Interview mit Jacqueline Neumann vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw)

"Wir brauchen ein Weltanschauung-Mainstreaming des Rechts"

Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) trat in der vergangenen Woche erstmals an die Öffentlichkeit. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg sprach mit der wissenschaftlichen Koordinatorin des Instituts, Dr. Jacqueline Neumann, über den Start des ifw, die erste Resonanz und Pläne für die Zukunft.

hpd: Frau Dr. Neumann, in der letzten Woche sind Sie mit dem neuen Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) erstmalig an die Öffentlichkeit getreten. Wie war die Resonanz?

Neumann: Wir erhalten großen Zuspruch. Über die Parteigrenzen hinweg, und erfreulicherweise auch über die Gruppe der Konfessionsfreien hinweg. Diese breite Basis wollen wir in die Arbeit des Instituts für Weltanschauungsrecht einbeziehen. Denn überall gibt es Fürsprecher einer säkularen Rechtspolitik.

Auch haben sich weitere Rechtsexperten und Rechtsanwälte gemeldet, die wir vorher noch nicht in unserem Umfeld hatten, und die das Anliegen des ifw unterstützen wollen. Mit unserer Webseite, Facebook und Twitter haben wir nun schon eine Reichweite im fünfstelligen Bereich. Also, für ein Rechtsinstitut ist das ein recht guter Start, auf dem wir aufbauen möchten.

Ihr Institut trägt den Begriff "Weltanschauungsrecht" im Titel. Das dürfte ein Begriff sein, der nicht wirklich jedem geläufig ist. Also, was ist das überhaupt: "Weltanschauungsrecht"?

Der neue – im ersten Moment vielleicht ungewöhnlich klingende – juristische Fachbegriff "Weltanschauungsrecht" umfasst die Gesamtheit aller staatlichen Normen, Einrichtungen und Handlungen, die das Recht auf Weltanschauungsfreiheit betreffen.

Mit "Weltanschauungsrecht" meinen wir keineswegs die Pflicht zu einer bestimmten Weltanschauung, wie es in diktatorischen oder theokratischen Regimen üblich ist.

Mit dem Begriff kommt zum Ausdruck, dass der Gegenstand unserer Tätigkeit der rechtsstaatliche Rahmen aller Sinnsysteme und der dazugehörigen Gemeinschaften, Organisationen und Einzelpersonen ist, religiöser wie auch nichtreligiöser.

Mit dem Begriff "Weltanschauungsrecht" wollen wir die inhaltliche Verengung aufbrechen, die durch die bisher gebräuchlichen Begriffe "Religionsrecht", "Staatskirchenrecht", Religionsverfassungsrecht" oder durch die Kombination "Religions- und Weltanschauungsrecht" entstand.

Es ist uns klar, dass wir hart an einer Korrektur der Terminologie arbeiten müssen. Aber ansonsten wird den religiösen Weltanschauungen und religiösen Gruppen weiterhin bereits auf der sprachlichen Ebene eine Sonderstellung eingeräumt. Sprache bestimmt das Denken – auch beim Gesetzgeber und in Gerichten.

Wir verwenden "Weltanschauungsrecht" alleinstehend. Der Oberbegriff ist "Weltanschauung". Religion ist ein Unterbegriff. Damit korrigieren wir einen in den Rechtswissenschaften schon etablierten Begriff und entwickeln diesen weiter.

Weltanschauungsrechtler beschäftigen sich mit der Frage, ob Rechtspolitik und Rechtsprechung die im Grundgesetz verankerte Freiheit des Individuums, gemäß seinen eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu leben, in hinreichender Weise berücksichtigen. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass viele Rechtsnormen und staatliche Einrichtungen nicht weltanschaulich neutral gehalten sind, sondern auf spezifischen religiösen Prämissen beruhen, was gegen oberste Verfassungsprinzipien verstößt. Abgesehen von den bestehenden Regelungen, beobachten wir dabei auch eine Verabschiedung neuer Gesetze, die neutralere Regelungen außer Kraft setzten und religiöse Normen zum verbindlichen Verhaltenskodex auch für nichtreligiöse Bürgerinnen und Bürger erheben. Weltanschauliche Neutralität ist jedoch ein Qualitätskriterium der Rechtstaatlichkeit.

Wo sehen Sie zu viel Einfluss religiöser Weltanschauungen auf den Rechtsstaat?

