Seit Ende 2017 begeistert die Facebook-Seite "Before Sharia Spoiled Everything" immer mehr Menschen. Zu sehen sind dort Fotos von säkularen Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern – Fotos aus Zeiten, bevor dort ein konservativer Islam Einzug hielt. Ins Leben gerufen wurde die Gruppe von Emrah Erken, einem 48-jährigen Schweizer Rechtsanwalt mit türkischen Wurzeln, der im Interview mit hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg das ungewöhnliche Foto-Projekt erläutert.
hpd: Herr Erken, Sie haben vor einigen Wochen eine Facebook-Gruppe mit dem Titel "Before Sharia Spoiled Everything" (Bevor die Scharia alles zerstörte) ins Leben gerufen. Was genau ist dort zu sehen – und warum zeigen Sie es?
Erken: In der Gruppe, die ich mit meinem guten Freund Ahmet R. Dener betreue, werden in erster Linie alte Fotos gepostet, die säkulares Leben in Ländern mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten zeigen und zwar in einem Zeitraum von circa Mitte der Zwanzigerjahre bis Anfang der Achtzigerjahre. Im genannten Zeitraum gab es in Staaten wie der Türkei, dem Iran, Irak, Ägypten, Afghanistan und anderswo einzigartige säkulare Kulturen und Subkulturen, die heute leider entweder vollständig verschwunden sind oder die seit Ende der Siebzigerjahre zumindest stark zurückgedrängt wurden. Da diese Gesellschaften Europäern weitestgehend unbekannt sind, verfolgt die Gruppe damit zunächst einmal einen informativen Zweck. Die Adressaten der Gruppe sind also vor allem Europäer.
Ich habe diese Gruppe ferner ins Leben gerufen, um zu zeigen, dass es uns gab und immer noch gibt. Dies entspricht einem Urbedürfnis von uns säkularen Menschen aus der islamischen Welt, womit ich anderen, die ähnlich denken wie ich, eine Möglichkeit geben wollte, sich zu artikulieren. Die meisten von uns sind frustriert darüber, dass sich die heutige Politik in Europa vor allem den Scharia-Muslimen zuwendet, obwohl wir die besser integrierten Einwanderer sind. Damit wollte ich uns gegenüber unseren Einwanderungsgesellschaften zu erkennen geben.
Andererseits soll die Seite islamkritisch sein, was aus dem Gruppennamen deutlich wird. Islamkritik findet in dieser Gruppe allerdings in erster Linie statt, indem das Licht auf den Scharia-Islam und die Scharia-Muslime mehr oder weniger komplett ausgeblendet und stattdessen säkulare Normalität gezeigt wird, die durch den Scharia-Islam gestört oder zerstört wurde. Damit wird illustriert, wie verletzlich unsere Freiheiten und unsere aufgeklärte Gesellschaft, die wir für selbstverständlich halten, gegenüber dieser totalitären Ideologie sind.
Ein weiteres wichtiges Ziel, das ich mit der Gruppe erreichen möchte ist, dass sich Europäer, die sich diese Fotos ansehen, auf den Bildern gewissermaßen wiedererkennen. Immer wieder lese ich Kommentare wie "Diese Menschen sehen ja genauso aus wie wir in der damaligen Zeit." Genau solche Assoziationen wollte ich mit dieser Facebook-Gruppe auslösen. Europäer sollen sich mit uns identifizieren, uns sympathisch finden und sich mit uns solidarisieren. Bilder von Atatürk, dem Schah und von anderen Staatsoberhäuptern sind in der Gruppe deshalb ausdrücklich nicht erwünscht, weil bei diesen Persönlichkeiten die von mir gesuchte Identifizierungsmöglichkeit fehlt. Mit dieser Gruppe will ich damit auch Rassismus und stereotype Betrachtungsweisen bekämpfen, indem ich eine gewisse Augenhöhe zwischen Europäern und Menschen schaffe, die zuvor pauschal als "Muslime" bezeichnet wurden.
Eines der wichtigsten Ziele, das ich mit dieser Gruppe erreichen will ist, dass das weit verbreitete Narrativ, wonach der Säkularismus in der muslimischen Welt nur eine privilegierte Elite betroffen habe respektive betreffe, zerstört wird. Deshalb poste ich am liebsten kopftuchfreie Bauernmädchen vom Lande, Fabrikarbeiterinnen und andere ganz gewöhnliche Bürger.
