Interview

Der Wolf zeigt sich, wenn man unter den Schafspelz schaut

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Jürgen Beetz
Jürgen Beetz

Wenn es bei den derzeitigen Umfrageergebnissen bleibt, wird die Alternative für Deutschland (AfD) im Herbst in den Bundestag einziehen. Doch für welche Inhalte steht diese Partei? Während führende Repräsentanten wie Björn Höcke mit dem Vokabular des rechten Randes hantieren, kommt das Grundsatzprogramm der Partei "weichgespült" daher. Doch es lohnt sich, genauer hinzusehen, meint der Wissenschaftsautor Jürgen Beetz und hat den Text einer sprachkritischen Analyse unterzogen. Martin Bauer sprach mit ihm über sein neues Buch "Auffällig feines Deutsch", das verborgenen Schlüsselwörter des Parteiprogramms unter die Lupe nimmt.

hpd: Eigentlich gibt es doch schon genug Bücher über die AfD – was weiß ich denn, wenn ich Ihr Buch gelesen habe, was ich bislang vielleicht noch nicht mitbekommen habe?

Jürgen Beetz: Faktenwissen ist nicht das Thema des Buches, sondern Sprachgefühl. Das Gespür dafür zu entwickeln oder zu schärfen, was Politiker unterschwellig sagen oder auch nicht sagen. Was Leser hier "lernen" – in Anführungsstrichen – ist, im allgemeinen Sprachgeplätscher genau hinzuhören. Deswegen trifft auch der geäußerte Vorwurf, ich sei kein studierter Linguist, sondern Ingenieur, voll daneben. Jeder Zuhörer kann die verborgen mitschwingenden Inhalte erfassen, wenn er aufmerksam – oder sollte ich "achtsam" sagen? – hinhört. Und das nicht nur bei dieser Partei, sondern bei allen Äußerungen. Wenn ich im letzten Satz statt des so genannten generischen Maskulinums präziser formuliert hätte "Jeder Zuhörer oder jede Zuhörerin" und so weiter, dann hätte das auch eine andere Färbung gehabt. So entstehen die frames, die Deutungsrahmen.

Nach welcher Methode sind Sie dabei vorgegangen?

"Methode" ist natürlich nicht im streng naturwissenschaftlichen Sinn zu verstehen, da sie auf durchaus subjektiven Spracherfahrungen beruht. Es ist eine bestimme Sicht auf die Sprache, die nicht auf die vordergründige Wortbedeutung achtet, sondern auf die hintergründig mit transportierten Deutungsrahmen. In der Sozialpsychologie nennt man es auch priming, das "Grundieren". Ich nenne es etwas flapsig den "Bedeutungsrucksack", in dem die verborgenen Zusammenhänge mitgeschleppt werden.

Könnten Sie einen solchen "Bedeutungsrucksack" vielleicht anhand eines Beispiels anschaulich machen?

Das wird einem sofort klar, wenn an die Euphemismen betrachtet, mit denen Politiker und Wirtschaftsunternehmen arbeiten. Die Müllhalde wird zum Entsorgungspark, der Rückgang zum Negativwachstum, der Angriff zur Vorwärtsverteidigung. Das machen sie ja nicht umsonst. Im Rucksack stecken wie in einer Wundertüte positiv besetzte Begriffe: Park, Wachstum und Verteidigung. Sie setzen den Rahmen für die Deutung, sie "grundieren" das Denken mit einer sprachlichen Farbschicht. Es soll harmlos klingen. Umgekehrt funktioniert es genauso: Wenn also die Flüchtlingswelle nach Europa schwappt, wir von der Asylantenflut überrollt werden, dann steckt im Rucksack die Verknüpfung mit bedrohlichen Naturereignissen. Das schafft die ängstliche Stimmung, die Rechtspopulisten erzeugen wollen.

Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch auf das Grundsatzprogramm der Partei; der Klappentext nennt es einen "Wolf im Schafspelz" – was genau ist damit gemeint?

