Interview mit Rolf Bergmeier

Die Scharia Karls "des Großen"

Sie schreiben, Karl hätte den Feudalismus zu neuen Höhen geführt.

Unter Karls Führung bildet sich der Feudalismus in Form der Grundherrschaft extensiv aus.

Eroberte Gebiete werden samt der Bevölkerung als Lehen an Grafen übergeben und die Klöster erfreuen sich Schenkungen riesiger Ländereien. Kaum ein Kloster existiert ohne zugehörige Dörfer und "Hörige" im Halbsklaven-Status.

Das kirchliche Eigentum ist nicht mehr Gemeineigentum der christlichen Gemeinde, sondern Eigentum der Priesterschaft als geschlossener Körperschaft und wird von einer Kirchenbürokratie verwaltet. Der Abt verlangt unbedingten Gehorsam und Bischöfe verfügen über nahezu ungeregelte Befugnisse über die Landpfarrer. Dank dieses hierarchischen Systems und infolge der großzügigen Übertragung von Ländereien nebst Dörfern, Bauern und deren Besitz wachsen Bistümer und Klöster zu einflussreichen Wirtschaftszentren heran, die schließlich mehr als die Hälfte des Reiches wirtschaftlich dirigieren. Bischöfe und Grafen bilden die privilegierten Feudalherren und die politische Führungsschicht für die folgenden 1.000 Jahren, während immer mehr Freie unter der Last der Abgaben, des Missbrauchs der Amtsgewalt durch die Gaugrafen und unter dem Druck der Kriegsdienstpflicht in den Status der Hörigen wechseln und die wirtschaftliche Erschöpfung breiter Volksmassen in einem halben Dutzend Hungersnöte mündet.

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Also ist Karl kein "Vater Europas"?

Mitnichten. Sein Reich wird durch Angriffskriege zusammengefügt, sein Denken ist totalitär. Lediglich die katholische Kirche hat allen Grund, Karl ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wahrheit zu glorifizieren: Karl übereignet den Klöstern halb Mitteleuropa, führt per Erlass den Kirchenzehnt ein, entzieht den Klerus der weltlichen Justiz, sorgt dafür, dass in jedem Haus das Vaterunser gebetet wird, verfügt bei Androhung leiblicher Strafen, dass jeder Einzelne kirchliche Grundformeln zu kennen habe und droht Frauen bei Nichtwissen des Vaterunsers die Peitsche an.

Aus nahezu jedem seiner Dokumente blickt uns die Scharia entgegen, die das gesamte religiöse, politische, soziale und individuelle Leben bestimmt und Andersgläubigen das Überleben unmöglich macht. Man muss nur Karls Kapitularien lesen und das Fantasieren beiseite lassen, um den Fundamentalismus zu spüren, der früher oder später zu Bücherverbrennung, Kreuzzügen, Judenverfolgung, Inquisition und Reconquista führen wird.

Karl gründet nicht eine öffentliche Schule, fördert nicht eine Wissenschaftsdisziplin, eröffnet nicht ein Theater, finanziert nicht eine öffentliche Bibliothek, erlöst nicht eine Stadt aus dem dumpfen Milieu der Verlotterung.

Die städtische Kultur liegt am Boden, die Menschen hausen in armseligen Holzbaracken, entleeren die Notdurft auf die Straße und Paris ist ein Müllhaufen.

Dieser fromme Mann, der die Gesetzgebung vollständig auf Bibel und Kirchenrecht gründet und den Dienst am Katholizismus unter Androhung der Enthauptung bei Ungehorsam verordnet, dieser Hardcore-Katholik mit der brisanten IS-Religionslogik "Glauben oder Tod" hat mit einem Europa, wie wir es heute verstehen, mit der Fähigkeit zum demokratischen Diskurs, mit Kritik und Kompromiss, mit kultureller Vielfalt und dem freien Denken so viel am Hut wie Kaiser Wilhelm mit der Demokratie.

Noch ein letztes Wort zum Karlspreis, den Sie in einer Anlage würdigen

Nun also wird Papst Franziskus geehrt. In Rom und unmittelbar nach "Christi Himmelfahrt", dem traditionellen Zeitpunkt der Karlspreisverleihung. Das Direktorium für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen fühle "sich beehrt, im Jahre 2016 Seine Heiligkeit Papst Franziskus mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen auszeichnen zu dürfen", heißt es im angemessen salbungsvollen Ton in Aachen. Man durfte. Und damit niemand vergisst, welches Europa das mit Regionalpolitikern und katholischen Repräsentanten durchsetzte Direktorium im Auge hat, reist der Aachener Domchor mit nach Rom und wird den eingeladenen Gästen Gelegenheit gegeben, an einem Gottesdienst teilzunehmen.

Es geht also bei dem Karlspreis um ein katholisches und nicht etwa um ein überkonfessionelles Europa der Menschenrechte und der Freiheit, für die man nun beim besten Willen nicht die katholische Kirche zitieren mag. Da schaut man gerne über einige Nebensächlichkeiten hinweg, dass der "Pontifex" dem unanständig reichen deutsch-katholischen Ableger keine Zügel anlegen mag, die Gleichberechtigung der Frauen ablehnt, Geschiedene aus ihren Arbeitsverhältnissen entfernen lässt, nach wie vor alle, die nicht an Jesus glauben, der Weltlichkeit des Teufels zuordnet, sich mit karnevalsreifen Ausführungen über das Paarungsverhalten der Katholiken ("Karnickel") zum Orden wider den tierischen Ernst qualifiziert und die Züchtigung von Kindern als "würdevolles Schlagen" entschuldigt.

Wie gesagt: Es geht um ein katholisches Europa. Um ein Europa des Mittelalters. In diesem Sinne wird der Stiftungsrat unter Führung des Aachener Domprobstes und eines Mitgliedes des Bundes Katholischer Unternehmer wohl auch die nächste Besetzungsliste auskungeln. Als Kandidatin käme 2017 "Mutter Teresa" infrage.

Die Fragen für den hpd stellten Frank Nicolai und Florian Chefai.

Rolf Bergmeier, "Karl der Große. Die Korrektur eines Mythos", 320 Seiten. Hardcover, Tectum-Verlag, Marburg, 19,95 Euro (D)/ 20,60 Euro (A), ISBN 978-3-8288-3661-7

Nachtrag auf Hinweis eines Lesers: Alkuin war nicht ein irischer, sondern ein Mönch aus dem angelsächsischen Königreich Northumbria.