Der Marx-Hype in Trier und die linke Aversion gegen Religionskritik

Marx macht mobil

In der Vergangenheit wurde Karl Marx häufig heroisiert oder dämonisiert – heute wird er zunehmend trivialisiert und kommerzialisiert. Tatsächlich ging es bei den Veranstaltungen zum 200. Geburtstag des Philosophen oft weniger um den "wahren Marx" als um die "Ware Marx", doch es gab löbliche Ausnahmen. Ein Bericht aus dem Zentrum des Marx-Rummels.

Vor 25 Jahren organisierte ich mit den Kolleginnen und Kollegen des "Trierer Instituts für angewandtes Denken" (Tifad) eine einwöchige Veranstaltungsreihe zum 175. Geburtstag von Karl Marx. Zu diesem Zeitpunkt, kurz nachdem der sogenannte "real existierende Sozialismus" unbeklatscht die Weltbühne verlassen hatte, galt Marx als ein "toter Denker", über dessen Werk man am besten den Mantel des Schweigens legen sollte. Doch Totgesagte leben länger! Also ließen wir Marx (gespielt von dem Schauspieler Karl-Heinz Heil) unter den donnernden Klängen von Mahlers 5. Sinfonie von den Toten auferstehen, woraufhin er fröhlich winkend hinter seinem Sarg durch Trier spazierte. Die Aktion sorgte damals für einige Aufmerksamkeit wie auch die Diskussionen mit unseren Referenten, etwa dem Computer-Pionier Joseph Weizenbaum, der 1993 über ein Thema sprach, das die meisten bis dahin noch gar nicht auf der Rechnung hatten, nämlich die Chancen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz. 

Vonseiten der Stadt, des Landes, der SPD oder der Friedrich-Ebert-Stiftung gab es vor 25 Jahren keine nennenswerte Unterstützung für die Marx-Gedenktage. Im Gegenteil: Man versuchte die Veranstaltungen zum 175. Geburtstag möglichst klein zu halten. Es war klar: Wer sich damals für eine kritische, zukunftsorientierte – nicht bloß historisierende – Auseinandersetzung mit Marx engagierte, der setzte seinen Ruf aufs Spiel. Und so war es 1993 geradezu undenkbar, dass offizielle Vertreter des Staates oder des Landes auf einer Marx-Gedenkveranstaltung sprechen, geschweige denn, dass sie bei der Enthüllung einer überlebensgroßen Marx-Statue applaudieren würden.

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Enhüllung der Marx-Statue – Foto: © Jan Maximilian Gerlach

Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist das Undenkbare eingetreten: Als am vergangenen Samstag die von der Volksrepublik China geschenkte 5,50 Meter hohe Marx-Statue in unmittelbarer Nähe der Porta Nigra enthüllt wurde, waren nicht nur Tausende Bürgerinnen und Bürger zugegen, sondern auch 200 Ehrengäste, darunter führende Repräsentanten der deutschen Politik. Tatsächlich ist der Marx-Hype in Trier derzeit so groß, dass man kaum 10 Meter durch die Innenstadt gehen kann, ohne dem Profil des Philosophen zu begegnen. Um den Hype zu befeuern, haben die Verantwortlichen keine Kosten und Mühen gescheut: Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat das Marx-Geburtshaus frisch aufpoliert, fast täglich finden irgendwo in Trier Marx-Veranstaltungen statt. Die Museen der Stadt profilieren sich mit der größten Karl-Marx-Ausstellung, die es je gegeben hat. Selbst das katholische Diözesan-Museum ist redlich darum bemüht, mit dem Konterfei des "berühmt-berüchtigten Atheisten" Marx Besucher anzulocken.