In einem geschriebenen und gedruckten Programm, noch dazu von mehreren Autoren, werden radikale Formulierungen natürlich ausgemerzt. Die offen rassistischen, volksverhetzenden und revisionistischen Vokabeln mancher Redner der AfD tauchen hier nicht auf. Das ist der Schafspelz. Aber der Wolf zeigt sich eben, wenn man in den Bedeutungsrucksack blickt. Dort steckt die eigentliche Aussage, die eigentlich transportierte Bedeutung der weichgespülten Begriffe. Sie sind nicht entfernt so harmlos, wie sie sich geben. Nehmen wir "die politische Klasse", die die AfD diffamiert. Sie wird als bedrohliches Gebilde dargestellt, das sich gegen "das Volk" wendet.

Sie verdeutlichen Ihre Sprachkritik anhand von zwei Dutzend Beispielwörtern, Bei einem Begriff wie "Masseneinwanderung" klingelt es wohl bei den meisten, aber wo liegt das Problem bei Wörtern wie "ideologisch", "Islam" oder "fordern"?

Nach Prof. Hartmut Heuermann sind Ideologien "Weltdeutungssysteme, die darauf abzielen, die Welt, die Natur, die Geschichte, die Gesellschaft so zu deuten, dass die Deutungen den Machtinteressen der Deutenden dienen". Gegen dieses vermeintliche Machtmonopol der Herrschenden, der "etablierten Politik", ganz allgemein der "anderen", die nicht "das Volk" sind, wendet sich die AfD, anstatt in demokratischer Mitwirkung Lösungsmöglichkeiten für politische Probleme anzubieten. Dieser Vorwurf, mit dem sich die Partei in eine komfortable Opferrolle manövriert, zieht sich durch das gesamte Parteiprogramm, um die Schar der "Abgehängten" hinter sich zu sammeln. Jede politische Weltsicht, die nicht der ihren entspricht, wird mit dem Stempel "ideologisch" abqualifiziert. Deswegen "fordert" sie auch ständig, insgesamt 28 mal. Dahinter (also im Rucksack) steckt ihre Weigerung oder ihr Unvermögen.

Woraus erfahren wir denn mehr über die zu erwartende Politik der AfD – aus den Aussagen des Grundsatzprogramms oder aus seiner Sprache?

Beides. Denn die Aussagen sind ja oft klar und deutlich, zum Beispiel im Kapitel 12.1 "Klimaschutzpolitik: Irrweg beenden". Haarsträubend dumme, weil uninformierte Behauptungen. Prof. Harald Lesch hat den Unsinn in einem YouTube-Video auseinander genommen. Ist ja klar, dass Nationalisten den Klimawandel leugnen, weil er eines der vielen Probleme ist, die sich durch Abschottung nicht lösen lassen. Wenn sich Inhalte aber im Schafspelz verbergen, ist es lehrreich, hinter die sprachlichen Kulissen zu blicken. Also in den Bedeutungsrucksack. Wenn die AfD über "Frühsexualisierung" räsoniert, ist er prall gefüllt mit Angst erregenden Gefühlen, die das Wort hervorruft. "Sexualisierung" impliziert, dass man jemanden gegen seine Willen zu solchen Handlungen gezwungen wird. "Früh" lässt uns an die Schutzbedürftigkeit der Kinder denken. "Kinderpornographie" ist die nächste Assoziation. Es schwingt der Missbrauch von Kindern mit.

Sie behaupten ja, Sie würden im Buch ihre persönliche Meinung zurückhalten. Das ist natürlich ein Trick, denn durch die Auswahl der passenden Zitate wird Ihr Standpunkt ja klar. Schlägt Ihr Herz links?

Anatomisch gesehen stimmt das sowieso. Und zum Thema "Standpunkt" sagte der Mathematiker David Hilbert: "Ein Standpunkt ist ein Gesichtskreis mit dem Radius null." Und das ist mein Dilemma, das ich im Buch auch offen zugebe: Ich sympathisiere je nach Problem mit den Konzepten der unterschiedlichsten Parteien, von ganz links bis ganz rechts. Wobei – auch das steht im Buch – dies sehr unscharfe Kategorien für eine innere Einstellung sind.

Welche ganz rechte Position teilen Sie?

Ich fordere eine Obergrenze (lacht). Wenn jedes Jahr die ca. 40 Millionen Wohnungen in Deutschland einen oder zwei Flüchtlinge aufnehmen, ist die Obergrenze erreicht.

Das könnte auch Martin Sonneborn gesagt haben.

