Interview mit Rolf Bergmeier

Die Scharia Karls "des Großen"

BERLIN. (hpd) Nach zahlreichen Biografien, die 2014 anlässlich des 1200ten Todestages von Karl "dem Großen" publiziert wurden und die ohne Ausnahme Karl als den Mentor Europas in Szene setzen, nachdem Arte Karl kürzlich in einer opulenten dreiteiligen Fernsehserie zum "Kaiser Europas" gekürt hat, ist nunmehr eine Kritik in Gestalt einer "Korrektur eines Mythos" erschienen.

Der Autor, Rolf Bergmeier, Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt "antike und frühmittelalterliche Kultur", bekannt durch seine Trilogie zur "christlich-abendländischen Kultur", stellt der Verherrlichung Karls eine 320 Seiten starke Kritik gegenüber. Der hpd bat den Autor um ein Interview.

hpd: Sie haben ein Buch über Karl den Großen geschrieben. Es ist ein Buch gegen den Mainstream der Geschichtswissenschaften. Was hat Sie dazu bewogen?

Rolf Bergmeier: Eine kaum überschaubare Schar von Nachkriegshistorikern und Publizisten sieht Karl über alle Zeit- und Geografieräume hinweg als einsame Größe glänzen, als jemanden, der dunkle Jahrhunderte in eine Periode kultureller Hochblüte verwandelt habe. Aber die aufsehenerregenden Glanzleistungen Karls brauchen den Leser eigentlich nicht weiter zu beschäftigen, da die Historiker nicht verschweigen, dass eine objektive Darstellung "des großen Karolingers" nicht möglich sei. Dennoch wird Karl vom Nordkap bis Süditalien, vom Deutschlandfunk bis zum Vatikan als "Vater Europas" und "Leuchtturm" gewürdigt. Diese überschwängliche und irritierend homogene Berichterstattung über eine Person, die nach Auffassung der meisten Historiker wissenschaftlich gar nicht zu fassen ist und folglich zu diskursiven Interpretationen einladen müsste, aber selten aus einem von Wissenschaft, Politik, Presse und katholischer Kirche getragenen Einheitsbild ausbricht, müsste eigentlich jeden Wissenschaftler beunruhigen. Zumal man sich fragt, wie eigentlich ein Halbanalphabet, der sein ganzes Leben lang Krieg führt, zum Retter der westlichen Kultur werden kann.

Nun wird behauptet, Karl sei nicht nur selbst für Gelehrsamkeit aufgeschlossen gewesen, sondern habe sich habe sich zudem mit Gelehrten umgeben. Was darf man im 8. Jahrhundert unter einem "Gelehrten" verstehen?

Die Lichtgestalt am Hofe Karls, die in der Karl-Literatur alle überragt, ist Alkuin. Die deutschen Biografen überschlagen sich in ihrem Lob über den "Spitzengelehrten".

Alkuin sei "der größte Gelehrte seiner Zeit" gewesen. Aber die "größten Gelehrten der Zeit" dürften damals in Bagdad zu finden gewesen sein, wo die Kalifen Harun al-Raschid und al-Maʾmun das "Haus der Weisheit", eine Akademie der Wissenschaften, gegründet haben.

Alkuin ist irischer Mönch, kennt sich als solcher in der Kirchenliteratur gut aus, verfügt aber nur über rudimentäre Kenntnisse der Geistes- und Naturwissenschaften, entwickelt keine Philosophie, noch ist er ein schöpferischer Theologe. Die Kirchenväter sind ihm unantastbar und er fühlt sich nicht berufen, sie zu kritisieren. Seine Exegesen und die Wort- und Zahleninterpretationen der Heiligen Schrift sind häufig naiv und kindisch, die Kommentare glanzlos. Alkuin mag ein guter Lehrer der "Heiligen Schriften" gewesen sein, aber ihm fehlt der schöpferische Geist eines "Gelehrten". Jedenfalls nach antiken und heutigen Maßstäben.

Für jede Kulturlandschaft ist ein gutes Schulwesen unverzichtbar. Wie sah es damit im Frankenreich aus?

Ab Ende des 5. Jahrhunderts geht es mit dem öffentlichen Schulwesen im Westen des römischen Reiches bergab. Die Schriftlichkeit versiegt, die römischen Schulbauten zerfallen und Bücher liest kaum noch einer. Über die Ursachen wird gestritten. Aber man kann die Dinge drehen und wenden, wie man will, man kann mit spitzen Fingern auf die "Völkerwanderung" oder die "Dekadenz" der Römer deuten, man kann nach Byzanz und Bagdad schielen oder auf die hispanische Halbinsel: Die katholischen Franken stehen im Mittelpunkt des Geschehens, wenn wir vom Untergang der griechisch-römischen Bildungskultur sprechen.

Nicht zuletzt unter dem Einfluss der katholischen Lehre von der Nichtigkeit des Diesseits zeigt der Frankenkönig Chlodwig wenig Ambitionen, dem Volk Schulen und Bibliotheken zur Verfügung zu stellen. Die Wissenschaft ist sich mehr oder wenig einig, die Jahre zwischen 500 und 750 als "finsteres Mittelalter" einzustufen.

Jedenfalls, soweit der Begriff Mitteleuropa betrifft. Unter Karl wird diese Politik, die das Volk von Wissen und Wissenschaft fern hält und stattdessen zu einem bedingungslosen Glauben erzieht, forciert.

Haben die "Klosterschulen" nicht diese Lücke geschlossen?