In Deutschland haben wir bekanntlich eine hinkende Trennung von Staat und Kirche. Besonders hervorstechende Hinkefüße sind der staatliche Einzug der Kirchensteuer, einschließlich der Durchsetzung des Kirchensteuereinzugs bei Ehepartnern, die Nicht-Kirchenmitglieder sind, dann die milliardenschweren Transferzahlungen aus dem Staatshaushalt oder die Bezahlung der Gehälter und Pensionen der Bischöfe aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Sofern es jemals gerechtfertigt war, dass Bischofsbezüge vom Steuerzahler finanziert werden, ist es das sicher nicht mehr in einer Gesellschaft, in der innerhalb der nächsten zehn Jahre die Kirchenmitglieder weniger als 50 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung haben. Warum auch sollte zum Beispiel eine Kassiererin im Supermarkt, die kein Kirchenmitglied ist, hohen Kirchenfunktionären wie Tebartz-van Elst und seinen Kollegen Geld für deren Unterhalt geben? Hier hat der Gesetzgeber diese Rechtsansprüche der Kirchenfunktionäre abzuschaffen und seinem Verfassungsauftrag nachzukommen.

Oder nehmen Sie das Beispiel der Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen, die völlig oder fast vollständig aus Steuergeldern finanziert werden. Warum müssen die dort beschäftigten Ärzte, Kindergärtnerinnen und Reinigungskräfte auf grundlegende Arbeitnehmerrechte verzichten?

Die heutigen Zustände sind kein Ergebnis einer offenen und fairen gesellschaftlichen Debatte. Der Nutzen besteht nur für die kleine Gruppe der Begünstigten, die Allgemeinheit trägt die Kosten und hat das Nachsehen.

Die hinkende Trennung von Staat und Kirche führt uns in einer pluralisierten Gesellschaft unweigerlich zu Problemen. Mit dem ifw haben wir die Rechtsnormen und die Rechtspraxis auf den Prüfstand gestellt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Schieflage besteht. Bislang sind sich viele Politiker und auch Juristen offenbar nicht bewusst, wie sehr sich die weltanschauliche Schieflage des Staates auf die Rechtspolitik und Rechtsprechung auswirkt.

Daher diskutieren wir derzeit im ifw, dass ähnlich zum "Gender-Mainstreaming" in unserem Rechtssystem ein "Weltanschauung-Mainstreaming" vonnöten wäre. Wir brauchen ein Mainstreaming des Weltanschauungsrechts, eine politische Strategie, die dazu beiträgt, dass in allen Entscheidungsprozessen in der Rechtspolitik, aber auch in der Rechtsprechung, die im Grundgesetz verankerte Freiheit des Individuums, gemäß seinen eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu leben, in hinreichender Weise berücksichtigt wird. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen in ihrer Freiheit, ihr Leben nach den eigenen Überzeugungen führen zu können, künftig nicht mehr so stark beschnitten werden.

Das betrifft ja in der Tat nicht mehr nur das alte Verständnis von "Religionsrecht", sondern das gesamte Staats- und Verfassungsrecht, und Sie machen auch vor dem Strafrecht und Steuerrecht nicht halt?

Genau, dieser systemische Ansatz steht hinter dem "Weltanschauung-Mainstreaming" des Rechts.

Könnten Sie ein paar Beispiele nennen, was Sie konkret angehen wollen?

Mit dem ifw arbeiten wir in vier Schwerpunkten. Ausgangspunkt ist erstens die Neutralität des Staates. Denn die Trennung von Staat und Weltanschauungen ist die Voraussetzung für einen offenen und diskriminierungsfreien Umgang des Gemeinwesens in Deutschland mit der Pluralität. Hierzu gehört die Entflechtung der Beziehungen von Staat und Kirche im Bildungs- und Gesundheitswesen, die Abschaffung des staatlichen Einzugs der Kirchensteuer oder die Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes ohne Ausnahmen. So muss der Staat sicherstellen, dass Antidiskriminierungsbestimmungen auch in kirchlichen Einrichtungen wie Kindergärten und Krankenhäusern gelten – zumal wenn der Steuerzahler diese Einrichtungen fast vollständig finanziert.

