In der Vergangenheit wurde Karl Marx häufig heroisiert oder dämonisiert – heute wird er zunehmend trivialisiert und kommerzialisiert. Tatsächlich ging es bei den Veranstaltungen zum 200. Geburtstag des Philosophen oft weniger um den "wahren Marx" als um die "Ware Marx", doch es gab löbliche Ausnahmen. Ein Bericht aus dem Zentrum des Marx-Rummels.
Vor 25 Jahren organisierte ich mit den Kolleginnen und Kollegen des "Trierer Instituts für angewandtes Denken" (Tifad) eine einwöchige Veranstaltungsreihe zum 175. Geburtstag von Karl Marx. Zu diesem Zeitpunkt, kurz nachdem der sogenannte "real existierende Sozialismus" unbeklatscht die Weltbühne verlassen hatte, galt Marx als ein "toter Denker", über dessen Werk man am besten den Mantel des Schweigens legen sollte. Doch Totgesagte leben länger! Also ließen wir Marx (gespielt von dem Schauspieler Karl-Heinz Heil) unter den donnernden Klängen von Mahlers 5. Sinfonie von den Toten auferstehen, woraufhin er fröhlich winkend hinter seinem Sarg durch Trier spazierte. Die Aktion sorgte damals für einige Aufmerksamkeit wie auch die Diskussionen mit unseren Referenten, etwa dem Computer-Pionier Joseph Weizenbaum, der 1993 über ein Thema sprach, das die meisten bis dahin noch gar nicht auf der Rechnung hatten, nämlich die Chancen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz.
Vonseiten der Stadt, des Landes, der SPD oder der Friedrich-Ebert-Stiftung gab es vor 25 Jahren keine nennenswerte Unterstützung für die Marx-Gedenktage. Im Gegenteil: Man versuchte die Veranstaltungen zum 175. Geburtstag möglichst klein zu halten. Es war klar: Wer sich damals für eine kritische, zukunftsorientierte – nicht bloß historisierende – Auseinandersetzung mit Marx engagierte, der setzte seinen Ruf aufs Spiel. Und so war es 1993 geradezu undenkbar, dass offizielle Vertreter des Staates oder des Landes auf einer Marx-Gedenkveranstaltung sprechen, geschweige denn, dass sie bei der Enthüllung einer überlebensgroßen Marx-Statue applaudieren würden.
Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist das Undenkbare eingetreten: Als am vergangenen Samstag die von der Volksrepublik China geschenkte 5,50 Meter hohe Marx-Statue in unmittelbarer Nähe der Porta Nigra enthüllt wurde, waren nicht nur Tausende Bürgerinnen und Bürger zugegen, sondern auch 200 Ehrengäste, darunter führende Repräsentanten der deutschen Politik. Tatsächlich ist der Marx-Hype in Trier derzeit so groß, dass man kaum 10 Meter durch die Innenstadt gehen kann, ohne dem Profil des Philosophen zu begegnen. Um den Hype zu befeuern, haben die Verantwortlichen keine Kosten und Mühen gescheut: Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat das Marx-Geburtshaus frisch aufpoliert, fast täglich finden irgendwo in Trier Marx-Veranstaltungen statt. Die Museen der Stadt profilieren sich mit der größten Karl-Marx-Ausstellung, die es je gegeben hat. Selbst das katholische Diözesan-Museum ist redlich darum bemüht, mit dem Konterfei des "berühmt-berüchtigten Atheisten" Marx Besucher anzulocken.
Gründe für den Marx-Hype
Die Gründe für den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung sind leicht auszumachen. Grund 1: Drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus fällt es vielen leichter, sich Marx unbefangener zu nähern und die Unterschiede zwischen Marxismus und Leninismus zu erkennen. Grund 2: Im Zuge der Finanzkrise wurde so manchem klar, dass Marx' Prognosen bzgl. der "zyklischen Krisen des Kapitalismus", des "Schwindels" profitabler Investitionen in "fiktives Kapital", der "Akkumulation des Kapitals" sowie des gefährlichen Zusammenspiels von Überproduktion und Unterkonsumption in voll technisierten, kapitalistischen Gesellschaften nicht völlig substanzlos waren. Grund 3: Die Volksrepublik China, die sich noch immer und seit der Öffnung der Märkte wohl sogar mit größerem Recht auf Marx beruft (schließlich meinte Marx, dass das kommunistische "Reich der Freiheit" nur auf der Grundlage eines hochentwickelten Kapitalismus möglich sei!), hat sich im letzten Vierteljahrhundert zu einer globalen Wirtschaftsmacht und dem wohl wichtigsten Motor des globalen Wirtschaftswachstums entwickelt, was der chinesische Botschafter am Samstagmittag bei der Enthüllung der Marx-Statue auch mit einigem Stolz verkündete.