Gründe für den Marx-Hype

Die Gründe für den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung sind leicht auszumachen. Grund 1: Drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus fällt es vielen leichter, sich Marx unbefangener zu nähern und die Unterschiede zwischen Marxismus und Leninismus zu erkennen. Grund 2: Im Zuge der Finanzkrise wurde so manchem klar, dass Marx' Prognosen bzgl. der "zyklischen Krisen des Kapitalismus", des "Schwindels" profitabler Investitionen in "fiktives Kapital", der "Akkumulation des Kapitals" sowie des gefährlichen Zusammenspiels von Überproduktion und Unterkonsumption in voll technisierten, kapitalistischen Gesellschaften nicht völlig substanzlos waren. Grund 3: Die Volksrepublik China, die sich noch immer und seit der Öffnung der Märkte wohl sogar mit größerem Recht auf Marx beruft (schließlich meinte Marx, dass das kommunistische "Reich der Freiheit" nur auf der Grundlage eines hochentwickelten Kapitalismus möglich sei!), hat sich im letzten Vierteljahrhundert zu einer globalen Wirtschaftsmacht und dem wohl wichtigsten Motor des globalen Wirtschaftswachstums entwickelt, was der chinesische Botschafter am Samstagmittag bei der Enthüllung der Marx-Statue auch mit einigem Stolz verkündete. 

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Knapp 200 Ehrengäste betrachten die neue Marx-Statue – Foto: © Florian Chefai

Kein Wunder also, dass sich deutsche Politikerinnen und Politiker mit dem immer wichtiger werdenden Wirtschaftspartner China gütlich stellen wollen. Und das gilt in besonderer Weise für die politisch Verantwortlichen in Marx' Geburtsstadt, die, wie es scheint, endlich begriffen haben, welch enormes Kapital im Verfasser des "Kapital" steckt. Tatsächlich ist es nicht ausgeschlossen, dass Marx als Tourismusmagnet langfristig mehr Menschen nach Trier locken wird als Konstantin der Große. Mancher Hotelier träumt bereits von den vielen Millionen Chinesen, die Trier besuchen werden, wenn sich die älteste Stadt Deutschlands noch offensiver als "marxistisches Betlehem" vermarktet. 

Der Kapitalismus hat einen guten Magen

Dass Karl Marx, der scharfsinnige Kritiker des "Warenfetischismus", im Zuge dieser Entwicklung selbst zu einer "fetischisierten Ware" wird, ist eine Ironie der Geschichte, aber nicht wirklich erstaunlich. Denn der Kapitalismus hat einen ähnlich guten Magen wie die Katholische Kirche. Er kann nahezu alles und jeden in sich einverleiben und verdauen – selbst seine größten Kritiker. Kaum jemand hat dies je so trefflich beschrieben wie der alte Marx. Von daher hätte es ihn vielleicht auch eher erheitert als erzürnt, wenn er die breite Palette an Produkten hätte sehen können, die derzeit mit seinem Gesicht zum Verkauf angeboten wird – vom Karl-Marx-Brot zum Karl-Marx-Wein und von der Karl-Marx-Spardose bis zum Karl-Marx-Quietsche-Entchen. Ja, der olle Marx macht mobil – bei Arbeit, Sport und Spiel… 

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Marx-Wein – Foto: © Michael Schmidt-Salomon

Wie weit der Marx-Reibach tatsächlich geht, wurde mir allerdings erst kurz vor der Enthüllung der Marx-Statue klar: Um auf den Simeonstiftplatz mit der Plastik zu gelangen, musste man eine Personenkontrolle passieren, bei der die Taschen der Besucherinnen und Besucher gründlich durchsucht wurden. Ich dachte zunächst, dies sei eine (angesichts der vielen anwesenden Politikerinnen und Politiker) notwendige Sicherheitsmaßnahme, doch weit gefehlt: Es ging den Kontrolleuren nicht etwa um Messer oder Pfeffersprays, sondern um mitgebrachte Getränke und Butterstullen! Solch gefährliches Gut durfte auf den Platz mit der Marx-Statue selbstverständlich nicht mitgenommen werden, da es den Essens- und Getränkeanbietern während der etwa zweistündigen Enthüllungszeremonie den Umsatz verhagelt hätte. Als braver Konsument habe ich den damit verbundenen Imperativ natürlich sofort verstanden und, kaum dass ich das abgezäunte Gelände betreten hatte, eine Runde "Marx-Wein" ausgegeben, um meinen bescheidenen Anteil zur kapitalistischen Profitsteigerung zu leisten.

