Rund 100 Besucherinnen und Besucher hörten sich an, wie Angelika Salzburg-Reige den Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg vorstellte und eindrucksvoll die Begleitung ihrer Freundin Käthe Nebel beim selbstbestimmten Freitod schilderte – ein bewegendes Beispiel für die Praxis der Sterbehilfe in Deutschland. Dabei wurde deutlich: Obwohl das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ausdrücklich gestärkt hat, bleibt die gesellschaftliche Wahrnehmung hinter der rechtlichen Realität zurück.
Angelika Salzburg-Reige vom Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg referierte am Samstag im Dorfgemeinschaftshaus Ahlhorn. Eingeladen hatte das Ländliche Erwachsenenbildungswerk Großenkneten (LEB). Im Vorfeld hatte Salzburg-Reige zudem ein Interview gegeben.
Laut einer Forsa-Umfrage zur Suizidhilfe glauben 83 Prozent der Bevölkerung irrtümlich, dass Sterbehilfe in Deutschland verboten sei – ein deutliches Zeichen für den Mangel an öffentlicher Aufklärung.
Rechtlicher Hintergrund: Ein Urteil mit Signalwirkung
Am 26. Februar 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Paragraphen 217 des Strafgesetzbuches (StGB) für verfassungswidrig. Die Vorschrift hatte zuvor die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" unter Strafe gestellt, wobei "geschäftsmäßig" juristisch nicht kommerzielle Interessen, sondern eine auf Wiederholung angelegte Tätigkeit meint. Die Folge: Ärztinnen und Ärzte durften keine Freitodhilfe mehr leisten.
Mit seinem Urteil stellte das Gericht klar, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Dieses schließt die Freiheit ein, das eigene Leben zu beenden und dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen – unabhängig von Alter, Krankheit oder Lebenssituation. Entscheidend ist allein, dass der Sterbewunsch in freier Verantwortung getroffen wurde. Damit besteht in Deutschland eine sehr liberale rechtliche Grundlage, Suizidhilfe leisten zu dürfen.
Kriterien für Freiverantwortlichkeit
Das Bundesverfassungsgericht definierte fünf zentrale Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Freitodhilfe zulässig ist:
Die Entscheidung muss wohlerwogen und nachhaltig sein – nicht im Affekt. Die urteilsfähige Person muss die Tragweite ihrer Entscheidung erfassen können. Sie muss über Alternativen wie Hospiz- und Palliativ-Versorgung informiert sein und diese bewusst ablehnen. Der Entschluss darf nicht unter äußerem Druck entstehen. Der Suizid muss eigenhändig vollzogen werden – etwa durch das selbstständige Öffnen einer Infusion.
Sterbehelfende Ärzte und Sterbehilfevereine sind verpflichtet, die Voraussetzungen für eine freiverantwortliche Entscheidung sorgfältig zu prüfen, um straffrei handeln zu können.
Länder wie die Schweiz oder die Niederlande werden häufig als Vorbilder einer gesetzlich geregelten Sterbehilfepraxis genannt. Doch eine differenzierte Betrachtung ist hier notwendig: In beiden Ländern ist Sterbehilfe nur bei schwerer Krankheit oder unerträglichem Leiden zulässig. Nicht jeder Mensch möchte erst eine belastende Diagnose abwarten müssen, um das eigene Leben beenden zu dürfen.
Suizidhilfe ist hierzulande sogar bei Lebenssattheit möglich – vorausgesetzt, der Wunsch zu sterben wurde in freier Verantwortung und nach sorgfältiger Prüfung getroffen. Diese Besonderheit unterscheidet das deutsche System deutlich von anderen Ländern und stellt die Selbstbestimmung des Einzelnen in den Mittelpunkt.
Politische Debatte: Zwischen Regulierung und Lebensnähe
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt dem Staat, die Suizidhilfe gesetzlich zu regeln. Die Behauptung einiger Abgeordneter, es gebe einen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber, eine gesetzliche Regulierung zu schaffen, ist jedoch schlichtweg falsch. Künftige gesetzliche Vorgaben dürfen das individuelle Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht so stark einschränken, dass es faktisch nicht mehr wahrgenommen werden kann. Anders gesagt: Auch mit Regeln muss der Zugang zur Suizidhilfe realistisch und praktikabel bleiben. Kritiker befürchten einen "Dammbruch" und sehen vulnerable Gruppen wie ältere, behinderte oder sozial benachteiligte Menschen unter moralischen Druck geraten, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Eine gesetzliche Regulierung soll ihrer Ansicht nach verhindern, dass sich gesellschaftliche Erwartungen zu einem stillen Zwang entwickeln. Im Bundestag wurden daraufhin mehrere Gesetzentwürfe eingebracht. Besonders umstritten war der Vorschlag des SPD-Abgeordneten Lars Castellucci. Er sah vor, dass Sterbewillige zwei psychiatrische Gutachten in zeitlichem Abstand vorlegen müssen, um Zugang zur Freitodhilfe zu erhalten.
Angelika Salzburg-Reige äußerte hierzu deutliche Kritik. Sie bezeichnete den Entwurf als "lebensfern" und warnte vor den praktischen Folgen: "Schon heute ist psychologische Hilfe für Hilfesuchende kaum verfügbar. Für Schwerstkranke bedeutet dies einen hohen Zeitaufwand – Zeit, die am Lebensende fehlt und den Zugang zur Freitodhilfe für viele unmöglich macht."