Kein Wunder also, dass sich deutsche Politikerinnen und Politiker mit dem immer wichtiger werdenden Wirtschaftspartner China gütlich stellen wollen. Und das gilt in besonderer Weise für die politisch Verantwortlichen in Marx' Geburtsstadt, die, wie es scheint, endlich begriffen haben, welch enormes Kapital im Verfasser des "Kapital" steckt. Tatsächlich ist es nicht ausgeschlossen, dass Marx als Tourismusmagnet langfristig mehr Menschen nach Trier locken wird als Konstantin der Große. Mancher Hotelier träumt bereits von den vielen Millionen Chinesen, die Trier besuchen werden, wenn sich die älteste Stadt Deutschlands noch offensiver als "marxistisches Betlehem" vermarktet.
Der Kapitalismus hat einen guten Magen
Dass Karl Marx, der scharfsinnige Kritiker des "Warenfetischismus", im Zuge dieser Entwicklung selbst zu einer "fetischisierten Ware" wird, ist eine Ironie der Geschichte, aber nicht wirklich erstaunlich. Denn der Kapitalismus hat einen ähnlich guten Magen wie die Katholische Kirche. Er kann nahezu alles und jeden in sich einverleiben und verdauen – selbst seine größten Kritiker. Kaum jemand hat dies je so trefflich beschrieben wie der alte Marx. Von daher hätte es ihn vielleicht auch eher erheitert als erzürnt, wenn er die breite Palette an Produkten hätte sehen können, die derzeit mit seinem Gesicht zum Verkauf angeboten wird – vom Karl-Marx-Brot zum Karl-Marx-Wein und von der Karl-Marx-Spardose bis zum Karl-Marx-Quietsche-Entchen. Ja, der olle Marx macht mobil – bei Arbeit, Sport und Spiel…
Wie weit der Marx-Reibach tatsächlich geht, wurde mir allerdings erst kurz vor der Enthüllung der Marx-Statue klar: Um auf den Simeonstiftplatz mit der Plastik zu gelangen, musste man eine Personenkontrolle passieren, bei der die Taschen der Besucherinnen und Besucher gründlich durchsucht wurden. Ich dachte zunächst, dies sei eine (angesichts der vielen anwesenden Politikerinnen und Politiker) notwendige Sicherheitsmaßnahme, doch weit gefehlt: Es ging den Kontrolleuren nicht etwa um Messer oder Pfeffersprays, sondern um mitgebrachte Getränke und Butterstullen! Solch gefährliches Gut durfte auf den Platz mit der Marx-Statue selbstverständlich nicht mitgenommen werden, da es den Essens- und Getränkeanbietern während der etwa zweistündigen Enthüllungszeremonie den Umsatz verhagelt hätte. Als braver Konsument habe ich den damit verbundenen Imperativ natürlich sofort verstanden und, kaum dass ich das abgezäunte Gelände betreten hatte, eine Runde "Marx-Wein" ausgegeben, um meinen bescheidenen Anteil zur kapitalistischen Profitsteigerung zu leisten.
Überraschende Einsichten bei den Sozialdemokraten
Dass Marx zur Ware gemacht wird, bedeutet nicht, dass es an seinem Geburtstag keine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm gegeben hätte. Für die positivste Überraschung sorgten in diesem Zusammenhang – man höre und staune – die Sozialdemokraten! Den Anfang machte bereits zwei Tage vor dem Jubiläum Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im (von Trier aus) fernen Berlin, der zu einer Marx-Veranstaltung ins Schloss Bellevue einlud und mit einer klugen, ausgewogenen Rede in die anschließende Diskussion einführte, die von Jürgen Neffe, Marx-Biograph und gbs-Beirat, moderiert wurde.