Überraschende Einsichten bei den Sozialdemokraten

Dass Marx zur Ware gemacht wird, bedeutet nicht, dass es an seinem Geburtstag keine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm gegeben hätte. Für die positivste Überraschung sorgten in diesem Zusammenhang – man höre und staune – die Sozialdemokraten! Den Anfang machte bereits zwei Tage vor dem Jubiläum Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im (von Trier aus) fernen Berlin, der zu einer Marx-Veranstaltung ins Schloss Bellevue einlud und mit einer klugen, ausgewogenen Rede in die anschließende Diskussion einführte, die von Jürgen Neffe, Marx-Biograph und gbs-Beirat, moderiert wurde.

Am selben Tag entdeckte ich abends zu meiner Verwunderung Kurt Beck und Malu Dreyer bei der Eröffnung der Werkschau des Trierer Künstlers Helmut Schwickerath, in deren Zentrum der "Marx-Altar" mit der "Heiligen Unterhose" steht. Ursprünglich als satirischer Kommentar zur christlichen Heilig-Rock-Wallfahrt geschaffen, dient der Altar gegenwärtig als Kontrapunkt zur Kommerzialisierung der "Marke Marx" sowie zur anhaltenden Marx-Sakralisierung durch Altkommunisten (etwa der DKP, die am Samstag fleißig demonstrierte) bzw. zur Marx-Dämonisierung durch alte und neue Rechte (etwa der AfD, die den 200. Geburtstag ebenfalls propagandistisch nutzte). Malu Dreyer und Kurt Beck machten auch am Samstagmorgen bei der Eröffnung der neuen Ausstellung im Karl-Marx-Haus eine gute Figur, als sie die sozialdemokratische Sicht auf Marx als einem "Kämpfer für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie" wortgewandt gegen rechte und ultralinke Kritiker verteidigten. 

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Die "Heilige Unterhose" – Foto: © Michael Schmidt-Salomon

Ein bewegender Festakt

Der intellektuelle und ästhetische Höhepunkt der Veranstaltungen am Samstag war zweifellos der Marx-Festakt der SPD im Trierer Theater, der dort in Erinnerung an eine berühmte Rede von Willy Brandt vor 50 Jahren (zum 150. Geburtstag von Karl Marx im Jahr 1968) stattfand. Eigentlich handelte es sich bei dem Festakt, zu dem ein Großteil der aktuellen und früheren SPD-Führungsriege angereist war (u.a. Andrea Nahles, Katarina Barley, Malu Dreyer und Kurt Beck) um eine parteiinterne Veranstaltung mit geladenen Gästen, zu der ich als Parteiexterner dank Jürgen Neffe Zugang erhielt, der neben Andrea Nahles den Hauptvortrag hielt. 

Ich muss gestehen: Andrea Nahles überraschte mich mit einer ausgesprochen guten Rede. Was die Klarheit der historischen Perspektive und den ökonomischen Tiefgang betrifft, war ihr Vortrag deutlich besser als die Rede, die Gregor Gysi einige Stunden später im Audimax der Universität zum Marx-Geburtstag beisteuerte. (Gysi konnte zwar durch witzige Formulierungen und hübsche Anekdoten punkten sowie durch die Unverfrorenheit, die Trierer Universität in Anwesenheit des Unipräsidenten in "Karl-Marx-Universität" umzubenennen, insgesamt aber schien er auf seinen Marx-Vortrag 2018 weniger gut vorbereitet gewesen zu sein als auf die Rede, die er 1993 im Rahmen unserer Veranstaltungen zum 175. Geburtstag von Marx gehalten hat.)

Dass der SPD-Festakt im Trierer Theater zu einem bewegenden Ereignis wurde, lag vor allem an den Gästen, die der Parteivorstand eingeladen hatte, z.B. an Christian Brückner (Synchronsprecher u.a. von Robert de Niro und Robert Redford), der mit seiner markanten Stimme zentrale Passagen aus Marx' Werken vortrug (wer ihn gehört hat, wird die Poesie der Marxschen Sprache kaum wieder vergessen). Auch die Band "Die Grenzgänger", die Gedichte und Liedtexte des jungen Marx neu vertont hat und mit großer Spielfreude auf die Bühne brachte, war eine positive Überraschung. Überzeugend war nicht zuletzt auch der Vortrag von Jürgen Neffe, der die Grundgedanken des Marxschen Werks erläuterte und der SPD anschließend die Leviten las, indem er die Verantwortlichen der Partei dazu aufforderte, sich wieder stärker an den Leitideen der Sozialdemokratie zu orientieren, statt über jedes Stöckchen zu springen, das man ihnen hinhält. 

