Unerträglich leidenden Patienten, denen keine lindernde Therapie mehr helfen kann, ist höchstinstanzlich ein neuer möglicher Weg zum Suizid eröffnet worden. Im O-Ton berichtet das heute journal des ZDF vom 3. März dazu: "Schwerkranke haben in extremen Ausnahmefällen das Recht auf tödliche Medikamente. Dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gestern hat heftige Reaktionen ausgelöst. Während der Humanistische Verband das Urteil begrüßte, übte Bundesgesundheitsminister Gröhe Kritik. Staatliche Behörden dürften nicht zum Handlanger der Beihilfe zur Selbsttötung werden. Ähnlich äußerten sich die Katholischen Bischöfe und medizinische Verbände. Diese verwiesen auf Fortschritte bei der Palliativmedizin."
Empörte Kritik von Kirche, (Palliativ-)Medizin und Staat
Auf ein Mittel wie Natrium-Pentobarbital (NaP), welches oral eingenommen zu einem schnellen und sanften Tod führt, müsste dann beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein Antrag gestellt werden können. Das dürfte ein sehr schwieriger Weg sein. Aber für die Kritiker ist allein die Vorstellungen absurd: "Man muss sich doch die Frage stellen, ob das Bundesverwaltungsgericht tatsächlich die wirklich grundlegenden Diskussionen im Bundestag wie auch die entsprechenden Beschlüsse zur Sterbebegleitung wahrgenommen hat", bescheinigte der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Frank Ulrich Montgomery, den Richtern des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes "Ahnungslosigkeit". Und der Vorsitzende der Deutschen PalliativStiftung, Thomas Sitte, bestätigte: "Solch ein Urteil können nur Richter fällen, die kaum Kenntnisse von den enormen Fortschritten der Palliativmedizin in den letzten Jahren haben …".
Nach Einschätzung der Deutschen Stiftung Patientenschutz ist das Urteil "ein Schlag ins Gesicht der Suizidprävention". Leiden sei weder objektiv messbar noch juristisch allgemeingültig zu definieren, sagte Vorstand Eugen Brysch. Doch hätten die Richter den Staat nun"de facto verpflichtet, Sterbehilfe für Patienten zu organisieren" und diese Bewertung vorzunehmen. Er frage sich "wie das organisiert werden soll" – ob künftig ein Verwaltungsbeamter entscheiden soll, ob ein sterbewilliger Patient so ein extremer Einzelfall sei, den das Gericht angenommen hatte.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und der Deutsche Hospiz- und Palliativ-Verband (DHPV) lehnen das Urteil ab. Ärzte werden laut DGP zwar immer wieder mit Sterbewünschen ihrer Patienten konfrontiert. Doch stehe in der Regel der Wunsch "nach alternativen Angeboten und nach einem gemeinsamen Aushalten der bedrückenden Situation" dahinter. Statt einen Zugang zu Mitteln für eine Selbsttötung zu gewähren, müsse vielmehr die palliativmedizinische Versorgung ausgebaut werden.
Die Phalanx der Suizidhilfegegner behauptet, das Urteil würde Bemühungen konterkarieren, die Sterbebegleitung durch Palliativmedizin und Hospizarbeit zu verbessern. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und die Deutsche Bischofskonferenz geben ihrer großen Sorge Ausdruck, wenn staatliche Behörden "zum Handlanger der Beihilfe zur Selbsttötung werden", so Gröhe. Und die katholischen Bischöfe ergänzten: "Damit muss eine Behörde ein Werturteil über die Zumutbarkeit des Lebens abgeben, das ihr bisher aus guten Gründen verwehrt ist."
Widerspruch und Argumente von Humanisten
Dem widerspricht entschieden Erwin Kress, Vizepräsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, der den Richterspruch begrüßt. Das Urteil über die Zumutbarkeit des Lebens müsse nach Ansicht von Kress doch keineswegs eine Behörde oder der Gesetzgeber fällen. "Das steht einzig dem Patienten zu. Der Gesetzgeber hat nur Regeln aufzustellen, wie sich eine freie und autonome Entscheidung eines schwer und unheilbar Kranken feststellen lässt. Dafür gibt es Fachleute, insbesondere Ärzte. Und auch der Leidenszustand lässt sich feststellen. In der Palliativmedizin ist eine Schmerzskala mit den Stufen 1-10 ein gängiges Instrument, um unerträglichen Schmerz festzustellen."