Am selben Tag entdeckte ich abends zu meiner Verwunderung Kurt Beck und Malu Dreyer bei der Eröffnung der Werkschau des Trierer Künstlers Helmut Schwickerath, in deren Zentrum der "Marx-Altar" mit der "Heiligen Unterhose" steht. Ursprünglich als satirischer Kommentar zur christlichen Heilig-Rock-Wallfahrt geschaffen, dient der Altar gegenwärtig als Kontrapunkt zur Kommerzialisierung der "Marke Marx" sowie zur anhaltenden Marx-Sakralisierung durch Altkommunisten (etwa der DKP, die am Samstag fleißig demonstrierte) bzw. zur Marx-Dämonisierung durch alte und neue Rechte (etwa der AfD, die den 200. Geburtstag ebenfalls propagandistisch nutzte). Malu Dreyer und Kurt Beck machten auch am Samstagmorgen bei der Eröffnung der neuen Ausstellung im Karl-Marx-Haus eine gute Figur, als sie die sozialdemokratische Sicht auf Marx als einem "Kämpfer für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie" wortgewandt gegen rechte und ultralinke Kritiker verteidigten.
Ein bewegender Festakt
Der intellektuelle und ästhetische Höhepunkt der Veranstaltungen am Samstag war zweifellos der Marx-Festakt der SPD im Trierer Theater, der dort in Erinnerung an eine berühmte Rede von Willy Brandt vor 50 Jahren (zum 150. Geburtstag von Karl Marx im Jahr 1968) stattfand. Eigentlich handelte es sich bei dem Festakt, zu dem ein Großteil der aktuellen und früheren SPD-Führungsriege angereist war (u.a. Andrea Nahles, Katarina Barley, Malu Dreyer und Kurt Beck) um eine parteiinterne Veranstaltung mit geladenen Gästen, zu der ich als Parteiexterner dank Jürgen Neffe Zugang erhielt, der neben Andrea Nahles den Hauptvortrag hielt.
Ich muss gestehen: Andrea Nahles überraschte mich mit einer ausgesprochen guten Rede. Was die Klarheit der historischen Perspektive und den ökonomischen Tiefgang betrifft, war ihr Vortrag deutlich besser als die Rede, die Gregor Gysi einige Stunden später im Audimax der Universität zum Marx-Geburtstag beisteuerte. (Gysi konnte zwar durch witzige Formulierungen und hübsche Anekdoten punkten sowie durch die Unverfrorenheit, die Trierer Universität in Anwesenheit des Unipräsidenten in "Karl-Marx-Universität" umzubenennen, insgesamt aber schien er auf seinen Marx-Vortrag 2018 weniger gut vorbereitet gewesen zu sein als auf die Rede, die er 1993 im Rahmen unserer Veranstaltungen zum 175. Geburtstag von Marx gehalten hat.)
Dass der SPD-Festakt im Trierer Theater zu einem bewegenden Ereignis wurde, lag vor allem an den Gästen, die der Parteivorstand eingeladen hatte, z.B. an Christian Brückner (Synchronsprecher u.a. von Robert de Niro und Robert Redford), der mit seiner markanten Stimme zentrale Passagen aus Marx' Werken vortrug (wer ihn gehört hat, wird die Poesie der Marxschen Sprache kaum wieder vergessen). Auch die Band "Die Grenzgänger", die Gedichte und Liedtexte des jungen Marx neu vertont hat und mit großer Spielfreude auf die Bühne brachte, war eine positive Überraschung. Überzeugend war nicht zuletzt auch der Vortrag von Jürgen Neffe, der die Grundgedanken des Marxschen Werks erläuterte und der SPD anschließend die Leviten las, indem er die Verantwortlichen der Partei dazu aufforderte, sich wieder stärker an den Leitideen der Sozialdemokratie zu orientieren, statt über jedes Stöckchen zu springen, das man ihnen hinhält.
