Kommentar

Warum wir die Monogamie überdenken sollten

Wer mehrere Menschen zugleich liebt oder sich die Promiskuität stolz auf die Fahne schreibt, gerät immer seltener unter Rechtfertigungsdruck und muss sich insbesondere der jüngeren Generation kaum noch erklären. Die Vielliebe ist aber nicht nur eine akzeptable Alternative. Sie ist die ethisch überlegene Konzeption von Romantik und Sexualität. Denn Monogamie beherbergt aus seiner Natur heraus moralische Missstände, meint Deniz Y. Dix.

Menschenbilder – zwischen Selbstüberschätzung und Überforderung

In der Monogamie ruht die Vorstellung, dass ein einzelner Mensch alle menschlichen, romantischen und sexuellen Bedürfnisse einer anderen Person befriedigen könnte. Das ist verklärte Utopie. Man trägt gegenseitig Anforderungen an sich heran, die nicht zu erfüllen sind. Monogamie ist daher zwingenderweise Verzicht auf diese Bedürfnisse. 

Es folgt notwendig jene Patt-Stellung, in welcher man einander zunehmend an den Defiziten des anderen erkennt und in diesem wiederum die eigenen Unzulänglichkeiten gespiegelt sieht. In jeder monogamen Beziehung gibt es diese kleinen Konfliktpunkte, welche eigentlich so nebensächlich sein könnten, jedoch absurde Relevanz gewinnen, weil es eben nur die eine Person gibt, an der die Ansprüche haften bleiben. So stellt sich die Wahl: Beharrt man auf seinem utopischen Menschenbild, wodurch man sich und sein/e Partner/in mittels unerfüllbaren Anforderungen bodenloser Bringschuld aussetzt, oder akzeptiert man den systematischen Verzicht? Eine Lose-Lose-Situation.

Die Sache mit dem Vertrauen

Viele Menschen begeben sich aus dem Bedürfnis nach Vertrauen und Sicherheit in monogame Beziehungen und verkennen dabei die Ironie, dass dieses Beziehungsmodell die Mutter des Misstrauens ist. Wer die Treue des Partners aufgrund einer Vereinbarung – hier der vereinbarten Exklusivität – herbeiführt, wird nie unterscheiden können, ob die Verbundenheit in der Beziehung Resultat eines einst beschlossenen Regelwerks namens "Beziehung" ist, oder ob es sich aus tatsächlicher Zuneigung speist. Wer sich selbst den sozialen Druck aufbürdet, eine monogame Beziehung zu führen, verhält sich in seiner Beziehung gemäß der Erwartungen, und nicht gemäß seiner tatsächlichen Gefühlsverfassung – genau solange, bis man irgendwann überrascht feststellt, dass man jenseits des Beziehungsverhaltenskodexes kaum noch Gefühle hegt, nur wegen der Erwartungen treu lebte und sich gegenseitig etwas vorspielte. Aus latentem prophylaktischem Misstrauen einigt man sich auf monogame Beziehungen und landet in der Ungewissheit. Welches Vertrauen soll dadurch gewonnen sein?

Nur, wenn mein Partner die Möglichkeit hat, sich von mir zu entfernen, kann ich Gewissheit darüber erlangen, ob mein Partner das möchte. Ist dies verboten, wird es ein Ratespiel, ob sich mein Partner aus Zuneigung oder aus Pflichtgefühl mir gegenüber verbunden zeigt. 

Das qualitative Gütesiegel

Für viele Menschen fühlt sich der Beginn einer monogamen Beziehung wie eine Zäsur an. Man lernt sich kennen und ab einem bestimmten Punkt sagt man: "Wir sind jetzt zusammen". Plötzlich sind andere Dinge erlaubt bzw. verboten als zuvor. In Beziehungsfragen determiniert das gewählte Wort die Dynamik, nicht die Dynamik die Bezeichnung. Auf diese Weise bringt das so gefühlte "Level up!" die Betroffenen dazu, sich jenseits ihres eigenen Taktes zueinander zu verhalten, der "Fluss" des tatsächlichen Zueinanders wird gewaltsam in die Bahnen des sozial Erwarteten gepresst – von einer Sekunde auf die andere.