Etliche Bildungsforscher nehmen die berühmte Epistola de litteris colendis (785) und Hinweise auf die Einrichtung von monastischen Schulen in der Admonitio generalis (789) zum Anlass, Karl die Gründung von Land- und Volksschulen zuzuschreiben. Aber Karl fördert ausschließlich Schulen für den katholische Klerus.

Diese Schulen sind Religionsschulen für eine kleine Minderheit. Und es bedarf eines gehörigen Maßes an Fantasie, um in den erwähnten Quellen ein "elementares Schulwesen" zu erkennen. Denn in der Epistola ist von "Schule" überhaupt nicht die Rede, sondern lediglich von der Ausbildung geeigneter Personen innerhalb des Klerus und der Klöster. Und in der moralgesättigten Admonitio ordnet Karl an, in jedem Kloster und an jedem Bischofssitz seien Schulen einzurichten, in denen die "Jungen Psalmen, Schriftzeichen, Gesänge, Zeitrechnung, Grammatik" zur Förderung der Erkenntnis Gottes und der Menschen erlernen sollten.

Kein Historiker macht den Leser darauf aufmerksam, dass diese "Schulen" religiöse Kadettenanstalten sind, um den kirchlichen Nachwuchs mit Psalmen und Stundengebeten zu drillen und der Allgemeinheit nicht zur Verfügung stehen. Auch wird verschwiegen, dass "äußere" Klosterschulen vor den Klostermauern höchst selten sind. Oder anders: Rund 95 Prozent der Bevölkerung werden vom Schulsystem à la Karl nicht erfasst.

Es wird behauptet, die Klöster hätten die antiken Bücher gerettet. Dank der Klosterbibliotheken sei das griechisch-römische Vermächtnis an die Neuzeit weitergegeben worden.

Im merowingischen und karolingischen Mitteleuropa schmelzen öffentliche Bibliotheken dahin wie Butter an der Sonne. Von Herrschern, die nicht lesen und schreiben können, von einer Staatsideologie, die sich in Abscheu vor der polytheistisch-heidnischen Kultur schüttelt, kann man keine Begeisterung für klassische Bibliotheken der "Heiden" erwarten.

Unter der Herrschaft Karls hat es nicht eine öffentliche Bibliothek gegeben. Lediglich die Klöster bemühten sich, "heilige Schriften" vorzuhalten. Diese machen etwa 90 Prozent des Bestandes der jeweiligen Klosterbibliothek aus.

Rolf Bergmeier, M.A., Studium der Alten Geschichte und Philosophie an der Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkt: "Antike und frühmittelalterliche Kultur". Mehrere Monographien zu Kaiser Konstantin, dem Christentum im 4. Jahrhundert, den Ursachen des Verfalls der antiken Kultur und zur Bedeutung der islam-arabischen Kultur für die Entwicklung Europas.
Bergmeier arbeitet als Beirat in der Giordano-Bruno-Stiftung und hat 2015 gemeinsam mit Dr. Michael Schmidt-Salomon die GBS-Broschüre "Die Legende vom christlichen Abendland" herausgegeben.

Bei einem durchschnittlichen Bestand von mageren 50-150 Büchern je Kloster können wir also mit etwa 5 bis 15 Büchern je Kloster säkularen Inhaltes rechnen. Klöster sind keine Volkshochschulen, sondern verstehen sich als Rückzugsräume zum Meditieren und für den Zugang zu Gott. Folglich sind die Mönche vor allem am Ab- und Umschreiben kirchlicher Bücher interessiert. Der damit verbundene tiefgreifende Einbruch in die Buchbestände ist ohne Mühe logisch und sachlich nachvollziehbar und in den überlieferten Bibliotheksverzeichnissen und in den Codices Latini Antiquiores, einem 13‑bändiger Corpus lateinischer Handschriften aus der Zeit vor dem 9. Jahrhundert, dokumentiert.

Das alles findet in der Karl-Literatur keinen Niederschlag. Stattdessen wird die Einrichtung der Klosterbibliotheken als eine "Sternstunde" für die Überlieferung antiker Texte gefeiert.

Über Karls Wirtschaftspolitik hört man wenig. Wie war das Verhältnis Karls zur Ökonomie?

Das Frankenland ist arm. Karl zieht von Pfalz zu Pfalz und verzehrt, was dort für ihn und seinen Tross bevorratet worden ist. Gewerbe und Handwerk des Frankenreiches produzieren nur wenige für den Export geeignete Artikel, Residenzen oder blühende Städte als traditioneller Mittelpunkt von Kultur, Bildung und Wissenschaft gibt es nicht.

Während in al-Andalus die Handelsstädte in atemberaubendem Tempo wachsen, stürzt im Frankenreich die Stadtkultur in sich zusammen. Von Karl gegründete "Pfalzen", Aachen, Ingelheim und Nimwegen, in der Literatur teilweise hochtrabend als "Paläste" bezeichnet, sind feldgraue Mäuse im Vergleich mit einer durchschnittlichen Provinzstadt des Imperium Romanum.

Ohne Blick für makroökonomische Zusammenhänge erkennt Karl nicht das wirtschaftliche Potenzial, das im Überseehandel, in einer Stadtkultur und in einer guten Ausbildung breiter Volksschichten steckt. Stattdessen entscheidet er sich für einen Gottesstaat mit religiös bedingten, wirtschaftlichen Einschränkungen. Das alles wird von einer nicht enden wollenden Serie an Kriegen umrahmt, die das Land in einem ständigen kräftezehrenden Ausnahmezustand hält. Am Ende verkriecht sich Karl in ein Eifeler Provinznest fern aller Verkehrswege, während Byzanz, Bagdad, Damaskus, Alexandria, Cordoba und Toledo als Millionenstädte und Kulturzentren in aller Munde sind.