BERLIN. (hpd) Gestern Nacht wurde die Welt von einem Putschversuch in der Türkei aufgeschreckt. Teile des Militärs sperrten in Istanbul die Bosporus-Brücken und besetzten den Atatürk-Flughafen. Gegen 23 Uhr meldeten sie über den ebenfalls besetzten staatlichen Fernsehsender TRT, die Macht übernommen zu haben.
Allerdings meldete sich gegen 0:00 Uhr Erdogan und forderte mit Hilfe der Mullahs die Bevölkerung auf, sich gegen den Putsch zu stellen. Das geschah auch: trotz der von den Putschisten ausgerufenen Ausgangssperre gingen Tausende auf die Straße und stellten sich den Soldaten entgegen.
Die blutige Bilanz der Nacht: Die Rede ist momentan von 265 Toten. Es sollen rund 1.500 Militärangehörige verhaftet worden sein.
Hamed Abdel-Samad kommentierte auf Facebook:
Das Negative an den Ereignissen von gestern in der Türkei (neben der Todesopfer) war, dass Erdogan sich mehr auf den Volkszorn verließ als auf die demokratischen Institutionen. Seine Anhänger enttäuschten ihn nicht und riefen seinen Namen gefolgt von "allahu akbar"-Rufen auf der Straße. Das Positive jedoch war, dass die Opposition, die Zivilgesellschaft und selbst die pro-kurdische HDP sich klar auf die Seite der institutionellen Demokratie stellten. Und genau diese Zivilgesellschaft ist meine Hoffnung für die Türkei, denn sie ist viel weiter als Erdogan, seine Regierung und die Armee! Und genau das macht den Unterschied zwischen der Türkei und anderen arabischen Staaten in der Region.
In seiner Stellungnahme am Flughafen sprach Erdogan nur noch von harten Maßnahmen gegen die Putschisten und von Säuberung der Armee, als kämen die Ereignisse gerade nach seinem Wunsch, um seine Macht auszubauen und alle seiner Gegner auf einen Schlag los zu werden. Und mit keinem Wort würdigte er diese Zivilgesellschaft und die Opposition.
Nun liegt es an ihm, ob er sich weiterhin auf die Allahu-Akbar-Rufe verlässt, um seine Macht zu festigen oder zurück zum Geist der Demokratie geht, der viel mehr als Wahlen und Mehrheiten beinhaltet. Es liegt an ihm, ob er die Hand zu der Opposition und auch zu den Kurden ausstreckt und die Hetze gegen sie beendet, um die Einheit des Landes zu bewahren, oder er spielt weiterhin den paranoiden Sultan und vertieft damit die Spaltung im Lande!
So oder so, die Zukunft der Türkei hängt nicht mehr alleine von Erdogan ab, denn die Türken insgesamt sind viel weiter als er, und das ist die gute Nachricht!
Auch die Politikerin Lale Akgün meldete sich heute Vormittag via Facebook. Sie hält es für möglich, dass die AKP-Regierung den Putsch selbst initiierte.
Ich bin mit militärischen Gegebenheiten nicht besonders vertraut, aber der "Ablauf"dieses Militärputsches erscheint sehr seltsam. Die Militärs besetzen den unwichtigen Staatssender TRT, während alle AKP-POLITIKER, einschließlich Erdogan, auf den privaten Sendern Interviews geben. Erdogan ist sechs Tage weg und taucht dann auf, macht ein Interview aus seinem Versteck und fordert alle auf, auf die Straße zu gehen, was seine Anhänger auch sofort befolgen. Dazu die stark religiöse Komponente des "Widerstands". Um 22.00 Uhr wird geputscht, um 1.00 Uhr ist die demokratische Ordnung wieder hergestellt. Wenn ich eins+eins zusammen zähle, komme ich nicht umhin, denen Recht zu geben, die schon um 23.00 Uhr des 15. Juli von einer "Inszenierung" der Regierung sprachen.
Die Gründe liegen auf der Hand:
1. Die Zivildiktatur voran treiben.
2. Die immer stärker werdende Kritik aus dem Ausland zum Schweigen bringen.
3. Eine Säuberungsaktion beim Militär durchführen, um die verbliebenen Gülen Anhänger zu eliminieren. Diese Säuberungsaktion wird auch die Justiz und die Polizei betreffen.Ich nehme an, Erdogan wird in den nächsten Stunden als strahlender Held in Istanbul ankommen, gestärkt wie nie zuvor. (Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, Istanbul wieder zur Hauptstadt zu erklären? Das Parlamentsgebäude in Ankara ist wohl auch angegriffen worden.)
