Sie schreiben, Karl hätte den Feudalismus zu neuen Höhen geführt.
Unter Karls Führung bildet sich der Feudalismus in Form der Grundherrschaft extensiv aus.
Eroberte Gebiete werden samt der Bevölkerung als Lehen an Grafen übergeben und die Klöster erfreuen sich Schenkungen riesiger Ländereien. Kaum ein Kloster existiert ohne zugehörige Dörfer und "Hörige" im Halbsklaven-Status.
Das kirchliche Eigentum ist nicht mehr Gemeineigentum der christlichen Gemeinde, sondern Eigentum der Priesterschaft als geschlossener Körperschaft und wird von einer Kirchenbürokratie verwaltet. Der Abt verlangt unbedingten Gehorsam und Bischöfe verfügen über nahezu ungeregelte Befugnisse über die Landpfarrer. Dank dieses hierarchischen Systems und infolge der großzügigen Übertragung von Ländereien nebst Dörfern, Bauern und deren Besitz wachsen Bistümer und Klöster zu einflussreichen Wirtschaftszentren heran, die schließlich mehr als die Hälfte des Reiches wirtschaftlich dirigieren. Bischöfe und Grafen bilden die privilegierten Feudalherren und die politische Führungsschicht für die folgenden 1.000 Jahren, während immer mehr Freie unter der Last der Abgaben, des Missbrauchs der Amtsgewalt durch die Gaugrafen und unter dem Druck der Kriegsdienstpflicht in den Status der Hörigen wechseln und die wirtschaftliche Erschöpfung breiter Volksmassen in einem halben Dutzend Hungersnöte mündet.
Also ist Karl kein "Vater Europas"?
Mitnichten. Sein Reich wird durch Angriffskriege zusammengefügt, sein Denken ist totalitär. Lediglich die katholische Kirche hat allen Grund, Karl ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wahrheit zu glorifizieren: Karl übereignet den Klöstern halb Mitteleuropa, führt per Erlass den Kirchenzehnt ein, entzieht den Klerus der weltlichen Justiz, sorgt dafür, dass in jedem Haus das Vaterunser gebetet wird, verfügt bei Androhung leiblicher Strafen, dass jeder Einzelne kirchliche Grundformeln zu kennen habe und droht Frauen bei Nichtwissen des Vaterunsers die Peitsche an.
Aus nahezu jedem seiner Dokumente blickt uns die Scharia entgegen, die das gesamte religiöse, politische, soziale und individuelle Leben bestimmt und Andersgläubigen das Überleben unmöglich macht. Man muss nur Karls Kapitularien lesen und das Fantasieren beiseite lassen, um den Fundamentalismus zu spüren, der früher oder später zu Bücherverbrennung, Kreuzzügen, Judenverfolgung, Inquisition und Reconquista führen wird.
Karl gründet nicht eine öffentliche Schule, fördert nicht eine Wissenschaftsdisziplin, eröffnet nicht ein Theater, finanziert nicht eine öffentliche Bibliothek, erlöst nicht eine Stadt aus dem dumpfen Milieu der Verlotterung.
Die städtische Kultur liegt am Boden, die Menschen hausen in armseligen Holzbaracken, entleeren die Notdurft auf die Straße und Paris ist ein Müllhaufen.
Dieser fromme Mann, der die Gesetzgebung vollständig auf Bibel und Kirchenrecht gründet und den Dienst am Katholizismus unter Androhung der Enthauptung bei Ungehorsam verordnet, dieser Hardcore-Katholik mit der brisanten IS-Religionslogik "Glauben oder Tod" hat mit einem Europa, wie wir es heute verstehen, mit der Fähigkeit zum demokratischen Diskurs, mit Kritik und Kompromiss, mit kultureller Vielfalt und dem freien Denken so viel am Hut wie Kaiser Wilhelm mit der Demokratie.
Noch ein letztes Wort zum Karlspreis, den Sie in einer Anlage würdigen
Nun also wird Papst Franziskus geehrt. In Rom und unmittelbar nach "Christi Himmelfahrt", dem traditionellen Zeitpunkt der Karlspreisverleihung. Das Direktorium für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen fühle "sich beehrt, im Jahre 2016 Seine Heiligkeit Papst Franziskus mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen auszeichnen zu dürfen", heißt es im angemessen salbungsvollen Ton in Aachen. Man durfte. Und damit niemand vergisst, welches Europa das mit Regionalpolitikern und katholischen Repräsentanten durchsetzte Direktorium im Auge hat, reist der Aachener Domchor mit nach Rom und wird den eingeladenen Gästen Gelegenheit gegeben, an einem Gottesdienst teilzunehmen.
