Interview mit Zehra Pala von Ateizm Derneği

"Es sollte keinen Mut erfordern müssen, Atheist zu sein"

Jüngst wurde der türkische Atheistenverein Ateizm Derneği vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) mit dem Sapio 2017 ausgezeichnet, da er sich als erster Atheistenverein im Nahen Osten für die Rechte von Atheisten einsetzt. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg sprach mit Zehra Pala, der Vorsitzenden von Ateizm Derneği, über die Situation von nichtgläubigen Menschen in der Türkei.

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hpd: Frau Pala, die Türkei ist offiziell laizistisch und war bis vor einiger Zeit tatsächlich ein mehr oder weniger säkulares Land. Wie entwickelt sich das Land aktuell?

Zehra Pala: Es verwandelt sich in einen islamischen Staat. Bedauerlicherweise. Für Säkulare, Laizisten, Non-Theisten, Atheisten und Nicht-Gläubige ist es schwierig, dort zu leben. Aber nicht nur für die. Auch wenn Sie Kurde sind oder Armenier oder Alevit oder nicht-sunnitischer Muslim, können sie dort nicht in Frieden leben.

Wie genau muss ich mir das Leben in der Türkei als Atheist aktuell vorstellen?

Ich würde Ihnen auf jeden Fall raten, es nicht auszuprobieren. Es ist wirklich hart. Sie wissen, was im letzten Juli passiert ist. [Der Putschversuch gegen Erdoğan und dessen Niederschlagung – Anm. d. Übers.] Die Leute gingen auf die Straße und es gab ein bekanntes Video, wo jemand sagte: "Wir sind hier, weil unsere Regierung will, dass wir auf die Straße gehen, um die laizistischen Hunde zu töten". Und wir sind schlimmer als laizistische Hunde. Wir sind Atheisten. Sie riefen "Allahu Akbar, Allahu Akbar, Allahu Akbar" – 24 Stunden am Stück. Können Sie sich das vorstellen? Wie kann es sein, dass Menschen auf die Straße gehen und sagen, dass sie die laizistischen Hunde erschlagen werden? Warum trauen sie sich das? Weil sie wissen, dass bestimmte Menschen sie beschützen werden und dass ihnen nichts geschehen wird. Aber wenn Sie rausgehen auf die Straße und sagen "Ich will ein laizistisches Land", dann kann man sie ins Gefängnis stecken. Aber wenn Sie sagen "Allahu Akbar, bringt sie um!", dann passiert Ihnen nichts.

Haben Sie selbst in der Türkei schon negative Erfahrungen als Atheistin machen müssen?

Vor ungefähr zwei Jahren sagte ich im Fernsehen, dass ich stolz darauf bin, Atheistin zu sein, dass das nichts ist, weswegen man sich schämen müsste und dass Menschen keine Angst haben sollten auszusprechen, dass sie Atheisten sind. Danach rief mich meine Chefin an und sagte: "Die kennen jetzt dein Gesicht und wir haben dein Bild auf unserer Webseite. Wenn die herausfinden, dass du für uns arbeitest, wird das für uns schlecht sein". Sie sagte: "Ich mag dich, aber du kannst nicht mehr für uns arbeiten". Seitdem habe ich keine neue Arbeit gefunden. Unserem vorherigen Präsidenten ging es nicht anders. Er hat auch seinen Job verloren. Und er sagte: "Es tut mir fürchterlich leid, aber ich brauche dringend einen Job, darum muss ich alle Kontakte zum Verein kappen." Ich habe inzwischen mein Haus verkauft und lebe jetzt von dem Geld. Ja, man muss einen Teil seines Lebens für die gute Sache aufgeben. Vielleicht bin ich ein Träumer, aber ich bin glücklich mit dem, was ich mache. Ich bereue nichts. Irgendjemand muss diese Arbeit schließlich machen.

Und was genau macht Ateizm Derneği?

Wir versuchen anderen Menschen zu zeigen, wer Atheisten wirklich sind. Nicht das, was man über sie erzählt. Wir fördern naturwissenschaftliches Denken. Wir treffen uns regelmäßig, veranstalten Sommercamps für Nicht-Gläubige. Und glauben Sie mir, die Teilnehmer versuchen, nicht zu schlafen, damit sie so viel wie möglich mit Gleichgesinnten sprechen können. Denn ihre Freunde, ihre Familien, ihre Arbeitgeber wissen oft nicht, dass sie Atheisten sind. Wenn sie aufgrund ihres Atheismus einen Rechtsanwalt benötigen, unterstützen wir sie. Und wir ermutigen sie, dass es normal ist, nicht zu glauben, und dass sie offen damit umgehen sollten. Wenn wir uns verstecken, wenn wir sagen "Oh nein, sie werden mir irgendetwas antun!", dann können wir unseren Kampf nicht gewinnen. Wir sollten uns nicht in den Untergrund zurückziehen. Wir sollten sagen: "Wir sind Atheisten!" Denn wenn wir es nicht sagen, können sich die anderen nicht daran gewöhnen, es zu hören. Und sie können nicht lernen, wer Atheisten wirklich sind. Die meisten Menschen in der Türkei haben noch nie wissentlich einen Atheisten getroffen. Darum sage ich allen meinen Nachbarn, dass ich Atheistin bin. Und sie fangen tatsächlich langsam an, ihre Meinung über Atheisten zu ändern. Wir sollten nicht verbergen, wer und was wir sind. 

