit der Orthodoxen Kirche der Ukraine eine eigene ukrainische Nationalkirche heraus (der hpd berichtete). Für viele Ukrainer war dies neben der staatlichen ein weiterer Schritt in die Unabhängigkeit von Russland. Ein Vorgang, der das Moskauer Kirchenoberhaupt erzürnte, und auch russische Parlamentarier werteten den Schritt als "Angriff auf Russland". Als Reaktion darauf, dass das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, das als spirituelles Machtzentrum der weltweiten Orthodoxie gilt, der Orthodoxen Kirche der Ukraine Unabhängigkeit zugestand, wandte sich die russisch-orthodoxe Kirche von Konstantinopel ab.

Aus machtpolitischer Perspektive erscheint es daher logisch, dass Kyrill nun den Krieg gegen die Ukraine unterstützt. "Gott bewahre, dass die gegenwärtige politische Situation in der uns nahen brüderlichen Ukraine darauf abzielt, dass die bösen Mächte, die immer gegen die Einheit der Rus und der russischen Kirche gekämpft haben, die Oberhand gewinnen", predigte er laut ORF.

Währenddessen appellierte der weiter bestehende russische Ableger der orthodoxen Kirche in der Ukraine an Putin, den Angriff einzustellen; die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats erkennt die ukrainische "staatliche Souveränität und territoriale Integrität" an. Der "Bruderkrieg" sei "we­der vor Gott noch vor den Menschen zu rechtfertigen", hieß es von Onufrij, dem Metropoliten von Kiew und der Ukraine (FAZ). Derartige Aufrufe werden von russischer Seite jedoch ignoriert: Obwohl beim Moskauer Patriarchat sonst regelmäßig über Neuigkeiten aus der russisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine berichtet werde, würde dies nun "totgeschwiegen", schreibt der ORF in einem weiteren Artikel.

Die eigene ukrainische Kirche richtete noch deutlichere Worte an den "diskreditierten Patriarchen Kyrill": "Wenn Sie schon nicht Ihre Stimme gegen die Aggression erheben können, dann helfen Sie wenigstens mit, die Leichen der russischen Soldaten zu bergen, die für die Ideen der 'russischen Welt' – Ihre und die Ihres Präsidenten – mit ihrem Leben bezahlt haben." Aus Sicht ihres Oberhaupts, Metropolit Epifanij, sei es "momentan sinnlos", den russischen Patriarchen darüber hinaus um einen Beitrag zum Frieden zu bitten. Dieser hat den Angriffskrieg gegen die Ukraine trotz Aufforderung bislang nicht kritisiert – im Gegenteil.

Zwar nutzt er das in russischen Medien verbotene Wort "Krieg" (nach offiziellen Vorgaben handelt es sich um eine "Militäroperation"), konnotiert es aber positiv: Dieser sei laut Kyrill "von me­taphysischer Bedeutung", schreibt die FAZ. In einer grotesk anmutenden Predigt versuchte er auf verschlungenen Pfaden den argumentativen Weg hin zu Gay-Pride-Paraden zu finden, die er zum "Loyalitätstest" gegenüber dem Westen hochstilisierte, und die gar kein echtes Statement seien. Die Menschen im Donbas würden die Werte der "Scheinfreiheit" und des übermäßigen Konsums jedoch nicht akzeptieren und daher versuche man seit acht Jahren, die dortigen Lebensformen zu zerstören. Gleichzeitig distanzierte sich Moskaus orthodoxes Kirchenoberhaupt "von der säkularen Auffassung von Menschenrechten". Der Kriegsdienst ist für ihn ohnehin nichts weniger als eine Bekundung von "Nächstenliebe nach dem Evangelium" und "ein Beispiel der Treue zu den hohen sittlichen Idealen des Wahren und Guten". Dies versicherte Kyrill Putin laut einem Bericht der FAZ am Tag vor dem Beginn der Invasion in der Ukraine anlässlich des "Tags des Vaterlandsverteidigers".

Das "friedliebende" Russland strebe aber gar nicht nach Krieg oder danach, irgendetwas zu tun, "das anderen Schaden zufügen könnte", beteuerte der Patriarch laut Reuters Anfang April – ein Zeitpunkt, zu dem längst klar war, dass Russland Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung begeht. Er sorge sich um die Menschen, die von dem bewaffneten Konflikt betroffen seien, die alle "Menschen des Heiligen Russlands" seien.

Der Überhöhung dessen, worum in der Ukraine gekämpft werde, scheint dabei keine Grenzen gesetzt zu sein – nach Kyrill gehe es um nichts weniger als das Fortbestehen der menschlichen Zivilisation: "Wenn die Menschheit akzeptiert, dass Sünde keine Verletzung von Gottes Gesetz ist, wenn die Menschheit akzeptiert, dass Sünde eine Variation des menschlichen Verhaltens ist, dann wird die menschliche Zivilisation dort enden", predigte Kyrill Anfang März laut The Moscow Times. In dem Krieg gehe es darum, "auf welcher Seite Gottes die Menschheit stehen wird". Zu spirituellen Eskapaden rund um den Krieg, die auch ein vermeintliches "Blutwunder" umfassen, bemerkte BR24 treffend: "die religiöse Propaganda [treibt] immer grellere Blüten, die mitunter die Grenze zur Satire überschreitet."