Neffe plädierte auch dafür, die SPD für Menschen zu öffnen, denen kein sozialdemokratischer Stallgeruch anhaftet, vor allem auch für diejenigen, die dem (politischen) Islam kritisch gegenüberstehen, was man keineswegs reflexartig als eine Form von "Rassismus" interpretieren dürfe. Vor allem mit diesem Punkt legte Neffe den Finger in eine offene Wunde der SPD. Denn obgleich Marx zu den wichtigsten Religionskritikern aller Zeiten gehört, besitzt die Partei, die sich bis 1949 explizit auf ihn berufen hat und die nun zaghaft wieder Anschluss an ihn sucht, keinerlei religionskritische Kompetenz (abgesehen von einigen wenigen rühmlichen Ausnahmen). Tatsächlich meidet die SPD die Religionskritik so sehr wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser! Kein Wunder also, dass bei den unzähligen Marx-Veranstaltungen dieses Jahres das Thema "Religionskritik" völlig untergeht, schlimmer noch: dass Marx bei den Gedenkveranstaltungen in einer Weise religiös vereinnahmt wird, die geradezu groteske Züge annimmt.
Die Verdrängung der Religionskritik
So fand die Auftaktveranstaltung zum Marx-Jahr ausgerechnet in einer evangelischen Kirche statt, und zwar in jener Basilika, in der Konstantin der Große einst residierte, bevor er sich aufmachte, um im "Zeichen des Kreuzes" die Heere seiner Konkurrenten niederzumetzeln. Malu Dreyer und EU-Kommissionspräident Jean-Claude Juncker sprachen sozusagen von der Kirchenkanzel aus, als sie am Freitagabend das Lebenswerk eines Mannes würdigten, der die "Kritik der Religion" als "Voraussetzung aller Kritik" verstanden hatte und der als einer der bedeutendsten Atheisten aller Zeiten in die Geschichte eingegangen ist. Und damit nicht genug: Statt eines Religionskritikers kam nach den Festreden von Dreyer und Juncker der Trierer Bischof Ackermann zu Wort, als sei dies das Normalste der Welt. Offenkundig hatten die Organisatoren des Festakts überhaupt kein Gespür dafür, dass es unangebracht, ja geschmacklos sein könnte, einen entschiedenen Religionskritiker wie Marx in solch schamloser Weise religiös zu vereinnahmen. (Einen schönen Eindruck vom christlichen Setting der Marx-Jahr-Auftaktveranstaltung geben die Bilder von Malu Dreyer und Jean-Claude Juncker auf SPIEGEL-Online).
Wie sehr die Organisatoren der Marx-Veranstaltungen bemüht sind, jede Erinnerung an die Marxsche Religionskritik zu eliminieren, wurde mir schlagartig bewusst, als ich beim SPD-Festakt den rot illuminierten Saal des Trierer Theaters betrat. Die Bühne war mit großen Fahnen geschmückt, die bekannte Marx-Zitate wiedergaben. Das oberste Zitat sprang mir sofort ins Auge, da es eine ebenso auffällige wie symptomatische Kürzung enthielt: "Die Kritik", hieß es da, "endet mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Welche Kritik?, fragt man sich unwillkürlich. Natürlich die "Kritik der Religion"! Durch das Weglassen der beiden Worte entledigten sich die SPD-Verantwortlichen der peinlichen Erkenntnis, dass für Marx die Kritik der Religion die notwendige Voraussetzung dafür war, um zu einem echten, ernstgemeinten Humanismus zu gelangen. (Im Marxschen Original lautet die Stelle wie folgt: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.")
Ich wunderte mich nicht darüber, dass bei dem SPD-Festakt alles darauf angelegt war, das Thema "Religionskritik" tunlichst zu vermeiden – eine Marschroute, der Malu Dreyer und Andrea Nahles in ihren Festreden auch folgten. Erfreulicherweise aber zeigte Jürgen Neffe in seinem Vortrag auf, dass die Marxsche Kapitalismuskritik nur vor dem Hintergrund seiner Religionskritik verständlich ist, es also gar nicht möglich ist, den Ökonomen Marx losgelöst vom Religionskritiker Marx zu betrachten. Eine schöne Abrundung fand dieser schöne Kontrapunkt zur offiziellen Festtags-Linie, als die Band "Die Grenzgänger" ganz am Schluss der Veranstaltung eine – mit den Organisatoren vermutlich nicht abgesprochene – Zugabe spielte, nämlich ein satirisches Lied des jungen Marx über das christliche "Weltgericht" mit dem schönen Refrain: "Dann sollen wir Gott, den Ewigen loben / Hallelujah ewig schrei'n / Haben ihn nie genug erhoben / Kennen nicht mehr Lust und Pein / Ich will da nicht rein / In 'n Himmel will ich nicht rein!" Das Lied erregte bei den Genossen im Theatersaal erfreulicherweise viel Erheiterung – wobei diejenigen, die über die Marxsche Himmelsverweigerung so gar nicht lachen konnten, zumindest durch die letzten Zeilen des Gedichts des 18-jährigen Marx besänftigt wurden: "Seht, das alles träumt' ich heute / Von dem letzten Reichsgericht / Drum zürnt nicht, gute Leute / Denn der Träumer sündigt nicht".