Was auffällt, wenn man die alten Bilder sieht, ist dass sie sich tatsächlich fast überhaupt nicht von Familienfotos aus Europa derselben Zeit unterscheiden – egal ob sie aus der Türkei, dem Iran, Afghanistan usw. stammen: Männer und Frauen zusammen, modern gekleidet, die gemeinsam fröhlich sind und feiern. Wie verbreitet war diese Lebensweise vor, sagen wir, einem halben Jahrhundert in den genannten Ländern?
Das ist ganz unterschiedlich. Die besten Kenntnisse habe ich bei dieser Frage natürlich über mein Herkunftsland. In der Türkei war die Tragweite des Säkularismus und der bürgerlichen Zivilgesellschaft sehr weitreichend. Säkulares Leben existierte auch außerhalb von den drei bekannten Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir, was aus den in der Gruppe geposteten Fotos deutlich wird, und zwar in allen Gesellschaftsschichten und überall, also auch auf dem Lande und das tut es noch. Vor allem bis Ende der Sechzigerjahre wurde in der Türkei auch sehr viel Wert auf Eleganz gelegt, weshalb die Menschen in diesen Jahren teilweise besser gekleidet waren als Deutsche, Österreicher oder Schweizer, was man aus den Bildern teilweise erkennen kann. Ich spreche hier ausdrücklich nicht bloß von einer reichen Elite, sondern von ganz gewöhnlichen Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft. Nebst diesen gab es freilich auch sehr viele arme Menschen in der Türkei und große soziale Ungerechtigkeit. Das ist unstrittig. Vor fünfzig Jahren war der türkische Islamismus jedoch praktisch ohne jede Bedeutung. Dies sollte sich bald ändern, als Anfang der Siebzigerjahre Milli Görüş gegründet wurde. Diese Organisation konnte sich vor allem in der Bundesrepublik entfalten und stark werden.
Ich lebte bis 1979 in der Türkei und mir war der Hijab in der heute in Europa bekannten Form bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Wohl sah ich in meiner Kindheit traditionelle Kopftücher bei Bauernfrauen – aber das alles abdeckende Kopftuch mit dem langen Mantel, diese Uniform der Muslimbruderschaft, gab es während meiner Kindheit in der Türkei kaum. Bei meiner Einwanderung nach Europa sah ich so viele Hijabträgerinnen wie noch nie zuvor und war schockiert. Daran kann ich mich sehr gut erinnern und auch an die Kränkung, als man mich danach fragte, weshalb denn meine Mutter kein islamisches Kopftuch und Mantel trage. Ähnliches erlebte eine Freundin, die bereits 1972 nach Deutschland einwanderte. Da die Menschen in der Türkei ihrer Familie nicht glauben wollten, wie unsere Landsleute in Deutschland gekleidet waren, hätten sie "Beweisfotos" gemacht, um diese im Urlaub den Freunden und Verwandten zu zeigen!
Im Iran war der Säkularismus auch weit verbreitet und auch dort gab es eine bürgerliche und säkulare Zivilgesellschaft, aber wohl nicht so wie in der Türkei. In Afghanistan war es gemäß meinen Informationen eher eine urbane Elite, die ein säkulares Leben führte. Unzutreffend wäre die Behauptung bei beiden Ländern, dass der Säkularismus nur auf die beiden Hauptstädte konzentriert gewesen sei.
Was ist mit solchen Menschen passiert, als der konservative Islam in den letzten Jahrzehnten in diesen Ländern immer mehr Fuß fasste? Zu sehen sind sie dort im Stadtbild heute nicht mehr. Sind sie ausgewandert? Oder ist es unmöglich für sie geworden, sich erkennen zu geben?
Im Iran und Afghanistan trifft dies wohl zu. Viele säkulare Iranerinnen und Iraner sind ausgewandert, andere sind geblieben und haben sich angepasst. Auch aus Afghanistan sind viele geflohen. Anders sieht es in der Türkei aus. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung ist nach wie vor säkular und versucht, sein Leben weiterzuleben. In der Türkei sind die Säkularen damit noch lange nicht aus dem Stadtbild verschwunden. Lediglich die Zahl der Scharia-Muslime hat erheblich zugenommen.
