Ist Gott für moralisches Handeln notwendig?

Religion spielt in den USA nach wie vor eine große Rolle. Umso erstaunlicher ist es, dass weit über die Hälfte der US-Amerikaner*innen der Meinung ist, dass es nicht notwendig ist, an Gott zu glauben, um moralisch richtig handeln zu können. Dies hat eine aktuelle Studie des Pew Research Centers festgestellt.

Die Frage, ob Gott für moralisches Handeln notwendig ist, wäre noch vor wenigen Jahrzehnten in den USA von einer überwältigenden Mehrheit bejaht worden. Doch seither ist viel geschehen: die Rechte für LGBTIQ sind ausgebaut worden. So dürfen seit 2015 in den Vereinigten Staaten Menschen in allen Bundesstaaten ihren gleichgeschlechtlichen Partner heiraten – wohlgemerkt zwei Jahre, bevor dies in Deutschland ermöglicht wurde. Ähnlich wie hierzulande haben auch in den USA mehrere Missbrauchsskandale das Ansehen religiöser Institutionen nachhaltig beschädigt. Hinzu kommt die systematische Vertuschung der Straftaten, die fahrlässige Aufarbeitung und die fragwürdige Rechtslage, die es den Missbrauchsopfern etwa in Pennsylvania nur bis zu ihrem 50. Lebensjahr erlaubt, Anklage zu erheben. Im Zivilrecht liegt die Altersgrenze sogar bei gerade einmal 30 Jahren. Das Zusammenspiel dieser Ereignisse und Umstände hat ebenfalls zu einem kollektiven kritischen Hinterfragen der lediglich vermeintlich moralisch obersten Instanz beigetragen.

Nicht groß verwunderlich ist daher das Ergebnis einer aktuellen Studie des Pew Research Centers, nach der 63 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner*innen sagen, dass es nicht notwendig ist, an Gott zu glauben, um moralisch richtig handeln zu können. Dem gegenüber steht allerdings noch immer ein Drittel der Bevölkerung, das exakt dies denkt. Wie auch in vielen anderen Ländern sind vor allem jüngere Bevölkerungsschichten weniger stark religiös geprägt. Satte 75 Prozent aus der Altersgruppe der 18–29-Jährigen sagen, dass Gott für moralisches Handeln nicht notwendig ist. Hingegen sind lediglich sechs von zehn US-Bürger*innen über 65 Jahre dieser Ansicht. Auch lässt sich aus den Daten ablesen, dass der Bildungsgrad eine Rolle bei der Bewertung der Frage nach dem Ursprung des moralischen Handelns spielt. So nimmt die Annahme, dass Gott dafür notwendig sei, mit steigendem Bildungsgrad stetig ab.

Vor dem Hintergrund, dass sich noch immer über 70 Prozent in den USA allein als Christen verstehen, ist dies eine interessante Entwicklung. Daraus kann nämlich geschlussfolgert werden, dass nicht nur aus atheistischer und agnostischer, sondern zunehmend sogar auch aus religiöser Sicht die Religion nicht als einzige Quelle für moralisches Handeln betrachtet wird. Blickt man zusätzlich noch die Religionskriege, die Unterdrückungen im Arbeitsrecht, die religiös begründete Verweigerung der Sterbehilfe, die Stigmatisierung und Verhinderung der Informationsbeschaffung bei in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbrüchen, die Beschränkung der Forschung im Bereich der Pränataldiagnostik etc. kann sogar ernsthaft bezweifelt werden, ob die Religion überhaupt als eine ernstzunehmende Quelle für moralisches Handeln in Betracht kommt. Auch die Stimmen, die das in Frage stellen, werden immer lauter.

Der Kreis der konfessionell Gebundenen scheint in den modernen Industrienationen weiterhin zu schrumpfen. Selbst in den noch immer stark christlich geprägten USA ist dieser Trend vorhanden. Die einzigen weltanschaulichen Gruppen in den USA, die wirklich größer geworden sind, sind jene der Atheisten und Agnostiker. Personen aus diesen beiden Gruppen halten völlig zu Recht den Glauben an Gott nicht für notwendig, um moralisch handeln zu können. Denn mittlerweile gibt es viel zeitgemäßere Grundlagen, die ein ethisches Wertegerüst begründen können. Auf Basis des evolutionären Humanismus, des Utilitarismus, des Altruismus oder des Kosmopolitismus etwa, wurden noch keine Kriege geführt und kam es noch nicht zur systematischen Diskriminierung Un- und Andersgläubiger. Diese Wertegerüste kommen in der Regel sogar ohne unhinterfragbare, vermeintlich immerwährend gültige Wahrheiten aus und diese stellen reale gesellschaftliche Probleme und Konfliktlinien in den Fokus, statt die Besänftigung des Gemüts eines imaginären Wesens als oberstes Credo heraufzustilisieren.

Abschließend ist daher festzuhalten, dass immer weniger Menschen in den USA die Religion als notwendig für moralisches Handeln betrachten, dieser Trend wohl anhalten wird und dies eine äußerst begrüßenswerte Entwicklung ist, die letztendlich – zum Beispiel über die im Zuge dieser Säkularisierung ermöglichten Gesetze – allen Menschen zugutekommt.

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