Dass es sehr wohl Kriterien für unheilbares und unerträgliches Leiden gibt, dürfte unstrittig sein. Zumindest wird in der Palliativmedizin als Fakt angegeben, dass in einer gewissen Prozentzahl von Fällen auch sie keine Linderungsmöglichkeiten mehr bieten kann. Dann bliebe als Option nur noch eine sogenannte terminale Sedierung – wenn notwendig bis zur Bewusstlosigkeit. Die Palliativmedizin will schwerleidende Patienten in Sicherheit wiegen, dass ihnen im Notfall von Ärzten auch indirekte aktive Sterbehilfe gewährt wird – sie sollen aber nicht beim selbstverantwortlichen Suizid unterstützt werden. So beklagt auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin einen "Schritt in die falsche Richtung". Ihr Präsident, Prof. Lukas Radbruch, erklärte: "Die querschnittsgelähmte Patientin hätte jederzeit die Beendigung der künstlichen Beatmung – unter angemessener Sedierung zur Symptomkontrolle – einfordern und damit das Sterben zulassen können." (Anmerkung der Redaktion: Soweit der zugrundeliegende Fall der Frau K. bekannt, ist dieses bei ihr auch versucht worden, wobei ihr Körper aber mit Ansätze zu versuchter natürlicher Atmung reagiert habe, es hätte also schon einer aktiven Tötung bedurft hätte).
Der Humanistische Verband fordert neben der Zurücknahme des § 217 StGB ("Suizidhilfeverhinderungsgesetz") schon seit Jahren auch die Anpassungen des Betäubungsmittelrechts und die Zulassung von Natrium-Pentobarbital, um eine fachgerechte ärztliche Suizidhilfe zu gewährleisten. Ärzten muss es ermöglicht werden, ggf. – wie in der Schweiz oder in mehreren Bundesstaaten der USA – zur Selbsttötung geeignete Medikamente mit sicherer Wirkungsweise zu verschreiben.
Was das Leipziger Urteil eigentlich besagt
Auch Prof. Dieter Birnbacher, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), hält die gegenwärtige Rechtslage für im Grunde paradox: "Einerseits soll die ärztliche Unterstützung einer Selbsttötung, wenn sie im Einzelfall erfolgt, auch nach dem neuen Gesetz rechtlich unbedenklich sein. Andererseits ist aber in Deutschland verboten, dazu das unbestritten sicherste und effektivste Mittel zu nutzen."
Dem Urteil waren langjährige Prozesse bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorausgegangen waren. Der Rechtsphilosoph Prof. Reinhard Merkel hält – wie auch die Bundestagsabgeordnete Carola Reimann (SPD) - das nun erfolgte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts für "sehr vernünftig". Das Leipziger Gericht habe nicht gesagt, so Merkel, "der Staat müsse sich in irgendeinem Sinne an der Hilfe zum Suizid aktiv beteiligen. Es hat nur gesagt: … Der Staat darf den Arzt nicht mehr zwangsrechtlich blockieren. Die Entscheidung ist eine des Patienten. Und die Entscheidung zur Hilfe ist die Entscheidung eines Arztes oder einer dritten Person, die dem Patienten hilft. Da ist nichts vom Verwaltungsakt im Spiel. Lediglich entschieden wurde, dass der Staat das nicht mehr mit Zwangsmitteln blockieren darf." Die Behauptung von Brysch und anderen, der Staat sei – auch aufgrund des EGMR zu persönlichen Menschenrechten – verpflichtet, Möglichkeiten zum Suizid zu schaffen, würde demzufolge einer sorgfältigen Urteilsprüfung nicht standhalten
(Quellen u.v.a.: www.die-tagespost.de, www.apotheke-adhoc.de, www.dbk.de)
Im Internet Sturm der Entrüstung gegen „Lebensschützer“
Das Leipziger Urteil hat – bei relativer Harmlosigkeit für die Praxis – vor allem Symbolwert. Es ist dagegen keine Revision mehr möglich. Umso größer ist nun das Entsetzen bei Lebensschützern aller Couleur, zu denen sich auch die Hospiz- und Palliativfachverbände gesellen. Sie haben unisono gegen die Richter des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig empört reagiert. Allerdings haben sie damit ihrerseits einen Sturm der Entrüstung und auch der Beschimpfung gegen sich selbst entfacht. Die Kommentarfunktionen und Foren im Internet quellen über von E-Mails erboster Nutzer/innen. Dabei werden in unterschiedlichen Varianten Fragen aufgeworfen wie: "Wer kann uns vor diesen unbarmherzigen Lebensschützern schützen?" oder "Welche finanziellen Interessen stehen eigentlich dahinter – wer so gegen Suizidhilfe wettert, muss doch einen massiven Grund dafür haben …?"
Siehe:
http://www.spiegel.de/forum/panorama/urteil-leipzig-haben-deutsche-recht-auf-sterbehilfe
http://meta.tagesschau.de/kommentare/bverwg-im-extremfall-recht-auf-toedliche-medikamente
8 Kommentare
Kommentare
Stefan Dewald am Permanenter Link
Bei mir heißt der §217 StGB nur noch Krepierzwang-Paragraph. Postfacktisch kann ich auch.
valtental am Permanenter Link
Früher hatten Christen kein Problem damit, Menschen, die nicht ihr Weltbild teilten, per Henker vorzeitig den Tod zu bringen. Heute wollen sie solchen den Tod verwehren. Diese Ideologie ist einfach nur bizarr.