In einigen linken Milieus der westlichen Welt ist man sehr skeptisch, wenn beispielsweise religiös-politische Symbole wie beispielsweise der Schleier in seinen verschiedenen Varianten oder die Unterdrückung der Frau durch den konservativen Islam kritisiert werden. Tut man es trotzdem, lautet der Vorwurf: "Das ist halt deren althergebrachte Kultur und das darf man nicht kritisieren." Wie reagieren Sie auf so etwas? Zeigen Ihre Fotos nicht genau das Gegenteil, dass das Ganze eben nicht "althergebrachte Kultur", sondern eine Art künstlich übergestülpte religiöse Zwangskultur ist?
Ich denke nicht, dass das islamische Kopftuch primär ein Ausdruck der Unterdrückung der Frau ist. Es geht dabei vielmehr um die gesellschaftspolitisch motivierte Gewährleistung der in der Scharia verankerten strengen Sexualmoral, die im Körper einer Frau eine Bedrohung erkennt und deshalb eine extreme soziale Trennung von Männern und Frauen anstrebt. Das islamische Kopftuch und andere Kleidungsstücke wie der Niqab oder die Burka sind damit unterschiedlich starke Durchsetzungsinstrumente dieser Sexualmoral, deren Adressaten sowohl Frauen als auch Männer sind. Nebst dieser Funktion, die der Erfüllung der Vorgaben der Scharia dient, ist das islamische Kopftuch ein politisches Symbol und zwar eines des politischen Islam, der dieses "ideale" Gesellschaftsmodell anstrebt. Meines Erachtens verkennen die meisten Europäer die soziale Brisanz und die Tragweite des islamischen Kopftuchs und anderer Formen der Verschleierung, womit der Umstand, ob diese Dinger Teil einer althergebrachten Kultur sind oder nicht, ohnehin unerheblich ist.
Es wäre aber auch unzutreffend, wenn ich nun behaupten würde, dass in den muslimisch geprägten Gebieten dieser Erde vor dem säkularen Zeitalter, das in meiner Gruppe abgebildet wird, keine Verschleierung existiert hätte. Damit kann ich eine althergebrachte Kultur nicht vollumfänglich bestreiten. Jene Verschleierungen waren allerdings anders, hatten keine politische Bedeutung und ihre Zeit war, wie aus den Bildern zu erkennen ist, vorbei. Daher haben Sie mit Ihrer Beobachtung dennoch Recht. Das ist durchaus eine Art künstlich übergestülpte religiöse Zwangskultur. Ich denke sogar, dass wir es vorliegend mit einer totalitären Ideologie zu tun haben, wobei die Kleidung nur die sichtbare Oberfläche dieses Systems ist.
Wie haben Sie persönlich die Zeit mitbekommen und empfunden, als sich in muslimischen Ländern flächendeckend ein konservativer Islam breit machte?
Ich bin rein zufällig genau in jenem Jahr nach Europa eingewandert, als diese säkulare Ordnung anfing zu wanken, namentlich im Jahr 1979. Das ist das Jahr der Islamischen Revolution im Iran, des Überfalls auf die Grosse Moschee in Mekka und des Einmarsches der Sowjets in Afghanistan. Nur wenig später gab es den Militärputsch in der Türkei mit der anschließenden Stärkung der Religiösen. Wie ich die Rückkehr in den konservativen Islam persönlich mitbekam war besonders erschütternd, weil ich nicht jedes Jahr in die Türkei flog und damit größere Zeitabstände zwischen meinen Besuchen lagen, womit ich die stattfindenden Veränderungen wesentlich besser wahrnehmen konnte.
In der Türkei, in der Sie Ihre Wurzeln haben, gibt es ja derzeit zumindest ähnliche Tendenzen. Eine zunehmend staatlich promotete Hinwendung zur Religiosität. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Ich kann das Land, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbrachte, nicht wiedererkennen. Was in der Türkei gegenwärtig zu beobachten ist, entspricht dem Wesen eines totalitären Staates. Die Charakteristika eines solchen Staates, die wir aus den Werken von Hannah Arendt, Raymond Aron oder Umberto Eco kennen, sind vorliegend erfüllt. Es handelt sich dabei also nicht bloß um eine Hinwendung zur Religiosität. Vielmehr können wir in ideologischer Hinsicht einen Nationalislamismus beobachten. Die AKP hat ihre Wurzeln bei der Milli Görüş Bewegung Erbakans, welche die Ideologie der Muslimbruderschaft mit türkischem Nationalismus verquickt. Das ist sehr besorgniserregend und ich kann mir immer noch nicht erklären, weshalb die EU mit solchen Leuten, deren Hintergrund eigentlich bekannt sein sollte, Beitrittsverhandlungen führte.
