5 Jahre Kölner Beschneidungsurteil

"Ich bin sicher, dass ein solcher Gewaltakt gegen Kinder vor unserem Grundgesetz auf Dauer keinen Bestand haben wird"

Am 7. Mai 2017 ist der fünfte Jahrestag des "Beschneidungsurteils", das vom Landgericht Köln im Jahr 2012 gefällt wurde. Über das Urteil und seine Folgen sprach hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg mit Strafrechtsprofessor Holm Putzke, der sich im Jahr 2008 mit einem Aufsatz als erster Rechtswissenschaftler in Deutschland mit der Thematik wissenschaftlich auseinandergesetzt hat und der wegen seiner Vorarbeiten als geistiger Vater des "Beschneidungsurteils" gilt.

hpd: Herr Professor Putzke, am 7. Mai vor fünf Jahren fällte das Kölner Landgericht das Beschneidungsurteil. Was genau wurde damals entschieden und warum schlugen die medialen Wellen nach diesem Urteil so hoch?

Putzke: Das Landgericht Köln hat im Jahr 2012 geurteilt, dass die religiös motivierte Vorhautamputation bei nicht einwilligungsfähigen Jungen rechtswidrig ist, weil dieser körperliche Eingriff nicht dem Kindeswohl dient. Das hat manchen Juden und Muslimen missfallen, weil sie einerseits glauben, dass der biblische Gott ihnen befohlen habe, Jungen die Vorhaut abzutrennen, und andererseits seinen himmlischen Zorn fürchten, wenn sie die geltenden und anerkannten Grund- und Menschenrechte von Kindern achten. Im Islam gibt es freilich gar kein Problem: In religiöser Hinsicht wäre es unproblematisch möglich, den Eingriff solange zu verschieben, bis die Betroffenen selber darüber eigenverantwortlich entscheiden können. Auch im Judentum gibt es eine Alternative zum blutigen Ritual der "Brit Mila", genannt "Brit Schalom", die auf eine Körperverletzung verzichtet. Sie wird weltweit zunehmend von aufgeklärten Juden praktiziert, nicht zuletzt weil sich immer mehr erwachsene Betroffene zu Wort melden, die unter den Folgen der Vorhautamputation und der Missachtung ihres Selbstbestimmungsrechts und der Verletzung ihrer genitalen Integrität leiden. Selbst in Israel verzichten immer mehr Familien darauf, ihre Säuglinge dem medizinisch fragwürdigen und alles andere als harmlosen Ritual der "Brit Mila" auszusetzen. Konstitutiv ist die "Brit Mila" für das Jüdischsein keineswegs.

Religiöse Vertreter brachten damals vor allem vor, dass ein Verbot der Knabenbeschneidung in Deutschland sie in der Ausübung ihrer Religion behindern und damit ihre Religionsfreiheit einschränken würde. Was sagen Sie dazu?

Jeder halbwegs gute Jurist, der sich einmal mit unserer Grundrechtsdogmatik beschäftigt hat, weiß, dass Religionsausübungsfreiheit niemals Eingriffe in Freiheitsgrundrechte rechtfertigen kann, die anderen Personen zustehen, schon gar keine Substanzverletzungen des menschlichen Körpers. Der gegenteiligen Behauptung liegt ein grundlegendes Missverständnis unserer Grundrechte und ihrer Reichweite zugrunde.

Die Politik reagierte ja umgehend auf das Beschneidungsurteil, indem sie ein neues Gesetz erließ: § 1631d BGB. Wie kam es dazu und was ist in diesem Gesetz geregelt?

Die Politik wurde vor allem von Vertretern der jüdischen Religion massiv unter Druck gesetzt, auch indem reflexhaft und schwungvoll mit der Antisemitismuskeule gedroht wurde, die in diesem Zusammenhang auch heute immer wieder gern hervorgeholt wird. Dabei gab und gibt es weltweit zahlreiche Juden, darunter sogar Rabbiner, die die Vornahme des Rituals bei Säuglingen strikt ablehnen – vor allem ihnen Antisemitismus vorzuwerfen, ist geradezu absurd. Angesichts der damals starken Einflussnahme religiöser Lobbyisten auf die Politik hat niemand mehr ernsthaft die Verfassungskonformität des Gesetzes objektiv und neutral geprüft. Viele Parlamentarier haben sich einschüchtern und von sachfremden Erwägungen leiten lassen.

