Interview

"Das Buch schüttelt den Sakristei-Staub aus den Geschichtsbüchern ..."

Manche Momente verändern die Welt. Die Verkündung des Erlasses "Cunctos populos", der den Katholizismus zur Staatsreligion im römischen Reich macht, war ein solcher Moment. Da ist sich der Historiker Rolf Bergmeier ganz sicher. In seinem neuen Buch "Machtkampf" begründet er seine Einschätzung. hpd-Autor Martin Bauer sprach mit Rolf Bergmeier über den Zusammenbruch der antiken Kultur, die Entstehung des Feudalismus und die Abkehr des Katholizismus von urchristlichen Prinzipien.

hpd: Herr Bergmeier, Ihr neues Buch heißt "Machtkampf" – wer hat denn bei der Geburt der Staatskirche da mit wem um die Macht gekämpft?

Rolf Bergmeier: Am 28. Februar 380 ordnet der römische Kaiser Theodosius per Dekret an, "alle Völker sollen sich zu der Religion bekehren, die der göttliche Apostel Petrus den Römern überliefert hat. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen katholische Christen heißen dürfen; die anderen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande ketzerischer Lehre zu tragen." Die katholische Kirche segnet 381 den Erlass aus gutem Grunde ab. Gefangen zwischen der überlegenen griechisch-römischen Kultur und dem altehrwürdigen Judentum, bedrängt von der mächtigen christlich-arianischen Konkurrenz kann sich der Katholizismus nur dann als beherrschende Kraft durchsetzen, wenn er sich mit dem Staat verbündet. Das Bündnis hält bis heute, ist aber von Anbeginn durch interne Auseinandersetzungen um die moralische und politische Führung im Staat gekennzeichnet. Augustinus (354–430) meint, nur wenn sich der weltliche Staat in den Dienst des Gottesstaates stelle, habe er eine Existenzberechtigung, da er Folge des Sündenfalls sei, also ein Werk des Bösen. Deshalb habe die Kirche das gottgewollte Anrecht, letztlich das Handeln des Staates zu bestimmen. Der Mailänder Bischof Ambrosius schreibt zur gleichen Zeit, nichts sei wichtiger als die Religion, "der Kaiser ist in der Kirche, er steht nicht über der Kirche". Wie ein gewaltiger Parasit legt sie sich nunmehr eine religiöse Ideologie auf das Land. Ihre Gesinnung bestimmt fortan das soziale und politische Geschehen.

Markiert der Erlass "Cunctos populos" wirklich einen so starken Bruch? Hat sich der Aufstieg des Christentums auch im politischen Bereich nicht bereits seit Konstantin abgezeichnet?

"Cunctos populos" ist zunächst ein weiterer Bruch in der christlichen Religionsgeschichte. Der Staatskatholizismus löst das ursprüngliche Gemeinde-Christentum ab und lässt den Anspruch, eine Religion der Liebe und der Gedemütigten zu sein, ins Bodenlose stürzen. An die Stelle der "Feindesliebe" tritt die Verfolgung Andersdenkender und statt Armut pflegen die Kirchenführer einen ins Pharaonenhafte gesteigerten luxuriösen Stil. Die Freiheit wird unter dem Joch hunderter Dogmen versklavt, Religionskriege werden entfesselt, Kreuzzüge geheiligt und Kulturen bis in die fernsten Winkel Südamerikas vernichtet. Der ursprüngliche Glauben ist institutionalisiert und außer Kontrolle geraten.

Zur Behauptung zahlreicher Historiker, Konstantin I. (gest. 337) sei der "erste christliche Kaiser" gewesen und habe dem Christentum in den Sattel verholfen, habe ich bereits im Jahre 2010 auf 350 Seiten Stellung bezogen und Konstantin als religiöses Chamäleon bezeichnet. Lesenswert sind insbesondere die Widerlegung der Himmelserscheinung "In diesem Zeichen (des Kreuzes) siege" und der Nachweis, dass das Kreuz zur Zeit Konstantins noch gar nicht ein christliches Symbol gewesen, die Erscheinung folglich eine literarische Fälschung ist. Seither habe ich keinen Historiker mehr davon reden hören, Konstantin sei der erste christliche Kaiser gewesen.