Wie sind bislang die Reaktionen auf Ihr Projekt? Wir reagieren die Gruppenmitglieder auf die Fotos?
Überaus positiv. Die Menschen sind überrascht und emotional berührt. Genau auf dieser Ebene wollte ich sie erreichen. In der Gruppe findet auch ein schöner zwischenmenschlicher Austausch statt, was mich ganz besonders freut.
Gibt es ein besonderes Bild, das Sie unseren Lesern gerne zeigen würden?
Ja, ein Bild meiner Großmutter aus dem Jahr 1935, das in der türkischen Stadt Bursa entstand. Im selben Jahr hatte meine Großmutter, damals 15, ihren großen Auftritt vor Atatürk, als dieser die Stadt besuchte. In einem Sketch, der von den jungen Schülerinnen für dessen Schulbesuch vorbereitet worden war, musste sich meine Großmutter in einen Tschador (kara çarşaf) verhüllen, um diesen vor dem Staatsgründer entzweizureißen und sich in einem wunderschönen Kleid wie dem auf dem Bild zu präsentieren. Die Geschichte meiner Großmutter, die vor Atatürk einen Tschador entzweireißt, kenne ich seit meiner Kindheit und selbstverständlich war sie für mich prägend. Sie ist die Grundlage meiner Fundamentalopposition gegen jede Form der islamischen Verschleierung, inklusive Hijab.
Wenn Sie sich etwas wünschen dürften: Was wäre es, was Sie im besten Fall durch diese Facebook-Gruppe zu bewirken hoffen?
Schaffung von Säkularismusartikeln in allen Verfassungen respektive Grundgesetzen Europas. Säkularismus als Verfassungsprinzip sollte demnach einen ähnlichen verfassungsrechtlichen Stellenwert erhalten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit oder Föderalismus.
13 Kommentare
Kommentare
Sim am Permanenter Link
Ein wunderbares inspirierendes Interview. Und ein hoch auf die Fotografie, welche uns diesen Blick in diese verdrängte Vergangenheit gewährt. Vielen Dank Herr Erken für diese Einblicke.
Werder Lantern am Permanenter Link
Betroffenheit - Was mich erschüttert, daß diese säkulare Phase schon in den 1980ern eigentlich vorbei gewesen sein soll. Aber dann hab ich ein "Problem" mit dem "arabischen Frühling" von 2011.
Roland Fakler am Permanenter Link
Wenn man das heute sieht, bekommt man Depressionen. Dabei könnte alles so schön sein auf dieser Welt, ohne Diktatoren und ohne Religionen!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Macht Mut. Und das Bild der Oma ist zauberhaft.
malte am Permanenter Link
Ein sehr lesenswertes Interview. Aber ein Klugscheißer-Kommentar am Rande: Wäre "to spoil" nicht besser mit "verderben" übersetzt?
Jay Bates am Permanenter Link
absolutely! "Bevor die Scharia alles verdarb" wäre korrekt gewesen. De facto hat sie es aber auch zerstört (aber dann hätte dort "destroyed" stehen müssen ... und das stand da ja nicht).
Hans Trutnau am Permanenter Link
Vllt. noch besser mit "verraten"?
Mario am Permanenter Link
Danke für das Interview. Ich habe mir erlaubt, es bei Facebook zu posten.
Ilse Ermen am Permanenter Link
Herzlichen Dank für dieses grossartige Interview, bin sofort der Facebook Gruppe beigetreten.
David Z am Permanenter Link
Zuversicht machend und traurig zugleich.
Astrid Manthey am Permanenter Link
Ein tolles berührendes Interview mit Emrah Erken, dem Begründer der fb-Seite " When sharia spoiled everything" über den Säkularismus in islamischen Ländern.
Kai - M. Hinkelmann am Permanenter Link
Leider ist die Gruppe mittlerweile von Anhängern und Gesinnungsgenossen der AFD, FPÖ, Pegida usw. überlaufen. Wer diese Aufzeigt und Kritisiert wird ungestraft rausgemobbt.
Kay Krause am Permanenter Link
Den Teufel mit dem belzebub auszutreiben, mag wohl der verkehrte (und wahrscheinlich auch wenig Erfolg versprechende Weg sein.