Sehen Sie! Wie unsinnig die Diskussionen um solche Schlagwörter sind. Nicht umsonst heißen sie ja so. Sie sind inhaltsleere Schaumstoffkeulen, die man sich öffentlichkeitswirksam um die Ohren haut. Worum man konkret streitet, bleibt verborgen.

Glauben Sie, mit Ihren Argumenten AfD-Anhänger überzeugen oder gar bekehren zu können?

Ich habe ja geschrieben: "Wenige reagieren positiv, wenn man ihnen einen Denk bzw. Logikfehler nachweist (auch ich fühle mich dabei nicht glücklich)." Das gilt auch für jede Weltsicht. Ich sähe es gerne, wenn man zuhören, nachdenken und abwägen könnte, bevor man eine eigene Meinung heraussprudelt. Ich habe es versucht – und sogar Positives im AfD-Programm entdeckt.

Cover

Am Wochenende hat die AfD auf einem Parteitag ihr Programm für die Bundestagswahl verabschiedet. Unterscheidet sich dieses wesentlich vom Grundsatzprogramm?

Ja, der Parteitag fing schon gut an. Jörg Meuthen ist Universitätsprofessor, und man würde eigentlich Intelligenz und Bildung bei ihm vermuten. Er bezeichnete die Vertreter "aller etablierten Parteien" unter dem Gegröle der Delegierten als "diese Figuren". Was steckt in dem Bedeutungsrucksack? Diese herablassende Bezeichnung degradiert sie von Mitmenschen zu bloßen Gegenständen, die man herumschieben kann wie beim Schach. Damit werden sie zu Marionetten der "herrschenden Klasse". Also, das ist schon intelligent: die gezielte Herabwürdigung von politisch Andersdenkenden. Es schafft ein schönes Feindbild: "wir", die Guten, gegen "die anderen". Ein anständiger Umgangston gehört wahrscheinlich zur "politischen Korrektheit", die die AfD ja vehement ablehnt.

Und das neue Wahlprogramm …

… zeigt wieder, wie eine nationalistisch verzerrte Weltsicht den Blick auf die Realität trüben kann. Nachdem Frauke Petry mit ihrem Versuch, die rechten Spitzen zu zähmen, gescheitert ist, werden die Formulierungen immer radikaler – im Sinne von Jörg Meuthen. Ein sprachliches Bonbon ist die geforderte "Minuszuwanderung". Ein Euphemismus wie das erwähnte Negativwachstum. Gemeint ist: "Schmeißt sie raus, die Asylanten!" Auch der Titel des ersten Kapitels "Wiederherstellung der Demokratie" ist verräterisch – die Behauptung, Deutschland wäre keine Demokratie. Ich dachte, das glauben nur Wirrköpfe wie die "Reichsbürger".

Die AfD steht "Für ein klares Familienbild" und ist gegen "Propagandaaktionen wie den 'Equal Pay Day'". Aha! Die Frau gehört an den Herd und soll Kinder kriegen, "damit Deutschland sich nicht abschafft!" Das ist das "Staatsziel des Erhalts unseres Staatsvolks". Und, wenn sie schon arbeiten möchte, dann soll sie wenigstens weniger verdienen, wie bisher. Weiter geht’s: "Kohlenstoffdioxid (CO2) ist kein Schadstoff, sondern eine unverzichtbare Voraussetzung für alles Leben", wie schon im Grundsatzprogramm. Es ist inzwischen zum "Spurengas" mutiert, kommt also praktisch nicht vor und hat sich schon gar nicht in seiner Konzentration in der Atmosphäre verdoppelt. Während die Gletscher wegschmelzen und die Permafrostböden auftauen, will die AfD "Das Pariser Klimaabkommen vom 12.12.2015 kündigen. Deutschland soll aus allen staatlichen und privaten »Klimaschutz«-Organisationen austreten und ihnen jede Unterstützung entziehen." Spätestens an dieser Stelle wendet sich doch jeder einigermaßen an der Realität orientierte Wähler ab.

Aber vielleicht wartet er ja auf den letzten Knüller im Wahlprogramm, den man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen muss: "Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst."

Danke für das Gespräch.

Jürgen Beetz: Auffällig feines Deutsch. Verborgene Schlüsselwörter eines Parteiprogramms. Aschaffenburg 2016, Alibri Verlag, 145 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-230-6, 10,00 Euro

Siehe auch die Rezension zum Buch im hpd.