Was ändert sich denn mit dem Erlass für die Menschen im Alltag?

Unmittelbar nach Erlass von "Cunctor populos" wird es gefährlich, sich zu einem anderen Glauben zu bekennen. Bereits 385 rollen in Trier die ersten Köpfe von christlichen, aber nicht-katholischen Priestern. Mittelfristig führt der strenge Dogmatismus zu einer dramatischen Verengung jeder nicht-katholischen geistigen Tätigkeit. Die öffentlichen Schulen werden geschlossen, die Bibliotheken veröden, Theater sind des Teufels und die Anrufung Heiliger ersetzt das Fachwissen von Ärzten. Von überragender Bedeutung ist der Verlust der Schriftsprache. Nur noch Angehörige des Klerus und Mönche in den Klosterschreibstuben können im Westen lesen und schreiben. Ohne Zugang zu Texten und Dokumenten, ohne gemeinsame Sprache und ohne öffentliche Schulen wird das Volk zur Spielmasse feudaler Herrschaften. Die Kirche aber gewinnt als Herrin der lateinischen Amtssprache eine ungeheure Macht.

Sie nennen vor allem kulturelle Veränderungen. Bedeutet das, dass der Übergang zum Feudalismus nicht in erster Linie ökonomische Ursachen hatte? Würden Sie so weit gehen, die Ideologie des Christentums als zentralen Auslöser für den Zusammenbruch der bisherigen Wirtschaftsordnung anzunehmen?

Beispielbild
Der Autor Rolf Bergmeier (© Evelin Frerk)

Eine Religion, die die Askese als höchstes Ziel menschlichen Daseins predigt, die Kaufleute verachtet und den Handel als nichtig bewertet, kann unmöglich den Nährboden für eine breite ökonomische Entwicklung bilden. Insoweit ist die Ideologie des Christentums nicht der einzige, aber ein zentraler Auslöser für den Zusammenbruch der Wirtschaftsordnung. Hinzu kommt die Unbildung der fränkischen Herrscher, die weder lesen noch schreiben können, noch irgendeine Erfahrung im internationalen Handel besitzen. Aus dieser Synthese frommer, ungebildeter Herrscher und glaubensverbohrter Bischöfe wächst seit dem 6. Jahrhundert eine der abträglichsten Wirtschaftsformen der Menschheitsgeschichte auf: Der Feudalismus mit Grundherrschaft, Leibeigenschaft und Schollenpflicht für mehr als 90 Prozent der Bevölkerung. Weltliche und kirchliche Herrscher dirigieren als von Gott ernannte Bevollmächtigte die Untertanen, die sich im Wesentlichen aus abhängigen Zinsbauern und aus Unfreien bzw. Leibeigenen zusammensetzen und die täglichen Arbeiten auf den kirchlichen, klösterlichen und weltlichen Herrengütern besorgen. Von ihnen wird neben Naturalien- und Fiskalabgaben regelmäßig unentgeltliche Fronarbeit für den kirchlichen oder weltlichen Gutsherrn verlangt. Die Belastungen sind so groß, dass viele Bauern kaum noch den Unterhalt der eigenen Familie bestreiten können. Sie werden im Regelfall wie Immobilien gehandelt und bei Verkauf eines verliehenen Gutes gemeinsam mit dem Gut verkauft. Diese nahezu bedingungslose Unterwerfung Halbfreier und Leibeigener wird von der Kirche "als von Gott in seiner vergeltenden Gerechtigkeit" vorbestimmte Ordnung begründet, gefördert und in den eigenen bischöflichen oder klösterlichen Liegenschaften angewendet.

Wo liegen denn die wichtigsten ökonomische Unterschiede zwischen beispielsweise dem römischen Gallien um 300 und dem frühmittelalterlichen Frankenreich?