Gründe für die linke Aversion gegen Religionskritik
Ich will nicht missverstanden werden: Die politische Aversion gegen Religionskritik, die bei den Marx-Feierlichkeiten besonders deutlich zutage trat, ist keineswegs nur ein Problem der SPD, sondern ein Problem der Linken insgesamt. (So erstaunt es nicht, dass auch Gregor Gysi in seiner Geburtstagsrede den Religionskritiker Marx kein einziges Mal erwähnte.) Zum Teil hat Marx dieses Problem selbst mitverschuldet. Denn seine wichtigste Abhandlung zur Religionskritik, die 1844 erschienene "Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" (die entscheidenden Passagen dieser Schrift hat die Giordano-Bruno-Stiftung anlässlich des 200. Geburtstags auf ihrer Website veröffentlicht), beginnt bedauerlicherweise mit einer kolossal falschen Einschätzung, nämlich der Behauptung, für Deutschland sei "die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt".
Offenkundig war Marx vom globalen Siegeszug des Kapitalismus, der alles "Ständische verdampft" und "alles Heilige entweiht", derart überzeugt, dass er einen Fehler beging, der ihm als "Dialektiker" eigentlich niemals hätte unterlaufen sollen: Marx unterschätzte nämlich die gesellschaftlichen Widersprüche, die der Kapitalismus auslöst. Zwar hat die kapitalistische Umwälzung der menschlichen Lebensverhältnisse tatsächlich, wie es Marx prognostiziert hat, die Prozesse der Globalisierung und Säkularisierung in kolossaler Weise forciert, zugleich aber haben diese Prozesse massive Gegenbewegungen hervorgerufen, die uns aktuell in Form von nationalem Chauvinismus und religiösem Fundamentalismus gegenübertreten.
Marx hätte das Auftreten dieser Widersprüche wohl als unbedeutende Etappe auf dem unaufhaltsamen Siegeszug des Kapitalismus gedeutet – aber genau hierin zeigt sich der naive Fortschrittsoptimismus, den Marx mit den Hegelianern seiner Zeit teilte, glaubten sie doch, dass die Weltgeschichte über These, Antithese und Synthese unaufhörlich von Fortschritt zu Fortschritt eilt. Für diese Annahme gibt es allerdings keine vernünftigen Gründe. Tatsächlich nämlich ist nicht nur das Bessere Feind des Guten (wie Hegelianer meinen), sondern auch das Schlechtere! Es ist keineswegs ausgemacht, dass der entwickelte Kapitalismus letztlich in das von Marx verheißene "Reich der Freiheit" führen wird, ebenso gut ist es möglich, dass er religiös-nationalistische Diktaturen hervorbringt, die ihre Herrschaft mit den kapitalistisch entfalteten Produktivkräften der Künstlichen Intelligenz langfristig absichern können.
Ein unterkomplexes Weltbild
Ein zentrales Problem vieler Linker besteht darin, dass sie diese Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung, also des Wechselspiels von Globalisierung und Nationalismus, von Säkularisierung und Fundamentalismus, nicht wirklich begreifen und sich aus diesem Defizit heraus mit nahezu allen Kräften verbünden, die in irgendeiner Weise "kapitalismuskritisch" anmuten (mitunter sogar mit Islamisten, die sie als "Anti-Imperialisten" fehldeuten!). Dabei übersehen sie den wesentlichen Punkt: Man kann nämlich den gegenwärtigen Kapitalismus sowohl emanzipatorisch überschreiten als auch reaktionär unterschreiten! Viele derer, die sich heute damit brüsten, den Kapitalismus religiös "zähmen" zu wollen (etwa Papst Franziskus, der tatsächlich weit reaktionärere Vorstellungen vertritt, als es die meisten Linken wahrhaben wollen), führen die Menschheit keineswegs in eine bessere Zukunft, ins "Reich der Freiheit", sondern zurück in die Vergangenheit, in die finstere Zeit der "frommen Schwärmerei" und der "heiligen Blutsbande", die Marx als für alle Zeiten überwunden glaubte.
