Kein Leben nach dem Tod – Keine Hoffnung auf Gerechtigkeit

Ohne ein Leben nach dem Tod gibt es keine Gerechtigkeit – findet hpd-Kolumnistin Ursula Neumann. Doch ist das ein Grund, an ein Leben nach dem Tod zu glauben?

Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!
(Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan)

Manchmal höre ich in kirchliche Sendungen rein. Man sollte ja wissen, was die Konkurrenz so treibt. Am 5.11. sprach anlässlich der zahlreichen Totengedenktage im November eine Freiburger Theologieprofessorin, deren Namen barmherzig verschwiegen werden soll, zum Thema "Leben als letzte Gelegenheit - oder Hoffnung auf Ewigkeit?"

Worauf es rauslaufen würde, ließ sich vermuten. Aber die Unreflektiertheit, mit der eine Glaubensüberzeugung zum "Beweis" mutierte, war schon erschütternd: weil Jesus auferweckt wurde, werden auch "wir" auferweckt. Weil Gott "uns" erschaffen hat, lässt er "uns" nicht wieder ins Nichts fallen. Noch grotesker aber wirkte auf mich die Oberflächlichkeit einer Satten, die die Vorteile des ewigen Lebens insbesondere darin sieht, dass man nicht mehr unter dem Druck stehe, von Event zu Event zu eilen, um im Diesseits alles mitzukriegen. Sie kriegte gerade noch die Kurve, dass ein Leben nach dem Tode auch für die Zu-kurz-Gekommenen von Vorteil sei.

"...Die Hoffnung auf ewiges Leben richtet sich darum keineswegs nur an die Adresse der Zu-kurz-Gekommenen, sondern ebenso an die Satten und Übersättigten, nicht weil sie ein noch größeres Event, einen noch größeren "Kick" verspricht, sondern eine grundsätzliche Alternative dazu bietet. Sie nimmt den Druck, möglichst viele Möglichkeiten in dieser begrenzten Lebenszeit ausschöpfen und alle suggerierten Bedürfnisse befriedigen zu müssen. Sie entlastet von dem Dogma der bestmöglichen Selbstverwirklichung. Sie befreit von dem Drang, soviel als möglich aus diesem Leben herausholen zu müssen. Denn die Lebensspanne, auch wenn sie lange währen sollte, ist eine viel zu kleine Zeit, um nur einen Bruchteil der unendlichen Möglichkeiten, die die Welt bereithält, auszuschöpfen. Auf diese Weise schenkt die Hoffnung auf Ewigkeit Gelassenheit, auch und gerade dann, wenn es im Leben nicht so läuft wie ersehnt. Und sie bewahrt davor, dem eigenen Drang nach dem "Alles-Haben-Wollen" bedingungslos nachzugeben. Auf diese Weise kann sie zu einer Quelle für ethisches Handeln und für einen christlichen Lebensstil werden, nicht unter dem Vorzeichen des moralin-sauren erhobenen Zeigefingers, sondern unter dem Vorzeichen der Befreiung.

Gewiss ist die Hoffnung auf ewiges Leben oft genug als billige Vertröstung missbraucht worden. Karl Marx hatte mit seinem Vorwurf, sie sei Opium für das Volk, nicht ganz unrecht. Doch das Verhältnis der Religion zur Welt hat sich längst nachhaltig verändert. Christlicher Glaube ist sich bewusst, dass die Aussicht auf ewiges Leben keine einlullende Beruhigung ist, sondern vielmehr ein Stachel im Fleisch. Sie lässt sensibel werden für erfahrenes Unrecht und Unheil. Hoffnung auf Ewigkeit und soziales Engagement sind darum keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Wer nicht im Tiefsten eine Vision von Erfüllung, von Gerechtigkeit und Heil hat, nimmt unerfülltes Leben überhaupt nicht wahr."

Der letzte Satz ist eine Unverschämtheit. Er erinnert mich an noch nicht so lange vergangene Zeiten, wo Allgemeingut war, dass Christen die besseren Menschen und Nonnen die besseren Krankenschwestern sind. Es tröstet nicht, dass die Autorin selbst mit ihrer Ignoranz und Unsensibilität die eigene großmäulige Behauptung falsifiziert.

ABER: Die Überzeugung, dass es kein Leben nach dem Tod gibt (eine Überzeugung, die nicht minder ein Glaube ist wie das Gegenteil), hat tatsächlich eine entscheidende Schwachstelle. Sie bedeutet die Anerkennung, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Im Einzelnen sicher manchmal schon. Aber grundsätzlich: Niemals. Mit dieser Überzeugung zu leben, finde ich kaum erträglich. Es ist zum Verzweifeln.

Ich möchte das nicht durchdeklinieren an den ertrunkenen Kindern im Mittelmeer, an den Arbeitssklaven in Afrika, Asien, Südamerika, auch nicht an den an Leib und Seele Verkrüppelten der Kriege, den Vergewaltigten, Gefolterten, Inhaftierten. Sondern an einem alltäglichen Fall aus meiner Praxis. Es gibt ihn in meiner Nachbarschaft, es gibt ihn in Ihrer Nachbarschaft.

Frau G. flüchtete mit sehr guten Gründen von "daheim" in eine frühe Ehe. Von dieser lässt sich bei einigem Wohlwollen sagen "nun gut, es gibt Schlimmeres". Sie bekommt zwei Kinder, eines davon behindert, pflegt die ihr nicht wohlgesonnene Schwiegermutter. Vor allem arbeitet sie im Handwerksbetrieb ihres Mannes mit. Der zahlt für sie keine Rentenbeiträge. Man hat ja ein Geschäft. Das Geschäft geht pleite. Die Lebensversicherung muss komplett aufgebraucht werden (es war noch die Zeit vor den relativ großzügigen Schonbeträgen). Dann ging man zum "Amt".