Die Ökonomie des römischen Reiches basierte auf einer bewundernswert hohen Stadtkultur, auf intensivem internationalen Handel, auf Nutzung der See als Handelsweg, guten Verkehrswegen, technischer Innovationsfreude und auf einer gut ausgebildeten Verwaltung. Von all dem ist im Frankenreich nichts mehr zu sehen. Das Frankenreich präsentiert sich als ungebildet, provinziell und die herrschende Klasse versucht sich mit dauerhafter Kriegführung über Wasser zu halten. Was soll man von einem Kaiser Karl halten, der sein Riesenreich nicht aus einer Stadt regiert, sondern aus dem Sattel und den Frauen die Peitsche androht, wenn sie nicht das Vaterunser können?

Sklaven bilden natürlich einen wichtigen Kostenvorteil im römischen System, aber das tut die Armee von Unfreien im katholischen Mittelalter auch, ohne dass zwischen 500 und 1400 auch nur eine Wasserleitung, eine Straße, eine öffentliche Bibliothek gebaut wird. Stattdessen fließt der Mehrwert in die Taschen der Kirche und der Grafen und erlaubt ein Kloster nach dem anderen, eine Kirche neben der nächsten zu bauen.

Sie verteidigen sehr engagiert den Begriff des "Finsteren Mittelalters". Es gibt aber auch Stimmen, die darauf verweisen, dass gerade südlich der Alpen viele Elemente der antiken Kultur nicht verschwunden seien, sondern christlich überformt weiter existiert hätten. Was entgegnen Sie darauf?

Das "finstere" Mittelalter ist eine Epoche zwischen 500 und der Renaissance (um 1400), die nur die lateinsprachige, also katholische Welt berührt und nicht die orthodox-griechisch-byzantinische und die islam-arabische Welt zwischen Bagdad und Spanien. Während Bagdad, Damaskus, Alexandria und Toledo wachsen und prosperieren, dort Kultur und Wissenschaften neue Höhepunkte erreichen, während das "griechische" Ostrom (Konstantinopel/Byzanz) sich trotz seines Bekenntnisses zum Christentum zum antiken Erbe der Väter bekennt und weiterhin eine hohe Kultur vorzuweisen hat, wandelt sich das päpstliche Rom in eine Agrarstadt, in deren Mauern die Schafe weiden. Richtig ist es daher, den Wirkungsbereich eines "finsteren Mittelalters" nicht geographisch zu definieren, sondern weltanschaulich.

Sie verweisen gleich zu Anfang darauf, dass das Christentum im vierten Jahrhundert noch sehr vielstimmig gewesen sei und dass es eigentlich nicht ganz richtig ist, vom "christlichen Mittelalter" zu sprechen – es sei katholisch gewesen. In welche Richtung hätte die Geschichte denn anders verlaufen können, wenn sich eine andere Fraktion, sagen wir die Arianer, durchgesetzt hätten? Ganz zugespitzt gefragt: Ist die mittelalterliche Adelsherrschaft untrennbar mit dem katholischen Christentum verbunden?

