Rezension

Eine Streitschrift gegen die Illusionen der Liberalen und Linken

Nils Heisterhagen legt mit "Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen" eine Streitschrift gegen die Illusionen der Liberalen und Linken gegenüber Perspektivlosigkeit und Ungleichheit. Überzeugend macht er dabei auf Defizite in der politischen Wahrnehmung aufmerksam, lässt es aber auch bei der Argumentation ein wenig an Stringenz und Struktur fehlen.

Arbeiter und Arbeitslose wählen nicht mehr links, sondern rechts! Wie kommt das? Diese Frage wird nicht nur unter Linksintellektuellen kontrovers diskutiert. Ein Ansatz zur Deutung besteht darin, dass eher Identitätsfragen die Linke beschäftigen und weniger Sozialpolitik. Um diese Auffassung etwas zuzuspitzen, könnte sie auch wie folgt formuliert werden: "Es braucht … keine Gleichberechtigung-Pissoirs … weil Pissoirs nur für Männer ungerecht seien …, sondern es geht viel dringender um gute Löhne, bezahlbare Mieten, gute Renten, soziale Sicherheit …" (S. 181). Dies steht so in dem Buch "Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen", das Nils Heisterhagen vorgelegt hat. Er arbeitet als Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz. Es ist aber kein "SPD-Buch", sondern ein Appell ganz allgemein an die Linke zu mehr Realismus. Gleichzeitig wendet sich der Autor gegen die Ignoranz und Überheblichkeit, die von sich kosmopolitisch verstehenden "Kulturlinken" gegenüber den "kleinen Leuten" auszumachen sei.

Cover

Am Beginn stehen Ausführungen zu den "liberalen Illusionen", gemeint ist damit die Moralisierung von Politik, wobei vieles als "Gut" empfunden, aber die Realität nicht genügend wahrgenommen werde. Es ist dabei von einem neuen postmodernen Linksliberalismus die Rede, welcher "ein von einer neuen Akademikerklasse vorangetriebenes Selbstverwirklichungsdenken für Menschen widerspielt, welche aus den größten ökonomischen Nöten schon längst herausgewachsen sind" (S. 82). Dabei würden aber die bedenklichen Entwicklungen für die "kleinen Leute" ignoriert, habe sich doch die "Lebenschancen"-Rede als illusionär erwiesen, während die soziale Ungleichheit gestiegen sei. Demgegenüber würden Renationalisierungsphantasien von Rechtspopulisten ebendort verfangen, die gemeinten politischen Akteure seien dabei in ein thematisches Vakuum gestoßen. "Der Liberalismus hat kein Verständnis für diese Menschen" (S. 109). Genau dies sei eine Kernthese, welche das Buch in verschiedenen Kontexten durchziehe.

Der Autor macht die für ihn damit einhergehende Realitätsverweigerung dann an einem bestimmten Thema fest: der Migrationsfrage. Es heißt: "Das Ziel muss die Integration in Arbeit und durch Arbeit sein. Die dauerhafte Alimentierung der Flüchtlinge durch den Sozialstaat darf nicht das Ziel sein. Und das nicht nur wegen Perspektivlosigkeit … sondern vor allem aus sozialpolitischer Hinsicht" (S. 128). Danach geht es noch um weitere Fragen in diesem Kontext: So kritisiert Heisterhagen einen "Unabhängigkeitsliberalismus", der zu Egoismus führe und die Gesellschaft zerstöre. Er fordert auch dezidiert dazu auf, dass wieder über die Ökonomie geredet werden müsse. Die Linksliberalen hätten diesbezüglich mit den Neoliberalen eine diskursive Verdrängung mitgetragen. Um den "demokratischen Kapitalismus" zu retten, bedürfe es eines "Keynesianismus für das 21. Jahrhundert". Es gebe darüber hinaus zwischen Anerkennung und Umverteilung, Jobs und Umweltschutz keinen Zielkonflikt. Geboten wäre ein "Populismus der Liebe und Freiheit" (S. 219).

In der Gesamtschau fällt das Urteil über das Werk ambivalent aus: Einerseits macht der Autor überzeugend deutlich, dass eine liberale wie linke Elite von Illusionen über die Realität geprägt ist. Gerade die Ignoranz gegenüber Perspektivlosigkeit und Ungleichheit ließ ein bedenkliches Vakuum entstehen, welches nicht nur in Deutschland von Rechtspopulisten ideologisch gefüllt wird. Am Beispiel der Migrationspolitik erläutert dies der Verfasser überzeugend, wobei er hier noch viel ausführlicher und differenzierter hätte sein können. Anderseits hat das Buch in Form und Inhalt einige Unwuchten. Es gibt Kapitel mit vier und Kapitel mit 50 Seiten. Da stimmt etwas in der Strukturierung nicht. Und das hat auch inhaltliche Konsequenzen, denn nicht selten fehlt es den Ausführungen an einer geraden Linie. Außerdem betont der Autor allzu sehr seine individuellen Eindrücke. Es bleibt auch unklar, wer jeweils mit Liberalen und Linken gemeint sein soll. Gleichwohl liefert er eine beachtenswerte und reflexionswürdige Kritik – nicht nur für die politische Linke.

Nils Helsterhagen, Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen, Bonn 2018 (J. H.W. Dietz-Verlag), 350 S., ISBN 978-3-8012-0531-7, 22,00 Euro