Irgendwann bekam Frau G. Krebs. Nach der Operation durfte sie für drei Wochen in Reha: "Das war die schönste Zeit meines Lebens", meint sie. Eine Reha nach Krebs!

Ihre kleine Rente steigt um 7 Euro. Sie freut sich. Das "Amt" zieht ihr die 7 Euro von der Grundsicherung ab. Völlig zurecht. Denn der Staat – also wir – haben nur dafür zu sorgen, dass jemand das Existenzminimum bekommt. Aber das erkläre ich ihr nicht, es würde nur weh machen.

Ihre Wohnung wird wegen Eigenbedarf gekündigt. Sie sucht voller Panik. Findet schließlich etwas. Kellerwohnung. Miserabel isoliert. Wo sie sowieso immer friert. Die Heizung mehr aufdrehen traut sie sich nicht. Sie, die handwerklich geschickt und bewundernswert findig ist, bringt eine Isolierfolie, die sie irgendwo aufgetan hat, unter dem Teppich an. Jetzt sei es ein bisschen besser. 

"Das Amt" stellt fest, dass die neue Wohnung zu teuer sei. Über Wochen sieht es so aus, als ob die Kosten nicht komplett übernommen würden. Schließlich hat die Behörde ein Einsehen (zumal auch ihr keine "angemessenere" Wohnung bekannt ist).

Das ist alles so einfach, so glasklar: Sie kriegt 7 Euro mehr Rente – also werden 7 Euro von der Grundsicherung abgezogen. Ihr stehen nur 351 Euro für Miete und Nebenkosten zu – also bräuchte der Staat – also wir – nicht mehr zu übernehmen.

Bilder gehen mir durch den Kopf: Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung. Da hört man regelhaft, die Polizei habe "waschkörbeweise" Akten abtransportiert, Festplatten, Computer "in großem Umfang" beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft wühlt sich da durch und wenn sie sich nicht erschöpft mit einem Strafbefehl zufrieden gibt, hat sie sich vor Gericht mit den Argumenten wohlpräparierter Anwälte der Angeklagten auseinanderzusetzen. Frau G. geschieht Recht – diesen Angeklagten geschieht Recht. Wie verschieden "Recht" doch aussieht!

Ein reicher Mann hat mal zu dem Satz "Geld macht nicht glücklich" gesagt: "Wenn die Leute wüssten, wieviel Glück man für Geld kaufen kann!" Oder Bequemlichkeit. Oder Stressfreiheit.

Ich spiele das für mich am Beispiel "meine Waschmaschine ist kaputt" durch und lasse parallel dazu den Film laufen, wie dasselbe Ereignis bei Frau G. aussähe: Ich würde "Mist" sagen, aus dem Stapel von Stiftung Warentest die entsprechende Nummer raussuchen und eine Maschine wählen, die mindestens "gut" abgeschnitten hat. Dann würde ich meinen Händler vor Ort anrufen und bestellen. Das ist zwar teurer, aber ich will keinen Ärger mit dem Abtransport der alten Maschine, dem Aufstellen und Anschließen der neuen haben. Und wenn eine Reparatur fällig ist, will ich sicher sein, dass der Kundendienst umgehend kommt. Einige Tage später käme ich aus der Praxis, meine Haushaltshilfe hätte bereits die Spuren aufgewischt, das Trinkgeld verteilt (ein gutes Trinkgeld zahlt sich aus, habe ich gelernt). Und ich würde sagen: "Sieht doch gut aus!" O.K. den geplanten Kauf der tollen neuen Kamera müsste ich halt ein paar Monate zurückstellen.

Frau G. tritt aus dem Hausfrauenturnen aus. Da geht man hinterher immer in eine Wirtschaft. Selbst, wenn sie nur ein Mineralwasser und einen Salat nimmt, kommen da leicht 15 Euro zusammen. Das ist einfach zu viel.

Ich sage: "Sie sind doch berechtigt, in der Tafel einzukaufen?" Ja, schon. Aber da arbeiten zwei Frauen, die sie kennen. "Wenn die sehen würden, wie weit ich heruntergekommen bin, dann wüsste es gleich das ganze Dorf!" Ich rufe bei der Tafel an, schildere die Situation. Ganz kurzes Zögern. Dann: "Da muss sie sich schon entscheiden, was sie will."

Ein paar Stunden später bricht es aus ihr heraus: "Es geht nicht mehr lange, dann schaffe ich es nicht mehr. Es ist alles abgeschnitten. Ich gehe nirgends mehr hin. Ich kenne niemanden mehr. Man wird gezwungen zu resignieren. Ich bin kein Mensch, nur noch eine Zahl. Ob die verreckt oder nicht, das ist scheißegal." Sie schreit es mir ins Gesicht: "Dieses Scheiß-Scheiß-Leben. Wann hört es endlich auf? Ich will nicht mehr. Ich will nur noch, dass Schluss ist."

Das wird wahrscheinlich bald der Fall sein: In unserem Land haben die zwanzig Prozent der Menschen am unteren Ende der Einkommensskala eine um zehn Jahre kürzere Lebenserwartung als die obersten zwanzig Prozent.

Und ich? Ich glaube immer noch nicht an ein Leben nach dem Tod.