Die Unterschiede des Katholizismus zum Christentum, so wie es ab Beginn des 2. Jahrhunderts als "Urchristentum" überliefert worden ist und in Gestalt der Bergpredigt seinen bis heute wirksamen moralischen Einfluss gewonnen hat, sind jedermann augenfällig: Weder hat der Dreifach-Zwei-Naturen-Gott samt einer "Gottesmutter der Schmerzen" etwas mit dem Gottesbild des Juden Jesus zu tun noch verträgt sich die dogmatische Alleinherrschaft der Bischöfe mit der demokratischen Gemeindeordnung der frühen Jesus-Bewegungen. Weder wird die enge Allianz mit den weltlichen Herrschern und die Ansammlung ungeheurer Reichtümer den idealistischen Grundsätzen des Neuen Testamentes gerecht noch der feudalistische Lebensstil der höheren Priester und ihre Sucht, sich durch Titel und ein aufwändiges Leben von den einfachen Menschen zu unterscheiden. Weder haben die ausgeprägte feindselige Intoleranz noch die zur Durchsetzung des Alleinvertretungsanspruchs eingesetzten Methoden irgendeinen Berührungspunkt mit der ursprünglichen Lehre von der Feindesliebe. So umstritten die Überlieferung des "Urchristentums" sein mag, so sehr die Verklammerung mit dem durchaus brutalen Alten Testament ihm Überzeugungskraft raubt, so sehr muss man aber den idealistischen Kern des Neuen Testamentes anerkennen. Der Katholizismus ist dagegen eine Religion sui generis, die sich bis heute mit den fremden Federn eines Urchristentums schmückt. Das haben Juden, Muslime, Arianer, Katharer, Hugenotten, Luther, Goethe, Nietzsche und zuletzt Karlheinz Deschner so gesehen. Der Unterschied ist von essentieller Bedeutung. Ohne "Cunctos populos" wäre die Geschichte vermutlich anders verlaufen, ohne die kulturellen, wissenschaftlichen und zivilisatorischen Verluste, die das Mittelalter bis zur Renaissance kennzeichnen. Ohne Kreuzzüge, die bis heute die Beziehungen zwischen Orient und Okzident auf traumatische Weise prägen, ohne Zwangstaufen und Indices verbotener Bücher, ohne Inquisition, Hexenverbrennung, Judenverfolgung, ohne Religionskriege, ohne Nordirland, wo sich Katholiken und Protestanten bis aufs Messer bekämpfen. Und ob es je einen Islam gegeben hätte, oder ob es neben der orthodoxen Richtung des Christentums auch eine arabische gegeben hätte, kann nur vermutet werden.

Ihr Buch stellt zwar die Gründung der Staatskirche in den Mittelpunkt, greift aber weit darüber hinaus. Können Sie Ihren Ansatz kurz erläutern?

Das Buch schüttelt den Sakristei-Staub aus den Geschichtsbüchern und ordnet die von Theologen und gläubigen Historikern betriebene religiös kontaminierte Kirchengeschichte der kritisch-wissenschaftlich betriebenen Geschichte unter. Es räumt mit der Vorstellung auf, die bis in die kaiserlichen Spitzen hinein bildungsfernen Franken hätten Mitteleuropa kulturell vorwärts gebracht. Es zeichnet den Untergang der Stadtkultur nach, begründet den ökonomischen Verfall Mitteleuropas und die Auflösung der geistigen Kultur als zwangsläufige Folge der Unbildung weltlicher Herrscher und einer monothematischen Kirchenkultur, die alles Handeln auf Gott ausrichtet. Wer die Metamorphose von der christlichen Ursprünglichkeit zur institutionalisierten "Kirche", vom polytheistischen Denken zur katholischen Zwangsherrschaft, vom Geist der Vernunft in den Ungeist der Dogmen nicht erkennt, wer die schädlichen Folgen jeder staatskirchlichen Allianz für eine rationale Gestaltung der Politik nicht sehen will, wer kein Verständnis dafür entwickelt, dass die feudale Gesellschaftsordnung des Mittelalters zugunsten der Grafen und Bischöfe das Hindernis des Mittelalters für eine kulturelle und geistige Expansion und wirtschaftliche Prosperität gewesen ist, wer nicht begreifen will, dass eine Welt ohne geistigen Dialog, ohne These und Antithese verkümmert und zu einer geistigen Wüste gerinnt, wird nur schwerlich die richtigen Folgerungen aus der mittelalterlichen Geschichte ziehen können. Das Buch korrigiert. Es schreibt die Geschichte des beginnenden Abendlandes nicht neu, macht aber deutlich, wem dieses "Abendland" seine überlegene Kultur und Zivilisation zu verdanken hat und wem nicht. Zu solchen Analysen sind Kirchengeschichtler nicht fähig.

Rolf Bergmeier: Machtkampf. Die Geburt der Staatskirche. Vom Sieg des Katholizismus und den Folgen für Europa. Alibri Verlag, 2018. 206 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-292-4