So dachte auch Käthe Nebel – eine enge Freundin von Angelika Salzburg-Reige und engagierte Sterbehilfeaktivistin, die inzwischen selbstbestimmt aus dem Leben geschieden ist. Sie unterstützte die Klage gegen Paragraph 217 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht und zeigte sich empört darüber, dass neue politische Vorstöße erneut den Zugang zur Freitodhilfe erschweren sollten. Es entstand die Idee, den Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg zu gründen.
Bundestagsabstimmung: Kein Konsens, aber auch kein Rückschritt
Dass 2023 keine gesetzliche Einschränkung beschlossen wurde, sahen viele im Arbeitskreis mit Erleichterung. Die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit bleibt vorerst unangetastet – und die Verantwortung liegt weiterhin beim Einzelnen, nicht bei staatlichen Kontrollinstanzen.
Gleichzeitig weisen manche Stimmen auf eine juristische Unsicherheit in der Praxis hin – insbesondere für Ärztinnen und Ärzte. Viele Mediziner sind grundsätzlich bereit, Freitodhilfe zu leisten, äußern jedoch Bedenken hinsichtlich möglicher rechtlicher Konsequenzen. Eine gesetzliche Klarstellung könnte aus ihrer Sicht dringend benötigte Rechtssicherheit schaffen.
Angelika Salzburg-Reige wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass neue Initiativen im Bundestag bereits in Vorbereitung sind. Sie rief die Zuhörer zur Wachsamkeit auf: Es gelte, einer unnötigen Bürokratisierung und neuen Hürden entschieden entgegenzutreten.
Käthe Nebel – ein selbstbestimmter Abschied
Mit zunehmendem Alter spürte Käthe Nebel eine wachsende Lebensmüdigkeit. Unter anderem verschlechterte sich ihre Sehkraft massiv durch eine Makuladegeneration. Sie lernte noch in hohem Alter den Umgang mit einem speziell für blinde Menschen konzipierten Computer. Doch mit der fortschreitenden Erblindung war das Surfen im Internet auch damit nicht mehr möglich. Zudem wurde ihr klar, dass ein eigenständiges Leben im eigenen Haus aufgrund ihrer zunehmenden Einschränkungen langfristig nicht mehr möglich sein würde. Ein Leben im Pflegeheim kam für sie nicht infrage. Sie begann für sich über Sterbehilfe nachzudenken und wandte sich an ihre Freundin Angelika Salzburg-Reige. Beide Frauen tauschten sich intensiv aus. Nebel konnte ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen – Salzburg-Reige unterstützte sie zunehmend und übernahm schließlich auch die Pflege.
Käthe Nebel stellte 2023 einen Antrag auf Freitodhilfe bei der Sterbehilfeorganisation DIGNITAS Deutschland, bei der sie langjähriges Mitglied war. Angelika Salzburg-Reige begleitete sie durch den gesamten Prozess.
Die Zusage von DIGNITAS Deutschland, dass Nebel Freitodhilfe erhalten könne, löste bei ihr neue Zuversicht aus. Sie feierte ihren Geburtstag 2023 mit vielen Gästen, fuhr mit Freunden in einen kleinen Urlaub an die Nordsee, engagierte sich weiterhin im Arbeitskreis und reiste mit Mitstreitern nach Leipzig, um für die Freigabe des Sterbehilfemittels Natrium-Pentobarbital für den an ALS erkrankten Harald Mayer zu demonstrieren (der hpd berichtete).
In ihrem Vortrag schilderte Angelika Salzburg-Reige die einzelnen Schritte: von der Antragstellung bis zur Freitodbegleitung, die Kommunikation mit DIGNITAS, den Anruf bei der Polizei zur Mitteilung eines durchgeführten Freitods und die Zeit danach – offen, sachlich und berührend.
Offen sprach sprach Käthe Nebel mit ihren Freunden und den Aktiven im Arbeitskreis über ihren Freitodwunsch. Sie legte den Termin auf den 20. Juli 2024 und lud ihre Wegbegleiter ein, dabei zu sein. An ihrem letzten Tag kamen überraschend Gäste aus der Ferne – Menschen, mit denen sie einst in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv war. Diese hatten von ihrem geplanten Suizid gehört und wollten sich verabschieden.
Ihr Freitod zeigte, dass Abschied nicht zwangsläufig mit verzweifelter Trauer verbunden sein muss. Er kann auch ein liebevolles Loslassen sein – mit schönen Gesprächen, geteilten Erinnerungen und einem Lächeln am Ende des Lebens. Wenige Stunden vor ihrem selbstbestimmten Ableben rezitierte sie noch Gedichte und sang das Lied "Hoch auf dem gelben Wagen".
Käthe Nebels Weg steht für Selbstbestimmung, Mut und Klarheit – auch im Angesicht des Abschieds. Ihr Engagement hat Spuren hinterlassen: im Arbeitskreis, in vielen persönlichen Gesprächen, in der politischen Debatte und vor allem in den Herzen der Menschen, die sie begleitet hat – und die sie begleitet haben.
Es war ihr ein Anliegen, dass die Informationen über die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Freitods möglichst viele Menschen erreichen. Angelika hatte ihr dieses Versprechen gegeben – und unter anderem am 27. September in Ahlhorn mit ihrem Vortrag eingelöst.