Um sich diese Gefahr zu vergegenwärtigen, genügt es, einen Blick auf die "Internationale der Nationalisten" zu werfen, die von Moskau bis nach Washington reicht. Man mache sich bewusst, wie Trump, Putin, Erdogan & Co. nationalen Chauvinismus und reaktionäre religiöse Werte miteinander verrühren, um ihre Herrschaft abzusichern. Dank Pegida, AfD und Söder wird diese reaktionäre Denkungsart allmählich auch in Deutschland hoffähig. Wer angesichts dieser brandgefährlichen historischen Situation Religionskritik ausspart, ja sogar negativ sanktioniert, beweist damit nur, dass er (oder sie) ein unterkomplexes Weltbild besitzt und die Brisanz der gegenwärtigen weltpolitischen Lage nicht einmal ansatzweise einzuschätzen vermag.
Andrea Nahles sagte in ihrer Festtagsrede, dass die SPD ihrem Vordenker Karl Marx viel zu verdanken habe, dass sie aber selbstverständlich keine "marxistische Weltanschauungspartei" mehr sei. Das ist nicht nur richtig, sondern auch gut so! Allerdings wäre es für die Sozialdemokratie nur von Vorteil, wenn sie sich die Grundlage der Marxschen Weltanschauung, nämlich das Fundament eines weltlichen, dezidiert nicht-religiös begründeten Humanismus wieder stärker ins Bewusstsein rufen würde. Das heißt keineswegs, dass man als Mitglied der SPD notwendigerweise agnostische oder gar atheistische Positionen vertreten müsste. Aber es bedeutet sehr wohl, dass man als Sozialdemokratin oder Sozialdemokrat klar und deutlich für eine weltoffene, säkulare Politik einstehen sollte – und das verlangt, dass man der schleichenden Bedrohung durch religiöse und/oder nationale Egoismen mit allergrößter Entschiedenheit entgegentritt! Um es einmal in Abwandlung eines bekannten Marx-Wortes zu sagen: Dem "Reich der Freiheit" sind wir erst dann ein Stückchen näher gekommen, wenn gläubige Politikerinnen und Politiker morgens eine dezidiert säkulare Politik betreiben und erst abends, nach Dienstschluss, ihren "religiösen Gefühlen" freien Lauf lassen. Von der Erfüllung dieser politischen Grundforderung an einen modernen, säkularen, weltanschaulich neutralen Staat sind wir noch immer weit entfernt.
16 Kommentare
Kommentare
Karol Dittel am Permanenter Link
Die heilige Unterhose ist so was von cool. Will auch eine *g ich frage mich wer bereit wäre meine Unterhose, nach meinem Ableben, in so einer schicken Vitrine aus zu stellen ?
Markus Schiele am Permanenter Link
Ich wage zu bezweifeln, dass Nahles ihre Rede selbst geschrieben hat.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Man kommt schon in ein - halb belustigtes - Nachdenken, wenn man den Kontrast von vor 25 Jahren und dem Hype heute nachempfindet, den MMS hier so treffend beschreibt.
Und was geschieht nun? Marx steht sozusagen ohne Ballast für eine Vereinnahmung durch den Kapitalimus zur Verfügung. Nicht nur, dass er zum Objekt reinsten "Warenkapitalismus" gemacht wird, es wird auf der politischen Ebene alles "abgespalten" (um diesen Begriff aus der Psychologie bewusst zu benutzen), was nicht in Einklang mit dem Mainstream von heute ist - schlicht, Marx wird "passend gemacht". Dass man sich dabei mit den gemäßigt-kommunistischen Chinesen seitens der gemäßigt-konservativen Deutschen in der Mitte trifft, ist doch eine feine Sache!