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Jürgen Neffe beim Marx-Festakt der SPD – Foto: © Michael Schmidt-Salomon

Neffe plädierte auch dafür, die SPD für Menschen zu öffnen, denen kein sozialdemokratischer Stallgeruch anhaftet, vor allem auch für diejenigen, die dem (politischen) Islam kritisch gegenüberstehen, was man keineswegs reflexartig als eine Form von "Rassismus" interpretieren dürfe. Vor allem mit diesem Punkt legte Neffe den Finger in eine offene Wunde der SPD. Denn obgleich Marx zu den wichtigsten Religionskritikern aller Zeiten gehört, besitzt die Partei, die sich bis 1949 explizit auf ihn berufen hat und die nun zaghaft wieder Anschluss an ihn sucht, keinerlei religionskritische Kompetenz (abgesehen von einigen wenigen rühmlichen Ausnahmen). Tatsächlich meidet die SPD die Religionskritik so sehr wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser! Kein Wunder also, dass bei den unzähligen Marx-Veranstaltungen dieses Jahres das Thema "Religionskritik" völlig untergeht, schlimmer noch: dass Marx bei den Gedenkveranstaltungen in einer Weise religiös vereinnahmt wird, die geradezu groteske Züge annimmt. 

Die Verdrängung der Religionskritik

So fand die Auftaktveranstaltung zum Marx-Jahr ausgerechnet in einer evangelischen Kirche statt, und zwar in jener Basilika, in der Konstantin der Große einst residierte, bevor er sich aufmachte, um im "Zeichen des Kreuzes" die Heere seiner Konkurrenten niederzumetzeln. Malu Dreyer und EU-Kommissionspräident Jean-Claude Juncker sprachen sozusagen von der Kirchenkanzel aus, als sie am Freitagabend das Lebenswerk eines Mannes würdigten, der die "Kritik der Religion" als "Voraussetzung aller Kritik" verstanden hatte und der als einer der bedeutendsten Atheisten aller Zeiten in die Geschichte eingegangen ist. Und damit nicht genug: Statt eines Religionskritikers kam nach den Festreden von Dreyer und Juncker der Trierer Bischof Ackermann zu Wort, als sei dies das Normalste der Welt. Offenkundig hatten die Organisatoren des Festakts überhaupt kein Gespür dafür, dass es unangebracht, ja geschmacklos sein könnte, einen entschiedenen Religionskritiker wie Marx in solch schamloser Weise religiös zu vereinnahmen. (Einen schönen Eindruck vom christlichen Setting der Marx-Jahr-Auftaktveranstaltung geben die Bilder von Malu Dreyer und Jean-Claude Juncker auf SPIEGEL-Online). 

Wie sehr die Organisatoren der Marx-Veranstaltungen bemüht sind, jede Erinnerung an die Marxsche Religionskritik zu eliminieren, wurde mir schlagartig bewusst, als ich beim SPD-Festakt den rot illuminierten Saal des Trierer Theaters betrat. Die Bühne war mit großen Fahnen geschmückt, die bekannte Marx-Zitate wiedergaben. Das oberste Zitat sprang mir sofort ins Auge, da es eine ebenso auffällige wie symptomatische Kürzung enthielt: "Die Kritik", hieß es da, "endet mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Welche Kritik?, fragt man sich unwillkürlich. Natürlich die "Kritik der Religion"! Durch das Weglassen der beiden Worte entledigten sich die SPD-Verantwortlichen der peinlichen Erkenntnis, dass für Marx die Kritik der Religion die notwendige Voraussetzung dafür war, um zu einem echten, ernstgemeinten Humanismus zu gelangen. (Im Marxschen Original lautet die Stelle wie folgt: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.")