Horst Groschopp am Permanenter Link
"Patientenschützer" – das Wort verdreht die Tatsachen – schützen nur ihre eigenen ideologischen Vorstellungen davon, wie andere Menschen zu leben und zu sterben haben, von möglichen Profiten bei "lebens
Noncredist am Permanenter Link
Lebensschützer?
Gibt es auch einen Schutz vor dem Zwang des leidvollen Weiterlebens? Und existiert einzig und allein nur die Form der palliativen Versorgung? Wer setzt den moralischen Wert der palliative Begleitung fest? Doch nicht die Kirche. Oder der Staat. Oder doch?
Wenn der Staat selbst nicht bestimmen darf/kann, ob Leid oder Unleid an der Person ist, dann soll die Person selbst entscheiden. Punkt.
Das selbe gilt doch auch für die Religion, oder? Wenn der Staat selbst nicht bestimmen kann/darf, welche Religion für den Menschen "die richtige" sei, dann soll dies der Mensch selbst entscheiden.
Es ist erbärmlich zuzusehen, wie man dem Menschen einerseits Freiheiten lassen möchte, inklusive dem Angebot zur Verwirklichung. Andererseits jedoch bei bestimmten Entscheidungen (frei nach dem eigenen Moralkompass) die Freiheit und die Angebote einschränken möchte, ohne jedoch das ganze durchdacht und ausbalanciert zu haben.
Dabei zeigen doch andere Gesellschaften klar und deutlich, was man zu erwarten hätte. In welchem demokratischen Land mit erlaubter Sterbehilfe findet man einen gesellschaftlichen bzw. gesetzlichen Zwang zum Sterben? ;)
Klaus Bernd am Permanenter Link
Da greifen Sie eine typische Argumentationsfigur der Theologen und Kleriker auf.
Föderation des ... am Permanenter Link
Wenn Grundrechte und Menschenwürde zutreffend ausgelegt werden, dann beinhaltet das auch ein Grundrecht, zu sterben und das eigene Sterben zu gestalten:
zusammen:
1. Das Recht, zu bestimmen, wann man von dieser Welt genug hat.
2. Das Recht, zu bestimmen, wie man geht.
3. Das Recht, zu bestimmen, wo man geht.
4. Das Recht, dies ohne jede Rechtfertigung zu bestimmen.
Einschränkungen dieses Rechts bedürfen schon gravierender Gründe: Z. B. könnte man die verfügbaren Suizidmethoden einschränken zur Verhinderung von nicht vollständig selbstbestimmten Spontansuiziden - der Staat kann insofern aber auch nur Regelungen treffen, die verhältnismäßig sind, d. h. wenn irgendwie vernünftig möglich ist die weitestgehend freie Ausübung der Selbstbestimmung zu gewährleisten. Wenn der Gesetzgeber das nicht begreift, wird er immer nur Stückwerk liefern können, dass dann wieder gegen die Menschenrechte oder gar die Menschenwürde verstößt.
Die Gegener der Gerichtsentscheidung offenbaren zum Teil in erschreckender Weise, dass sie von Selbstbestimmung und Freiheit nichts begriffen haben. Es geht um einen Kernbereich der Selbstbestimmung, über den nicht die Masse herrschen kann.
Föderation des ... am Permanenter Link
Im Artikel heißt es:
Es werden immer wieder Fälle bekannt, in denen davon berichtet wird, dass Linderung der Athemnot eben nicht mit „keine Athemnot“ gleichzusetzen ist. Suizid ist eine Ausübung der Selbstbestimmung, die nicht vom Zufall abhängen darf, ob jemand medizinisch in der Lage ist, Suizid durch Ersticken zu begehen, wie es Prof. Lukas Radbruch implizit fordert.
Im Grunde sind die Palliativmediziner und die Hospize beleidigt, wenn man den Bettlägrigkeitstod bzw. die damit verbundene Abhängigkeit von vornherein ablehnt: Die Beurteilung und Selbstbestimmung ist Sache des Bürgers, nicht des Arztes. Der Arzt ist dem Patienten verpflichtet, seinem Willen und niemandes Willen sonst.
Harald Freunbichler am Permanenter Link
Diese Verlogenheit ist unerträglich: ""Damit muss eine Behörde ein Werturteil über die Zumutbarkeit des Lebens abgeben, das ihr bisher aus guten Gründen verwehrt ist."
Als wäre das Verwehren des gewünschten Schirlingsbechers ergebnisoffen!
(Abgesehen davon, dass, wie schon erwähnt, diese Entscheidung nicht von der Behörde getroffen wird, sondern vom Sterbewilligen bereits gefällt wurde.)