Und wirklich geschieht dies genau durch die "Abspaltung" (man könnte auch "Verleugnung" oder "beschämtes Verschweigen" sagen) des unverzichtbaren, grundlegenden religionskritischen Fundaments von Marx' Werk. Schön herausgearbeitet im Artikel. Ja, das ist die Krankheit der heutigen Linken: Die Blindheit dafür, dass Marx' religionskritischer Impetus gar nicht von seinen Gedanken, dem, was den Sozialdemokraten an Marx heute (wieder) bemerkenswert erscheint, loszulösen ist. Ob der Knoten bei den Linken wohl platzt, wenn darüber anlässlich Marx' Geburtstag mal mehr reflektiert wird? Man würde es sich wünschen. Nach meinem Dafürhalten ist sich das linke "Fußvolk" dessen weitaus mehr bewusst als die politisch handelnde Ebene. Bis hin zu einem Riss, einem Vertrauensverlust zwischen diesen Ebenen. Man schaue sich nur hier beim hpd einmal die Beiträge und vor allem die Kommentare aus dem vorigen Jahr zu den Statements der LINKEN-Programmatiker Christine Buchholz und Helge Meves an (und die Antwort von Gunnar Schedel natürlich) - eine Katastrophe für die Glaubwürdigkeit linker Politik, nach meiner Ansicht.
Thomas am Permanenter Link
"Dem "Reich der Freiheit" sind wir erst dann ein Stückchen näher gekommen, wenn gläubige Politikerinnen und Politiker morgens eine dezidiert säkulare Politik betreiben und erst abends, nach Dienstschlus
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Das wird wohl nicht geschehen, denn der Irrationalismus einschließlich der ihn ermöglichenden Grundbereitschaft zu evidenzwidrigem Glauben kommt dem Kernel eines "geistigen Betriebssystems" gleich, nicht bloß einem kleinen installationsfreien Programm, das man nach Bedarf öffnet und schließt. Die (Welt-)Gesellschaft wird sich nur in dem Maße ethisch entwickeln können, wie es ihr gelingt, die Religionen und ihre Metastasen aus dem Denken und Verhalten der Menschen zu entfernen. Von uns fordert das konsequente (selbstverständlich gewaltfreie) Intoleranz gegen alle Formen des Irrationalismus und den Verzicht auf falschen Respekt für die "Religionsfreiheit".
Karl am Permanenter Link
So viel Text und keine Zeile über die Kritik am Marxismus selbst. Der Marxismus und sein philosophischer Unterbau scheinen mir selbst irrationale Ideologien zu sein.
Karl
Robert am Permanenter Link
Darf ich fragen, welche Schriften Sie von Karl Marx gelesen haben? Und in welchen Schriften oder Passagen seiner Schriften - Ihrer Meinung nach - eine Grundlage für viele Millionen von Morden liegt?
Karl am Permanenter Link
Vollständig durchgelesen habe ich nur das kommunistische Manifest. Aber ich bitte dich, muss man zu allem Primärliteratur lesen?
Wenn ich kurz das kommunistische Manifest nach "Gewalt" suche, wird man schon fündig:
"Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern."
Oder hier einfach nach "Gewalt" suchen:
https://de.wikiquote.org/wiki/Karl_Marx
Man muss meiner Meinung nach schon ziemlich blind sein, um da den Zusammenhang von Marx und Gewalt zu verleugnen. Mag sein, dass das von ihm so nie beabsichtigt war, aber seine Schriften waren wohl für zukünftige Denker, Terroristen und diktatorische Staatsführer wie Lenin, Mao und Stalin Grundlage, um Gewalt zu legitimieren. Oder kennst du vergleichbare Übeltäter, die sich auf Schriften von Immanuel Kant oder John Stuart Mill berufen haben?
Karl
Thomas Göring am Permanenter Link
Ja, Marx & Engels und "die Gewalt"... Klar: das haben spätere Politverbrecher durchaus für ihre eigene Herrschaft gierig auszuschlachten gewusst.