Ich wunderte mich nicht darüber, dass bei dem SPD-Festakt alles darauf angelegt war, das Thema "Religionskritik" tunlichst zu vermeiden – eine Marschroute, der Malu Dreyer und Andrea Nahles in ihren Festreden auch folgten. Erfreulicherweise aber zeigte Jürgen Neffe in seinem Vortrag auf, dass die Marxsche Kapitalismuskritik nur vor dem Hintergrund seiner Religionskritik verständlich ist, es also gar nicht möglich ist, den Ökonomen Marx losgelöst vom Religionskritiker Marx zu betrachten. Eine schöne Abrundung fand dieser schöne Kontrapunkt zur offiziellen Festtags-Linie, als die Band "Die Grenzgänger" ganz am Schluss der Veranstaltung eine – mit den Organisatoren vermutlich nicht abgesprochene – Zugabe spielte, nämlich ein satirisches Lied des jungen Marx über das christliche "Weltgericht" mit dem schönen Refrain: "Dann sollen wir Gott, den Ewigen loben / Hallelujah ewig schrei'n / Haben ihn nie genug erhoben / Kennen nicht mehr Lust und Pein / Ich will da nicht rein / In 'n Himmel will ich nicht rein!" Das Lied erregte bei den Genossen im Theatersaal erfreulicherweise viel Erheiterung – wobei diejenigen, die über die Marxsche Himmelsverweigerung so gar nicht lachen konnten, zumindest durch die letzten Zeilen des Gedichts des 18-jährigen Marx besänftigt wurden: "Seht, das alles träumt' ich heute / Von dem letzten Reichsgericht / Drum zürnt nicht, gute Leute / Denn der Träumer sündigt nicht".

Gründe für die linke Aversion gegen Religionskritik

Ich will nicht missverstanden werden: Die politische Aversion gegen Religionskritik, die bei den Marx-Feierlichkeiten besonders deutlich zutage trat, ist keineswegs nur ein Problem der SPD, sondern ein Problem der Linken insgesamt. (So erstaunt es nicht, dass auch Gregor Gysi in seiner Geburtstagsrede den Religionskritiker Marx kein einziges Mal erwähnte.) Zum Teil hat Marx dieses Problem selbst mitverschuldet. Denn seine wichtigste Abhandlung zur Religionskritik, die 1844 erschienene "Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" (die entscheidenden Passagen dieser Schrift hat die Giordano-Bruno-Stiftung anlässlich des 200. Geburtstags auf ihrer Website veröffentlicht), beginnt bedauerlicherweise mit einer kolossal falschen Einschätzung, nämlich der Behauptung, für Deutschland sei "die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt". 

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Die Marxsche Religionskritik blieb bei ihm unerwähnt: Gregor Gysi – Foto: © Jan Maximilian Gerlach

Offenkundig war Marx vom globalen Siegeszug des Kapitalismus, der alles "Ständische verdampft" und "alles Heilige entweiht", derart überzeugt, dass er einen Fehler beging, der ihm als "Dialektiker" eigentlich niemals hätte unterlaufen sollen: Marx unterschätzte nämlich die gesellschaftlichen Widersprüche, die der Kapitalismus auslöst. Zwar hat die kapitalistische Umwälzung der menschlichen Lebensverhältnisse tatsächlich, wie es Marx prognostiziert hat, die Prozesse der Globalisierung und Säkularisierung in kolossaler Weise forciert, zugleich aber haben diese Prozesse massive Gegenbewegungen hervorgerufen, die uns aktuell in Form von nationalem Chauvinismus und religiösem Fundamentalismus gegenübertreten.

Marx hätte das Auftreten dieser Widersprüche wohl als unbedeutende Etappe auf dem unaufhaltsamen Siegeszug des Kapitalismus gedeutet – aber genau hierin zeigt sich der naive Fortschrittsoptimismus, den Marx mit den Hegelianern seiner Zeit teilte, glaubten sie doch, dass die Weltgeschichte über These, Antithese und Synthese unaufhörlich von Fortschritt zu Fortschritt eilt. Für diese Annahme gibt es allerdings keine vernünftigen Gründe. Tatsächlich nämlich ist nicht nur das Bessere Feind des Guten (wie Hegelianer meinen), sondern auch das Schlechtere! Es ist keineswegs ausgemacht, dass der entwickelte Kapitalismus letztlich in das von Marx verheißene "Reich der Freiheit" führen wird, ebenso gut ist es möglich, dass er religiös-nationalistische Diktaturen hervorbringt, die ihre Herrschaft mit den kapitalistisch entfalteten Produktivkräften der Künstlichen Intelligenz langfristig absichern können.