Zweitens, Schutz des Rechtsstaates. Wir sind gegen eine Paralleljustiz und gegen die Aushöhlung der staatlichen Rechtsnormen. Seit vielen Jahren stellen wir diese Defizite bei der kirchlichen Gerichtsbarkeit fest, nachzulesen in dem sehr gut recherchierten und anschaulichen Buch der Journalistin Eva Müller "Richter Gottes: Die geheimen Prozesse der Kirche". In jüngerer Zeit wächst die Paralleljustiz der islamischen Religionsgruppen mit ihren Scharia-Gerichten. Zum Beispiel urteilen muslimische "Friedensrichter" in strafrechtlich relevanten Sachverhalten auf der Grundlage der Scharia im Privaten und untergraben damit die staatliche Strafgewalt. Aber auch im Rahmen von Ehescheidungen urteilen Scharia-Gerichte. Derzeit lässt das Oberlandesgericht München beim Europäischen Gerichtshof die Anerkennung eines Scharia-Urteils im Falle einer Ehescheidung prüfen, obwohl damit eine starke Diskriminierung der Frau verbunden war. Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof hat sich in dieser Woche in seinen Schlussanträgen deutlich positioniert und wir erwarten eine richtungsweisende Entscheidung: Demnach sind Urteile eines Scharia-Gerichtes in Deutschland weiterhin nicht anzuerkennen.

Drittens, universelle Geltung der Menschenrechte. Die Menschenrechte dürfen nicht kulturell oder religiös relativiert werden. Das heißt, die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit darf nicht wegen der Verletzung von nicht justitiablen Sachverhalten oder gar Gefühlen oder auf Grund der Gewaltbereitschaft von Personengruppen, die verletzte Gefühle haben, eingeschränkt werden. Blasphemie-Gesetze gehören abgeschafft. Das Recht auf Glaubensabfall bei allen in Deutschland praktizierenden Glaubensrichtungen muss ausgeübt werden können. Nicht- und andersgläubige Menschen dürfen nicht bedroht werden. Gleiches gilt für Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuelle. Mit den Menschenrechten ist ebenfalls keine religiös motivierte Geschlechtertrennung oder kein Zwang zu einer bestimmten Bekleidung wie auch keine medizinisch nicht-indizierte Amputation und Verstümmelung bei Kindern im Genitalbereich vereinbar.

Und schließlich viertens, Rationalität und Wissenschaftlichkeit als Grundlage von Rechtsnormen. Wir machen uns stark für die Verbreitung und Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Rechtspolitik und Rechtsprechung. Beispiele sind hier die ethisch und wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden Einschränkungen bei der Stammzellenforschung und bei der Selbstbestimmung am Lebensende, oder die milliardenschweren Subventionen aus dem Staatshaushalt an die Kirchen – letzteres noch dazu ohne angemessene Prüfung und unabhängige Evaluierung.

Finanzieren denn Sie das Institut über Steuergelder? Und wer steht hinter dem ifw?

Wir sind aus privaten Stiftungsgeldern und Spenden finanziert. Diese Mittel fließen weitgehend in die Prozesshilfe. Das Engagement des Direktoriums und des Beirats im ifw ist ehrenamtlich geprägt.

Es ist uns gelungen, im Beirat Juristinnen und Juristen zu gewinnen, die sich für Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum engagieren - von der CSU bis zur Linkspartei. Zudem haben wir im Beirat sowohl Kirchenmitglieder wie Nicht-Mitglieder. Uns alle, die wir im ifw mitwirken, eint, dass wir für rational begründete, evidenzbasierte, gerechte und weltanschaulich neutrale Rechtsnormen eintreten.

Wir sind im ifw mit unseren 17 Rechtsexperten, darunter 6 Juraprofessoren der verschiedensten Fachrichtungen, für den Anfang gut aufgestellt. Hinzu kommt das erweiterte Netzwerk an Rechtsanwälten, die unsere Anliegen in Verfahren vertreten. Themenbezogen arbeiten wir bei Stellungnahmen zu Rechtsreformen und Gerichtsverfahren auch mit weiteren, externen Rechtsexperten zusammen.

Unsere prominenten Unterstützer erleichtern es, Missstände öffentlich zu machen. Unser Beirat Staatsminister a.D. Rolf Schwanitz hat jüngst eine Programmbeschwerde wegen der Diffamierung Konfessionsfreier als unsozialere Menschen an Prof. Dr. Karola Wille, die Intendantin des MDR und derzeit auch ARD-Vorsitzende, eingereicht. In dem MDR-Beitrag "Glaube beeinflusst soziales Verhalten" wurde unwissenschaftlich und tendenziös berichtet und wurden Falschmeldungen verbreitet. Für die Sendung wurden Rundfunkbeitragsmittel eingesetzt, die der Gesetzgeber als Pflichtbeiträge der Gesamtbevölkerung auferlegt. Das war Anlass genug, die Intendantin aufzufordern, das diskriminierungsfreie Miteinander nicht zu gefährden, auf die Grundsätze der Objektivität, der Unparteilichkeit und der Ausgewogenheit in der Berichterstattung zu achten und die damit einhergehenden Verstöße gegen den Rundfunkstaatsvertrag zu ahnden.