Das entsprechend überhastet erarbeitete und am 28. Dezember 2012 in Kraft getretene Gesetz erlaubt Eltern die Beschneidung von Jungen, auch aus religiösen Gründen. Sie muss medizinisch fachgerecht von einem Arzt oder, beschränkt auf sechs Monate nach der Geburt, von einer vergleichbar befähigten Person vorgenommen werden. Auch jüdische Beschneider, sogenannte Mohalim, sind damit verpflichtet, sich an medizinische Standards zu halten. Dazu gehört zwingend eine Schmerzbehandlung, die trotz der eindeutigen Gesetzeslage bei der Beschneidung von Säuglingen am achten Tag nach der Geburt nicht gewährleistet ist. Etwa ist die sogenannte EMLA-Salbe dafür gänzlich ungeeignet. Darüber wurden die Parlamentarier im Gesetzgebungsprozess arglistig getäuscht. Dass es bei Säuglingen bei Lichte betrachtet derzeit gar keine wirksame und zumutbare Schmerzbehandlung gibt, hat der Gesetzgeber sich so nicht vorgestellt. So gut wie alle derart bei Säuglingen vorgenommenen Beschneidungen sind damit strafbare Körperverletzungen, weil sie eindeutig gegen die neue Gesetzeslage verstoßen, sprich gegen § 1631d BGB.

Verstehe ich § 1631d BGB denn richtig? Wenn sich ein Nachbarsjunge hilfesuchend an mich wendet, weil er erfahren hat, dass er beschnitten werden soll, und das nicht möchte, könnte ich nichts tun? Polizei und Jugendamt dürften nicht dafür sorgen, dass der Junge vor dem Eingriff geschützt wird, sondern müssten ihn den Eltern ausliefern, die ihn beschneiden lassen wollen? Und das, obwohl der Eingriff keinerlei medizinischen Nutzen für das Kind hat? Das widerspricht aber im höchsten Maße dem Rechtsempfinden...

Das widerspricht nicht nur dem Rechtsempfinden, sondern auch dem gesunden Menschenverstand und nicht zuletzt den Grund- und Menschenrechten der betroffenen Kinder.

Trotz der Gesetzeslage kann man etwas tun, nämlich versuchen, das Gespräch mit den Eltern zu suchen und sie aufzuklären über die Risiken und möglichen Alternativen. Es zeigt sich immer wieder, dass Eltern, die alle Fakten kennen, schnell davon Abstand nehmen, ihr Kind einem solchen medizinisch sinnlosen Gewaltakt auszusetzen.

§ 1631d BGB ist jetzt geltendes Recht. Aber steht das Gesetz Ihrer Meinung nach in Einklang mit dem Grundgesetz?

Das Gesetz verstößt gegen die Grundrechte des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung, negative Religionsfreiheit und den Gleichheitsgrundsatz, es ist mit anderen Worten verfassungswidrig.

Wenn das Gesetz nicht in Einklang mit dem Grundgesetz steht, wieso wird es dann nicht vom Bundesverfassungsgericht gekippt?

Weil das Bundesverfassungsgericht nicht von Amts wegen tätig wird, sondern nur, wenn ihm jemand das Gesetz oder einen entsprechenden Fall zur Prüfung vorlegt.

Und wie müsste ein Fall aussehen, mit dem man vor das Bundesverfassungsgericht ziehen könnte?

Es sind mehrere Konstellationen denkbar: Eine gar nicht so abwegige könnte sein, dass jemand bei seiner Tochter eine Klitorisvorhautreduktion vornimmt oder veranlasst oder dies plant. Es handelt sich dabei um einen deutlich weniger eingriffsintensiven Vorgang als bei einer Vorhautamputation, gleichwohl um eine von der Weltgesundheitsorganisation aus guten Gründen geächtete Genitalverstümmlung. Nach geltendem Recht müsste das Jugendamt einschreiten und, nach Durchführung des Eingriffs, die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung aufnehmen. Denn bei der Erlaubnis von Genitalverstümmelungen bei Jungen hat der Gesetzgeber, Gott sei Dank, wenigstens Mädchen in Ruhe gelassen. Ein Verbot oder eine Verurteilung wären aber, aus Sicht des Betroffenen, ungerecht: Berufen könnte er sich nämlich darauf, dass die verhängte Strafe den in der Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz verletzt: Was bei Jungen erlaubt ist, darf, soweit es gleichwertig ist, bei Mädchen nicht anders gehandhabt werden. Denn vor dem Gesetz sind nun einmal alle Menschen gleich, was Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes anordnet. Das Bundesverfassungsgericht müsste also entweder die Klitorisvorhautbeschneidung für rechtmäßig erklären oder aber § 1631d BGB für verfassungswidrig.

Es gibt zwar inzwischen einige Juristen, die zur "Rettung" von § 1631d BGB, d.h. um einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zu vermeiden, die darin enthaltene Erlaubnis auch auf Mädchen erstrecken wollen, ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts sich vor den Karren der Genitalverstümmelungswegbereiter spannen lassen.

Wie beurteilen Sie die Chancen, dass § 1631d BGB in den kommenden Jahren für verfassungswidrig erklärt wird?

Diese Regelung ist in unserer Rechtsordnung ein Fremdkörper. Ich bin sicher, dass ein solcher Gewaltakt gegen Kinder vor unserem Grundgesetz und seinen Hütern beim Bundesverfassungsgericht auf Dauer keinen Bestand haben wird.