Ein unterkomplexes Weltbild

Ein zentrales Problem vieler Linker besteht darin, dass sie diese Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung, also des Wechselspiels von Globalisierung und Nationalismus, von Säkularisierung und Fundamentalismus, nicht wirklich begreifen und sich aus diesem Defizit heraus mit nahezu allen Kräften verbünden, die in irgendeiner Weise "kapitalismuskritisch" anmuten (mitunter sogar mit Islamisten, die sie als "Anti-Imperialisten" fehldeuten!). Dabei übersehen sie den wesentlichen Punkt: Man kann nämlich den gegenwärtigen Kapitalismus sowohl emanzipatorisch überschreiten als auch reaktionär unterschreiten! Viele derer, die sich heute damit brüsten, den Kapitalismus religiös "zähmen" zu wollen (etwa Papst Franziskus, der tatsächlich weit reaktionärere Vorstellungen vertritt, als es die meisten Linken wahrhaben wollen), führen die Menschheit keineswegs in eine bessere Zukunft, ins "Reich der Freiheit", sondern zurück in die Vergangenheit, in die finstere Zeit der "frommen Schwärmerei" und der "heiligen Blutsbande", die Marx als für alle Zeiten überwunden glaubte. 

Um sich diese Gefahr zu vergegenwärtigen, genügt es, einen Blick auf die "Internationale der Nationalisten" zu werfen, die von Moskau bis nach Washington reicht. Man mache sich bewusst, wie Trump, Putin, Erdogan & Co. nationalen Chauvinismus und reaktionäre religiöse Werte miteinander verrühren, um ihre Herrschaft abzusichern. Dank Pegida, AfD und Söder wird diese reaktionäre Denkungsart allmählich auch in Deutschland hoffähig. Wer angesichts dieser brandgefährlichen historischen Situation Religionskritik ausspart, ja sogar negativ sanktioniert, beweist damit nur, dass er (oder sie) ein unterkomplexes Weltbild besitzt und die Brisanz der gegenwärtigen weltpolitischen Lage nicht einmal ansatzweise einzuschätzen vermag.

Andrea Nahles sagte in ihrer Festtagsrede, dass die SPD ihrem Vordenker Karl Marx viel zu verdanken habe, dass sie aber selbstverständlich keine "marxistische Weltanschauungspartei" mehr sei. Das ist nicht nur richtig, sondern auch gut so! Allerdings wäre es für die Sozialdemokratie nur von Vorteil, wenn sie sich die Grundlage der Marxschen Weltanschauung, nämlich das Fundament eines weltlichen, dezidiert nicht-religiös begründeten Humanismus wieder stärker ins Bewusstsein rufen würde. Das heißt keineswegs, dass man als Mitglied der SPD notwendigerweise agnostische oder gar atheistische Positionen vertreten müsste. Aber es bedeutet sehr wohl, dass man als Sozialdemokratin oder Sozialdemokrat klar und deutlich für eine weltoffene, säkulare Politik einstehen sollte – und das verlangt, dass man der schleichenden Bedrohung durch religiöse und/oder nationale Egoismen mit allergrößter Entschiedenheit entgegentritt! Um es einmal in Abwandlung eines bekannten Marx-Wortes zu sagen: Dem "Reich der Freiheit" sind wir erst dann ein Stückchen näher gekommen, wenn gläubige Politikerinnen und Politiker morgens eine dezidiert säkulare Politik betreiben und erst abends, nach Dienstschluss, ihren "religiösen Gefühlen" freien Lauf lassen. Von der Erfüllung dieser politischen Grundforderung an einen modernen, säkularen, weltanschaulich neutralen Staat sind wir noch immer weit entfernt.