Nathan Emery erforscht die gefiederte Intelligenz

Wenn Raben an einem Strang ziehen

Gefiederte Affen – "feathered apes" – nennt Nathan Emery gern die Einsteins unter den Vögeln: die Raben, Saatkrähen, Häher und Elstern, die, so entdeckt man Stück für Stück, alles das können, was man bisher nur Bonobo & Co. zutraute. Mit "Bird Brain", zuerst durch die Princeton University Press veröffentlicht, schrieb er ein packendes und konzises Kompendium der ornithologischen Kognitionsforschung der letzten 25 Jahre.

Eichelhäher beglücken ihre Auserwählte mit Futtergeschenken. Dabei behalten sie im Auge, was sie aß, und überreichen ihr nach Möglichkeit Leckerbissen, von denen sie mutmaßlich noch nicht genug hat. Mehlwürmer, wenn sie vorher Kiefernsamen futterte, oder umgekehrt. Dazu braucht das Hähermännchen immerhin ein episodisches Gedächtnis und eine Theory-of-Mind, eine Vorstellung darüber, was in ihrem Kopf wohl vorgehen könnte. Davon abgesehen hat die Geschichte natürlich eine anrührende Komponente, genauso wie die von den Krähen in Seattle, die immer von einem Mädchen gefüttert wurden und ihm dafür jedes Mal irgendeinen Gegenstand als Geschenk mitbrachten.

Aber es geht um mehr. Um nicht weniger als eine Korrektur der noch von Charles Darwin angenommenen Vorstellung, dass die Hominiden die einsame Spitze der evolutionären Entwicklung darstellten, eines Stammbaums der Arten, in dem Gehirngröße und mentale Fähigkeiten kontinuierlich zunähmen. Bis hin zu den, wie wir heute wissen, kulturfähigen Menschenaffen. Stattdessen wissen wir heute um erstaunliche Homologien.

Schon 1964 fiel Peter Marler auf, dass die Dachsammern in San Francisco je nach Bezirk in verschiedenen Dialekten trällern, und folgerte, dass der Vogelgesang auch kulturell tradiert werde. 1995 wurde erstmals eine Feldforschung durchgeführt, die sich dem räumlichen Gedächtnis von Zimtkolibris bei der Nahrungssuche widmete. Ab der Jahrtausendwende kam das Rad so richtig ins Rollen.

Vor allem Experimente eröffneten eine überraschende Erkenntnis nach der anderen. Manche sind geradezu umwerfend. Als Alex Kacelnik beobachtet, wie eine Neukaledonische Krähe sich einen Haken biegt, um an einen Fleischbrocken zu gelangen stellte man fest: "Nacktschnabelhäher können die Dominanzstellung eines unbekannten Individuums beurteilen. Dazu beobachten sie dessen Umgang mit anderen Artgenossen, mit denen sie selbst schon interagiert haben." So fasst es Nathan Emery in seinem Buch "Bird Brain" zusammen, das jetzt auf Deutsch vorliegt.

Glaubte man lange mit Chomsky, dass nur Menschen ihre Sprache rekursiv strukturieren – mit Haupt- und Nebensätzen etwa –, zeigten 2006 auch Stare eine gewisse Rekursivitätsfähigkeit in der Wahrnehmung von Tönen. Immer intensiver wurde auch der Aufbau der Vogelhirne untersucht. Nicht in deren verschiedenen Cortex-Regionen und im Thalamus laufen die Denkoperationen ab, wie bei den Primaten, sondern überwiegend in den Pallium-Regionen und im Hippocampus. Das Gehirn kann dabei bei einigen Vögeln eine Größe proportional der des Australopithecus erreichen. Allerdings gilt dies tendenziell nur für Singvögel, zu denen die Rabenvögel gehören, die Papageien und die Kolibris. Während Laufvögel zum Beispiel nicht gerade zu den mentalen Schwergewichtlern zählen.

Nathan Emery, in London ansässig, hatten es besonders die Raben und Krähen angetan. Mit Christopher Bird testete er sie 2009 sogar daraufhin, ob sie, wie in Äsops Fabel erzählt, nicht vielleicht wirklich auf die Idee kämen, ein Gefäß so lange mit Steinchen aufzufüllen, bis sie an einen begehrten darin schwimmenden Leckerbissen herankämen, den sie sonst nicht mit dem Schnabel erreichen würden. Sie taten es! Eine gewisse Vorstellung von Ursache und Wirkung gehört hier dazu.