Thron und Altar – die bewährte Machtsicherungssymbiose

Woher kommen diese Treue und der Wille, sogar Kriegsverbrechen theologisch zu rechtfertigen? Obwohl Staat und Kirche auch in Russland verfassungsgemäß getrennt sind, sind sie de facto eng verflochten – in beide Richtungen und in der Tradition des historischen "sinfonischen Modells", welches die Zeit als "die Idee eines harmonischen Zusammenwirkens von Herrscher und kirchlichem Amtsträger zum Wohl des Volkes" beschreibt. Der zu kommunistischen Sowjetzeiten zurückgedrängten Orthodoxie verhalf Putin so – nach Vorarbeit von Michail Gorbatschow und Boris Jelzin – in seinen Amtszeiten zu neuer Bedeutung. Heute genießt die Kirche weitreichende Privilegien. Seit der Reform 2020 steht der "Glaube an Gott" sogar in der Verfassung.

In einer Radioreportage von Bayern 2 aus dem Jahr 2018 heißt es, Patriarch und Präsident hätten sich von Anfang an gut verstanden. Putin habe erkannt, dass das große Russland eine starke Kirche brauche. Diese "[füllt] den ideologisch-entleerten Raum der nachkommunistischen Zeit mit religiösen Riten, mit Glauben und Tradition", beschreibt es Deutschlandfunk Kultur. Der russische Staat ging hart gegen Pussy Riot vor und verschärfte die Strafen für die Verletzung religiöser Gefühle, die Kirche rechtfertigte die russische Rolle im Syrien-Krieg und deutete sie als Akt der Verteidigung um. Man hält zusammen, legitimiert gegenseitig seine Ziele und sein Handeln – und profitiert voneinander.

Heute zählt die orthodoxe Kirche in Russland stolze 100 Millionen Mitglieder, darunter auch der Präsident persönlich. Wladimir Putin fährt in seinem Land einen strammen wertekonservativen Kurs, ganz im Sinne der Kirche: er integrierte die "spirituelle Sicherheit" in ein neues Sicherheitskonzept, sexuelle Minderheiten werden verfolgt, in der reformierten Verfassung wird die Ehe als "Vereinigung von Mann und Frau" festgelegt, schon seit 2013 steht "Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen" unter Strafe. Dabei will man sich ganz bewusst vom Westen abgrenzen, darin sind sich Kirche und Staat einig. Westlichen Wertvorstellungen wie dem Liberalismus wolle man einen orthodoxen Traditionalismus entgegenhalten, führt die Stiftung Wissenschaft und Politik in einer Publikation von 2016 aus. "Orthodoxe Souveränität" sei zum Thema gemeinsamer Verlautbarungen von Staat und Kirche geworden. "Ein Staat wie Russland müsse alles in seiner Macht Stehende tun, die eigene Identität und die eigenen Werte zu wahren, denn 'ohne spirituelle, kulturelle und nationale Selbstdefinition [...] kann man auf globaler Ebene keinen Erfolg haben'", so habe es Putin 2013 erläutert.

Diese eigenen Werte spielen bei ihm denn auch im aktuellen Krieg gegen die Ukraine eine Rolle: In seiner Rede zum Angriff am 24. Februar sprach er von "Pseudowerten", die der Westen Russland habe aufzwingen wollen und die die russische Gesellschaft "von innen heraus zersetzen würden (…) und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind".

Die gegenseitige Loyalität korrespondiert mit den machtpolitisch einenden Vorstellungen von Putin und Kyrill: Beide wollen sich mit dem Einfluss innerhalb der eigenen Grenzen nicht zufriedengeben und erheben den Anspruch, diesen auch anderswo ausüben zu können. Laut der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht der russische Präsident sein Land als "orthodoxe Macht im 21. Jahrhundert", das eine spirituell aufgeladene Mission verfolgt. Letzteres beschreibt auch der Philosoph Michel Eltchaninoff im Interview mit der Friedrich-Naumann-Stiftung. Die Zeit schrieb schon 2015 von einem "ideologischen Überbau (…) aus orthodoxer Glaubenslehre und großrussischem Nationalismus".

Das Konzept der Einheit von Thron und Altar hat auch heute nichts von seiner Effektivität eingebüßt. Wie schon in der Geschichte meistert eine christliche Kirche erneut den zynischen Spagat zwischen dem Selbstverständnis als Friedensbringer samt dem Gebot "Du sollst nicht töten" und einer Kriegstreiberei mit moralischem Anspruch.

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