Die Steigerung davon wäre die Eheschließung. Zu heiraten fühlt sich wie eine romantische Errungenschaft an, der Olymp des Liebens. Doch hier ist, was wirklich geschieht: "Ich liebe dich so sehr, ich will unbedingt, dass ab diesem willkürlich gewählten Moment die Erwartungen der Gesellschaft unsere intimsten Lebensbereiche bestimmen, außerdem sollten wir noch Bürokraten und die Kirche hinzuziehen, denn wenn Staat und Klerus nicht involviert sind, fühlt es sich für mich nicht vollständig an!" – das klingt gewiss nicht gesund, wenn man darüber nachdenkt. Explizit geschlossene Beziehungen sind keine hierarchische Errungenschaft, nur ein Label, um sich die Auseinandersetzung zu ersparen, wie man tatsächlich zueinander steht. In gewisser Weise ist es auch Resignation. Übernehme ich die soziale Kategorie einfach und ordne mich dieser unter, muss ich mir keine eigenen Gedanken mehr darum machen, wie meine Beziehung konkret auszusehen hat. Sapere aude!

Betrug und Selbstbetrug

Es gibt zahlreiche Untersuchungen, ob monogame Partner einander "betrügen". Die gängige Zahl lautet: In 60 Prozent der Fälle – aber ganz ehrlich, das sind ja nur die, welche es zugeben. Aber ein "Betrug" wird es eben nur, wenn man vorher eine Vereinbarung getroffen hat, und nur wenn es Betrug ist, ist es auch verletzend. Ohne eine solche Vereinbarung setzt man sich noch nicht einmal potenziell der Gefahr aus, verletzt zu werden.

In einer Beziehung zu "betrügen" ist heutzutage geächteter und verletzender, als so gut wie jedes andere Vergehen in einer Beziehung, weil sich niemand die "Ja, und?"-Frage stellt. Dieser Verletzbarkeit setzt man sich grundlos aus, indem man Besitzdenken praktiziert, Normen unreflektiert übernimmt und sich abgewertet fühlt, wo man sich aufgewertet fühlen könnte. 

Fehlgeleitete Eifersucht

Es ist zweifelsohne unangenehm, an Eifersucht zu leiden, doch dieses Gefühl schürt eine falsche Intuition dahingehend, wer sie verursacht. Wer sich eifersüchtig fühlt oder gar verhält, trägt die Verantwortung dafür selbst. Die Schuld ist nie bei einem/r Partner/in zu suchen. Wieso sollte jemand anderes für die eigenen Persönlichkeitsschwächen aufkommen?

Besagtes Gefühl ist letztlich eine Form von Wut, die aus dem Bewusstsein entsteht, ungerecht behandelt zu werden. Es wird einem ein Mensch – zumindest partiell – weggenommen. Beinahe könnte man sagen, man ist bestohlen worden. Doch dies setzt erst einmal voraus, die Person zuvor besessen zu haben. Dass einem ein solcher Zustand abhandengekommen ist, berechtigt nicht zur Beschwerde. Eifersucht zu überwinden ist ein Akt der Selbstaufklärung und der Charakterfestigung. Wer ein bisschen Vertrauen hat, ist auf Sklavenhaltergefühle nicht mehr angewiesen.

Kulturwillkür wider Natur

Tradition ist Gruppenzwang durch tote Leute. Es gibt objektiv keinen Grund, Monogamie zu erfinden. Im mitteleuropäischen Raum verdanken wir die näheren Spezifika dieses Kulturguts den christlichen Religionen, welche Familienbilder (und insbesondere die Ehe) als Kaufvertrag des Mannes über die Frau entwarfen. Würden wir diese Konzepte für einen Moment vergessen, käme wohl kein Mensch so bald erneut auf diesen kruden Gedanken. Biologistisch gesprochen ist Monogamie alles andere als ein evolutionärer Überlebenstrait, und auch wenn ich hier einen naturalistischen Fehlschluss riskiere: Ihr habt damit angefangen, liebe Christen!

Aktive Missgunst den Geliebten gegenüber

Monogamie einzufordern heißt, dem anderen aktiv verbieten zu wollen, bestimmte Dinge zu tun. Wenn die andere Person Sexualität mit dritten Personen wünscht, dann, weil sie sich davon irgendetwas erhofft – und sei es nur Spaß. Wenn ich mit meinem Wunsch nach Monogamie dem den Riegel vorschiebe, setze ich mich aktiv dafür ein, dass meine geliebte Person etwas nicht bekommt, was sie gerne hätte – und das wohl aufgrund niederer Motive meinerseits. Mit welchem Recht und aus welchem Grund sollte man sich dem Streben nach Glück einer Person in den Wege stellen, die man zu lieben behauptet?