Es geht also bei dem Karlspreis um ein katholisches und nicht etwa um ein überkonfessionelles Europa der Menschenrechte und der Freiheit, für die man nun beim besten Willen nicht die katholische Kirche zitieren mag. Da schaut man gerne über einige Nebensächlichkeiten hinweg, dass der "Pontifex" dem unanständig reichen deutsch-katholischen Ableger keine Zügel anlegen mag, die Gleichberechtigung der Frauen ablehnt, Geschiedene aus ihren Arbeitsverhältnissen entfernen lässt, nach wie vor alle, die nicht an Jesus glauben, der Weltlichkeit des Teufels zuordnet, sich mit karnevalsreifen Ausführungen über das Paarungsverhalten der Katholiken ("Karnickel") zum Orden wider den tierischen Ernst qualifiziert und die Züchtigung von Kindern als "würdevolles Schlagen" entschuldigt.
Wie gesagt: Es geht um ein katholisches Europa. Um ein Europa des Mittelalters. In diesem Sinne wird der Stiftungsrat unter Führung des Aachener Domprobstes und eines Mitgliedes des Bundes Katholischer Unternehmer wohl auch die nächste Besetzungsliste auskungeln. Als Kandidatin käme 2017 "Mutter Teresa" infrage.
Die Fragen für den hpd stellten Frank Nicolai und Florian Chefai.
Rolf Bergmeier, "Karl der Große. Die Korrektur eines Mythos", 320 Seiten. Hardcover, Tectum-Verlag, Marburg, 19,95 Euro (D)/ 20,60 Euro (A), ISBN 978-3-8288-3661-7
Nachtrag auf Hinweis eines Lesers: Alkuin war nicht ein irischer, sondern ein Mönch aus dem angelsächsischen Königreich Northumbria.
7 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Scharia passt für diesen despotischen Kriegstreiber, der die westfälischen Sachsen mit Feuer und Schwert katholisierte.
Rüdiger Weida am Permanenter Link
Wegen seiner Kriegsverbrechen an den Sachsen nenne ich den Typen schon lange "Karl, der Schlächter"
Klaus Bernd am Permanenter Link
Die quasi "Heiligenlegenden" um Karl den Großen haben mich schon mißtrauisch gemacht; bin neugierig, Kritisches darüber zu lesen.
gescheiten Kommentar von Thomas Gutschker zur Rede von B. vor dem EU-Parlament zitieren: FAZ vom 30.11.2014
„Wir könnten den Mann aus Rom jetzt also auch für seine Weitsicht loben, für seine Offenheit und seine moralische Klarheit. Doch er hat es besser verdient: Franziskus verdient Widerspruch. Seine Rede war nicht ermutigend, sondern ungerecht. Der Papst zeichnete ein Zerrbild von Europa, so dass man sich wundern muss, ob er überhaupt verstanden hat, was Europa für das Christentum bedeutet und das Christentum für Europa.“
Aus dieser Rede: „Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen,...“
Für eine derart esoterisch verschwurbelte Analyse bekommt man also den Sachsenschlächterpreis. Die Stadt Aachen hat wohl Probleme, geeignete Kandidaten für ihre Auszeichnungen zu finden.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Nu ja, vor dem Hintergrund des mit dem Papst kungelnden, erzkatholischen Sachsenschlächters ist es doch auch wieder ein sehr geeigneter Preiskandidat (aus dessen erster Messe nach seiner Wahl: "Wer nicht zum Herr
Klaus Bernd am Permanenter Link
Vom Namen des Preises her vollkommen richtig; wir warten ja auch nur noch auf die Heiligsprechung von Karl dem Großen.
Vielleicht erleben wir ja auch noch, die Verleihung des "Ordens wider den tierischen Ernst" an Bergoglio. Den kriegt auch jeder ansonsten humorbefreite Politiker, der sich von seinem Ghostwriter ein paar Witzchen schreiben lassen kann. Und Lachhaftes hat Bergoglio schon wahrhaft genug von sich gegeben.
Horst Herrmann am Permanenter Link
Eine verdienstvolle Arbeit.
Plackenberg am Permanenter Link
"Am Ende verkriecht sich Karl in ein Eifeler Provinznest fern aller Verkehrswege, während Byzanz, Bagdad, Damaskus, Alexandria, Cordoba und Toledo als Millionenstädte und Kulturzentren in aller Munde sind."<