ABER: Wer von uns heutigen wohlstandsgepäppelten Bundesbürgern kommt auch nur einmal auf die Idee, sich wenigstens ansatzweise kurz in die in jeder Hinsicht entsetzlichen Lebensverhältnisse der damaligen arbeitenden Klasse hineinzuversetzen? Oder überhaupt auch bloß den Bruchteil eines eigenständigen Gedankens darüber fertigzubringen?Ausführliche sozialgeschichtliche Informationen über diese extrem unmenschlichen Daseinsverhältnisse gibt es immerhin zur Genüge.
Und dazu könnten durchaus auch Sie ruhig einmal als "Primärliteratur" das Buch von Friedrich Engels über "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (geschrieben 1842) lesen.
Diese damaligen Verhältnisse machen das mit der "Gewalt" bei Marx nicht "entschuldbar", dürften aber als sachdienlicher Kompakt-Hinweis darauf diesen, warum Marx überhaupt auf dieses Wort gekommen sein könnte - zumal im Zeitalter der Revolutionen (1789-1830-1848-1871)...
Konservative & Kleriker freuen sich natürlich immer sehr, wenn man aus Marx & Engels als "die" Quintessenz letztlich nur dies allein herauszieht: Intoleranz & Gewalt!! (Punkt, Ende, Aus; keine weitere darüber hinausgehende - nach Zusammenhängen fragende - Reflektion.) Sie freuen sich darüber, denn das belebt doch ihr Geschäft!
Thomas Göring am Permanenter Link
Sie kanzeln hier so ganz im Vorbeigehen den "Marxismus selbst" vollmundig als "Irrationalismus" und "Quatsch" ab.
Zu Ihrer Orientierung:
"Zeilen über die Kritik am Marxismus selbst" finden Sie im vorausgegangenen vierteiligen hpd-Artikel über den "Mythos Marx".
Oder wollten Sie hier nur mal eben schnell etwas Dampf (= heiße Luft) ablassen?
(Solche Leserkommentarschreiber soll es ja mitunter geben...)
Karl am Permanenter Link
Hier eine neutralere Quelle als ich über den Marxismus als Ideologie: http://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/33600/marxismus?p=all
Thomas Göring am Permanenter Link
@ Karl
Danke! Warum haben Sie diese gute, weil sachliche, Quelle denn nicht gleich genannt? Dieser Text von A. Pfahl-Traughber ist sehr lesenswert!
(Da hätte ich mir meine Antwort-Kommentare an Sie nämlich glatt als unnötig schenken können, :-) )
MfG Th. Göring
Rudi Knoth am Permanenter Link
Nun meine Ansicht dazu. Bis etwa vor 40 Jahren war es auch unter Linken so, dass die Religionen (Kirchen) kritisch gesehen wurden. Mit der Revolution im Iran hat sich diese Einstellung geändert.
Thomas Göring am Permanenter Link
Genau! Und die vom iranischen Mullahregime aufgestellte "antikolonialistische" bzw. in diesem Falle "antizionistische" "Befreiungsarmee" Hisbollah im Libanon paradiert mit Hitlergruß...
Marianne Schweizer am Permanenter Link
MSS übernimmt von Marx die Rede von "gesellschaftlichen Widersprüchen". Damit tut er etwas, was sein Lehrer Hans Albert kritisiert.
Im übrigen sehe ich ein Hauptproblem bei Marx in seiner "kognitiven Ethik", die seine Lehre ähnlich gefährlich wie die von Religionen machte. Das ich im hpd-Telegramm vom 7.5. zu Teil 4 von "Mythos Marx" ein bisschen näher darzulegen versucht.
Ullrich Knappe am Permanenter Link
Ein herrlicher Artikel. Vielen Dank dafür. Den Kernsatz, den ich für mich mitnehme ist:
"Man kann nämlich den gegenwärtigen Kapitalismus sowohl emanzipatorisch überschreiten als auch reaktionär unterschreiten! "
Das reaktionäre Entwicklungen erfolgreich sein könne, kann man in der Geschichte auch am Beispiel des römischen Reiches erkennen, das sich von einer Republik zu einem Kaiserreich entwickelte und als dieses recht erfolgreich war.
Christoph Wagenseil am Permanenter Link
Eine Besprechung des Beitrages finden Sie unter: https://www.remid.de/blog/2018/06/wenn-die-theologie-der-religionskritikerinnen-auf-konfessionslose-islambilder-trifft/
Mit besten Grüßen