2012 wurde entdeckt, dass neuronale Schaltkreise zur Gesichtserkennung bei Krähen die gleichen wie bei Primaten sind. 2014 wurde dokumentiert, wie "Trauerdrongos falschen Alarm schlagen, um Mundräuber abzuhalten. Dazu ahmen sie die jeweilige Vogelart exakt nach", so Nathan Emery. Das Pfeifen der Erdmännchen ahmen sie nach, damit die ihre Beute loslassen, über die sich die starähnlichen Vögel dann selbst hermachen.

Vögel können also auch täuschen. Aber trösten können sie auch. So trösten Raben den Verlierer bei einer Auseinandersetzung vor versammelter Truppe, indem sie ihn nach dem Kampf intensiv beschnäbeln. Ja, sogar zum Ziehen an einem gemeinsamen Strang sind Raben im Käfig gebracht worden, um ein Brettchen mit Futter durch Gitterstäbe an sich heranzuziehen, indem zwei jeweils am anderen Ende der Schnur zogen, die über das Brettchen gespannt war. Von Bonobos kennen wir solche Bilder, aber wer hätte das den Vögeln zugetraut?

Und dann: Selbst das Sozialleben der bescheidenen Heckenbraunelle unserer Vorgärten bescherte den Forschern nicht minder große Überraschungen und Parallelen zu den Bonobos. Heckenbraunellen leben in Polyandrie. Ist sich keiner der Männchen sicher, welches sein Nachwuchs ist, werden sich alle darum kümmern. Genau das erreicht die kleine Vogeldame damit.

Die meisten Erkenntnisse verdanken wir Laborversuchen, und die größte Herausforderung für die Wissenschaftler besteht zweifelsohne darin, einen Versuchsaufbau zu ersinnen, der die Fähigkeit der beforschten Vögel zur Geltung bringt. Ein Stück Zweifel bleibt immer, inwieweit viele Ergebnisse nicht durch Lernen zustande kommen anstatt durch vorausschauende, innovative Anwendung von Fähigkeiten auf eine neue Situation, die zunächst einmal im Gehirn durchgespielt wird. Denn das bedeutet Intelligenz.

Oder: Statt eine Theory-of-Mind zu haben, überlegen (ja, überlegen, das ja) die galanten Hähermännchen vielleicht auch nur, was sie selbst am liebsten hätten. Wahrscheinlich ist wie im wirklichen Leben eine Mischung von beidem wirksam. Statt Ich-Bewusstsein braucht es wohl nur ein Was-Wann-Wo-Gedächtnis und ein autonoetisches Bewusstsein, nämlich die Fähigkeit, sich an einen anderem Ort oder in einer anderen Zeit zu denken, woraufhin sich aber auch unser Ich-Bewusstsein jenseits aller sprachlichen und kulturellen Überformung genau genommen reduzieren lassen könnte. Man sieht, solche Zweifel bleiben auch bei der Erforschung der Primaten. Es sind dies methodische Zweifel.

Und trotzdem möchte man nach der Lektüre des Buches ausrufen: "Grundrechte für Raben, Saatkrähen, Elstern & Co!" Nötig haben dies die meisten von ihnen außer den einst gründlich verfolgten Raben freilich nicht. Sie sind hochadaptiv wie wir Menschen und überall. Um sie zu beobachten, muss man nicht einmal in den Zoo gehen. Es reicht das Vogelhäuschen vor dem Fenster.

P.S.: Nathan Emery konnte es noch nicht wissen. Denn Forscher des veterinärwissenschaftlichen Instituts Wien gaben es gestern erst bekannt: Keas, das sind Papageienvögel aus Neuseeland, können sogar lachen. Sie stoßen Laute aus, mit denen sie sich und ihre Artgenossen in Spiellaune bringen und die ansteckend wirken. Gleiches ist bisher nur von Hunden und Ratten, Menschenaffen und Menschen bekannt.

Dr. Nathan Emery: "Bird Brain. Vögel mit Köpfchen. Die Erforschung gefiederter Intelligenz", National Geografic, München 2017, 192 S. 30 Euro