Was ist denn die Vorstellung, die die Menschen in der Türkei von Atheisten üblicherweise haben?

Sie glauben, dass wir keine Moral haben, dass wir 24 Stunden am Stück Gruppensex haben – wow, was für ein Leben! Dabei gibt es eine ganze Menge Atheisten, die nicht mal einen Partner haben – das mit dem Gruppensex kann man also vergessen (lacht). Die Menschen denken, dass wir Katzen umbringen und essen – tatsächlich füttern wir sie, denn viele Atheisten haben Katzen als Haustiere. Die Menschen glauben, dass wir uns nicht um die Welt kümmern, dass wir schlechte Menschen sind, dass wir alles tun würden, weil wir an nichts glauben. Denn wenn wir nicht an die Hölle glauben, wovor sollten wir uns fürchten? Dabei lässt sich nicht ein einziges böses Wort über uns sagen. Wir haben noch nie Moscheen in die Luft gesprengt oder christliche Kirchen. Wir kümmern uns um Themen wie Erziehung, Wissenschaft, Säkularismus, Menschenrechte, LGBTQ-Rechte. Da man nichts Böses über uns sagen kann, muss man Lügen erfinden. Und leider glauben einige Leute diese Lügen.

Glauben Sie dass das schlechte Image, das Atheisten in der Türkei haben, sich von dem beispielsweise in den USA oder in Deutschland unterscheidet?

Wir stehen in engem Kontakt mit Atheisten weltweit und sie haben vergleichbare Probleme, was das schlechte Image betrifft. Aber trotzdem haben sie nicht dieselben Probleme wie wir. Denn wenn Sie in Deutschland Atheist sind und Probleme mit irgendwelchen Menschen bekommen, können Sie zur Polizei gehen oder zum Gericht, Sie haben Rechte. Der Unterschied in der Türkei ist, dass man Ihnen Ihre Rechte nicht zugesteht, weil unsere Regierung sagt "Das sind Atheisten, das sind Terroristen!" und dafür sorgt, dass unsere Rechte missachtet werden. Aber obwohl man uns keine Rechte zugestehen will, kämpfen wir darum.

Ich frage mich, wie Sie in so einem Land leben können.

Ich denke, ich bin einfach verrückt (lacht).

Haben Sie Angst, dass Ihre Organisation irgendwann verboten werden könnte?

Das kann jeden Tag passieren, jederzeit, jede Sekunde. Es würde uns nicht überraschen. Wir rechnen damit. Sie sagen, dass sie eine neue Türkei errichten wollen. Und so sieht die neue Türkei aus. Alles kann einem passieren, jederzeit, in jeder Sekunde. Selbst wenn es keine rechtliche Handhabe dafür gibt, werden Sie ins Gefängnis geworfen und dort monatelang festgehalten, ohne auch nur zu erfahren, warum Sie dort sind. In den Gefängnissen sitzen inzwischen jede Menge gebildete Menschen, Professoren und so weiter, während in den Schulen Leute unterrichten, für die der Islam das Wichtigste ist. Das geht so weit, dass die Menschen schon sagen: Wer will, dass sein Kind eine gute Ausbildung erhält, sollte es ins Gefängnis schicken. Das ist die neue Türkei. Herzlichen Glückwunsch kann man da nur sagen.

Sind Sie optimistisch, dass die Türkei sich irgendwann wieder in ein säkulareres Land verwandeln wird?

Eine gute Frage. Ich hatte befürchtet, dass Sie sie stellen würden. Ich hoffe es. Ich kann nicht sagen, dass ich glaube, dass ein Wunder geschehen wird. Da bin ich Realistin. Aber es gibt viele Menschen in der Türkei, die nicht akzeptieren wollen, was man dort gerade umzusetzen versucht. Darum gibt es ja so viele Menschen in den Gefängnissen. Weil sie trotz des großen Drucks ihre Meinung frei äußern. Wir haben sehr starke Menschen in unserer Reihen und wir alle zusammen versuchen, das Land zu retten.

Was bedeutet es für Sie, dass Sie jetzt von einem deutschen Atheistenverein mit einem Preis ausgezeichnet wurden?

Das war natürlich eine große Ehre. Weil wir auch für so viele andere kämpfen, die in den Sozialen Medien teilweise nicht mal ihre richtigen Namen benutzen können. Viele Menschen in Saudi-Arabien, im Iran und anderen Ländern. Ich hoffe, dieser Preis wird auch ihnen Mut machen, denn er ist nicht nur für uns, er ist auch für sie. Andererseits ist es auch traurig, so einen Preis zu bekommen. Denn es sollte keinen Mut erfordern müssen, Atheist zu sein. Es sollte ganz normal sein. Es sollte nichts sein, wofür man einen Preis bekommt. Der Preis ist also nicht nur eine Ehre für uns, sondern vor allem eine Schande für andere und für das, was sie geschaffen haben.

Das Interview wurde auf Englisch geführt.

Übersetzung: Daniela Wakonigg