Die Opfer der gestrigen Nacht nennt man wohl menschenverachtend und zynisch "Kollateralschaden". Wie schade um die jungen Menschen, die man verführt hat, gestern Nacht "Militärputsch" zu spielen. Meine Gedanken sind bei den Demokraten in der Türkei. Nach der Machtdemonstration des sunnitischen Islam gestern Nacht, ganz besonders bei den alevitischen Bürgerinnen und Bürgern. Auf sie warten ganz besonders schwere Zeiten.
P.S im Moment bekommen alle Bürgerinnen und Bürger eine SMS von Erdogan auf ihre Mobiltelefone, mit dem Inhalt, daß der Putschversuch niedergeschlagen worden ist.
Eine Chronologie der nächtlichen Ereignisse bietet unter anderem auch der Twitter-Account "@hpdticker".
8 Kommentare
Kommentare
Dieter Bauer am Permanenter Link
Kann es wohl sein, dass machtbesessene Despoten sich missbräuchlich der "Wunderwaffe Religion" bedienen, um die "fantasieglaubenswilligen Massen" als Gefolgsleute bei der Stange zu halten zwecks Ei
pavlovic am Permanenter Link
Ich halte diesen Putsch auch für inszeniert. Kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Hauptjob - Erdogan festzusetzen - von Aufständischen so vernachlässigt worden sein kann.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Eigentlich sollte mein Kommentar hier ein schwarzes Blatt Papier sein.
Ich bin todtraurig über die verletzte Demokratie in der Türkei.
Ein "Putsch" mit ca. 5 Panzern und 2 Kampfjets?
Nein, ein "Geschenk Gottes" - allahu akbar.
1000e verhaftet, fast 3000 Richter abgesetzt.
Der eigentliche Putsch findet erst jetzt statt.
Wolfgang am Permanenter Link
Von Politikern und Theologen
werden wir stets betrogen.
"In der Zukunft wird alles besser",
selbst benutzen sie heute goldene Gabeln, goldene Messer,
Sie wissen, sie leben nur einmal!
Politiker und Theologen gehören zu den begabtesten Schauspielern. Amen.
philon07 am Permanenter Link
"Und genau diese Zivilgesellschaft ist meine Hoffnung für die Türkei, denn sie ist viel weiter als Erdogan, seine Regierung und die Armee!"(Hamed Abdel-Samad) DIE Zivilgesellschaft gibt es nicht, schon gar
Thomas Göring am Permanenter Link
Klar: "Eine solche Türkei passt nicht zu Europa." Und außerdem dürfte eine neo-osmanisch aufgehetzte Türkei einem chronisch kriselnden & schwächelnden Europa sicherlich noch ernste Schwierigkeiten bereit
MGS am Permanenter Link
Abdel-Samads Statement liegen zwei Behauptungen zugrunde.
1.) dass ein Eingreifen des Militärs per sé inopportun sei
2.) dass Menschen, die auf die Straße gehen, "das Volk" repräsentieren würden.
Beides halte ich - gerade in Bezug auf die Türkei und die aktuellen "Vorkommnisse" - für falsch.
zu 1)
Das Militär immer gleich als bösen Buhmann anzusehen, ist ein merkwürdiger Reflex. Die Schreckensbilder der Militär-Juntas aus Mittel- und Südamerika vor Augen, vergessen wir, dass die ganz großen Schmutzfinger der Geschichte sehr wohl durch Wahlen an die Macht kamen.
Das Militär, als reale Macht in einem Staat, kann jedoch als Korrektiv eingreifen. Das ist per se weder Unrecht, oder illegitim, noch zwingend undemokratisch.
Natürlich ist ein solches militärisches Eingreifen ganz besonders streng zu bewerten und zu hinterfragen:
Ist die Situation soweit ins Undemokratische und Irrationale (Gottesstaat) fortgeschritten, dass ein Eingreifen unabdingbar ist?
Welche Aussicht besteht, sich zeitnah zurückzuziehen und wieder bessere demokratische Verhältnisse herzustellen?
zu 2)
Was die Bilder zeigten: ein aufgebrachter, männlicher Mob (die Parteizugehörigkeit war nicht zu erkennen) prügelte auf die sich ergebenden Soldaten ein. Viele von denen dachten (so sagten sie später), sie wären in einer Übung.
David am Permanenter Link
Ich schätze Herrn Samad sehr.
Ich fürchte, die Zukunft der Türkei wird leider sehr sehr häßlich.
Die wahrscheinlichste Erklärung des ganzen ist mMn: Erdogan hatte bereits im Vorfeld großangelegte Säuberungen geplant (daher die Liste), dieses Informationen sind durchgesickert und Teile des Militärs haben einen improvisierten Putsch unternommen, in der Annahme einer "letzten Chance".