Das sind wichtige Flankierungen unserer Arbeit. Denn die weltanschauliche Schieflage der Rechtssetzung und Rechtsprechung findet leider allzu oft ihre Entsprechung in der Schieflage der Medienberichterstattung.

Wie genau wollen Sie den Hebel ansetzen, um die Schieflage gerade zu rücken?

In unseren Aktivitäten verbinden wir rechtswissenschaftliche Forschung und populärwissenschaftliche Aufklärung mit rechtspolitischen Forderungen.

Eine Ausweitung der zahlreichen kirchlichen Privilegien auf alle Weltanschauungsgemeinschaften ist nach Auffassung der Rechtsexperten des ifw weder organisierbar, noch finanzierbar, noch rechtspolitisch vertretbar.

Eine Ausweitung der bestehenden Privilegien würde, abgesehen von juristischen Konflikten mit den Anforderungen des Grundgesetzes, zu einer weiteren Konfessionalisierung hoheitlicher Aufgaben wie dem Schul-, Bildungs- und Gesundheitswesen und damit letztlich zu einer Verschärfung religiöser Konflikte innerhalb der Gesellschaft führen.

Das ifw setzt sich für den rechtspolitischen und rechtspraktischen Abbau einseitiger Begünstigungen und Subventionierungen ein. Angesichts der heutigen und in der Tendenz wachsenden weltanschaulichen Pluralität Deutschlands sollen die überkommenen Regelungen zum Staat-Kirche-Verhältnis auf den Prüfstand, um Weltanschauungsfreiheit und -gleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger nach rechtstaatlichen Standards gewährleisten zu können.

Die bisher allzu religionsfreundliche und damit weltanschaulich diskriminierende Auslegung des Grundgesetzes und die neutralitätsfeindliche Rechtspraxis auf allen Ebenen sind zu korrigieren. Entgegenstehende Kirchenvertragsregelungen können anerkanntermaßen jederzeit durch Landesgesetze gegenstandslos gemacht werden.

Abschließend die Frage: Was können wir vom Institut für Weltanschauungsrecht für die Zukunft erwarten?

Derzeit begleiten wir Betroffene in etwa einem Dutzend richtungsweisender Gerichtsprozesse in unseren ifw-Schwerpunkten sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene. Es sind aktuell Verfahren im Verfassungsrecht, Datenschutzrecht und Steuerrecht. Über die Ergebnisse werden wir berichten.

Dann arbeiten wir daran, auf unserer säkularen Seite mindestens einen so guten Austausch an Informationen zwischen den Beteiligten zu haben, wie die Gegenseite. Wir pflegen dabei eine hohe Transparenz. Auf unserer Webseite bieten wir eine Sammlung von säkularen Erfolgen und Misserfolgen bei Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen. Stellungnahmen und Gutachten, die im Rahmen von Gerichtsverfahren und Gesetzesentwürfen eingebracht wurden, sind im Volltext abrufbar. Stolz sind wir darauf, dass wir auf Betreiben meines Direktoriumskollegen Gerhard Czermak die weltanschauungsrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit jeweils eigenem ifw-Kommentar anbieten können. Es handelt sich dabei um die umfangreichste öffentlich zugängliche Sammlung. Zu den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bauen wir eine ähnliche Sammlung auf.

Die systematische weltanschauliche Schieflage in unserem Rechtsstaat muss jedoch letztlich vom Gesetzgeber korrigiert werden. Im Vorfeld der Bundestagswahl haben wir die Antworten der Parteien auf die Wahlprüfsteine des Koordinierungsrats säkularer Organisationen (KORSO) ausgewertet. Je nach den Farben der zukünftigen Regierungskoalition bestehen ab dem 24. September einige konkrete Ansätze, dass rechtspolitische Reformen in das Regierungsprogramm 2017-2021 aufgenommen werden. Warten wir die Wahl ab. Klar ist aber auch, viele überfällige Korrekturen der Rechtspolitik stehen noch nicht auf der Agenda möglicher Regierungsparteien. Diese Themen setzen wir auf Wiedervorlage, wie es in der Juristensprache heißt.