Rezension

Weibliche und männliche Genitalbeschneidung im Vergleich

Während die weibliche Form in der westlichen Welt als schwere Körperverletzung geächtet wird, gilt die Vorhautentfernung bei Jungen und Männern als harmlos, wenn nicht sogar als medizinisch sinnvoll. Melanie Klinger setzt sich in "Intime Verletzungen" mit den vielfältigen Aspekten und Hintergründen genitalverändernder Praktiken auseinander.

2012 wurde in Deutschland die Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung auch ohne medizinische Indikation gesetzlich ausdrücklich erlaubt. Etwa ein halbes Jahr später wurden in Deutschland sämtliche Arten von Körperverletzungen an Mädchen durch Beschneidung gesetzlich verboten. Die politisch Verantwortlichen haben sich damit entgegen Artikel 3 des Grundgesetzes für eine maximale geschlechterabhängige Ungleichbehandlung bei Körperverletzungen an Kindern durch Beschneidung entschieden.

Gerechtfertigt wurde dieser Sexismus damit, dass Beschneidungen bei Jungen und Mädchen weder anatomisch, medizinisch noch rechtlich vergleichbar wären. Jede Form der Beschneidung bei Mädchen gilt als gleich schwere Körperverletzung. Jede Form der Beschneidung von Jungen gilt als gleich harmlos. Eine umfassende Abhandlung, die diese angebliche Nichtvergleichbarkeit sachlich und fundiert aus medizinischer, psychologischer und soziokultureller Perspektive hinterfragt, gab es bisher nicht, obwohl sie für die rechtliche und sozialethische Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung sowie für die Glaubwürdigkeit der politischen Elite essentiell ist. Melanie Klinger will mit ihrem Buch "Intime Verletzungen" diese Lücke schließen. Das Buch behandelt sowohl weibliche als auch männliche Körperverletzung durch Beschneidung. Aufgrund der Tatsache, dass weibliche Körperverletzung durch Beschneidung gesetzlich verboten, männliche Körperverletzung durch Beschneidung jedoch gesetzlich ausdrücklich erlaubt ist, wird dieser Legalisierung im zweiten Teil des Buches ein besonderer Schwerpunkt gesetzt.

Cover

Das Buch besteht aus einem Vorwort von Gislinde Nauy, Vorsitzende bei Mogis e. V., sechs Kapiteln und einem Fazit. Es umfasst 271 Seiten. Davon sind 72 Seiten Quellenangaben und 24 Seiten Quellenverweise. Das zeigt schon deutlich, dass die Autorin hier sehr gewissenhaft recherchiert und faktenbasiert publiziert hat.

Über die Autorin selbst erfährt man in dem Buch leider nichts. Eine kurze Vorstellung der Autorin wäre für den Leser schön gewesen, um sie, ihren Hintergrund und ihre Motivation zu dem Buch näher kennenzulernen. Auf der Seite des Self-Publishing-Verlages Tredition erfährt man, dass Melanie Klinger 1981 in München geboren wurde. Nach ihrer Krankenpflegeausbildung studierte sie Soziale Arbeit an der Hochschule München mit dem Schwerpunkt Cultural Studies.

Das Buch kann in vier Abschnitte aufgeteilt werden. In den Kapiteln 1 bis 3 beschreibt die Autorin zuerst mit allgemein verständlichen Worten die Grundlagen der Genitalanatomie und -physiologie von Frauen und Männern, dann die Praxis der Beschneidungen sowie deren Auswirkungen. Sie belegt dabei allgemein verständlich und eindringlich eine eindeutige Vergleichbarkeit der Genitalien von Frauen und Männern und widerlegt eindrucksvoll den aus der "Beschneidungsdebatte" entstandenen Eindruck, Frau und Mann seien zwei völlig unterschiedliche Lebewesen und überhaupt nicht miteinander vergleichbar.

Besonders gelungen und hilfreich ist die tabellarische Einordnung der Autorin von weiblicher und männlicher Beschneidung auf Basis der Human Genital Alterations (HGA), eine umfassende Klassifikation der Genitalverstümmelung durch die Internationale Koalition für Genitale Integrität (ICGI) (S. 50 f.). Bislang werden nur die weiblichen Beschneidungsarten in vier Typen eingeteilt. Bei Jungen hat man sich diese Mühe bislang nicht gemacht, was die Marginalisierung männlicher Beschneidungsopfer in Politik und Gesellschaft wieder deutlich zum Ausdruck bringt.

Kapitel 4 zeigt die historische Entwicklung und Motive von Beschneidung auf. Man erfährt über alternative symbolische männliche Beschneidungsriten im Judentum, dem Brit Shalom, und dass die nichtreligiöse Beschneidung bei Jungen ursprünglich aus Gründen der Masturbationsvermeidung eingeführt wurde. Zudem wird je nach Zeitgeist die männliche Beschneidung gegen nahezu jede neue Problemkrankheit als Heilmittel angepriesen. Das gilt bis in unsere Tage in Zeiten von Aids.

Die Autorin scheut sich dabei nicht, auch Tabuthemen anzusprechen wie z.um Beispiel Beschneidung und Pädosexualität oder Vorhaut als Handelsware. Gerade beim Letzteren erkennt man die typische Widersprüchlichkeit der Argumente der Beschneidungsbefürworter, die im Laufe des Buches immer wieder deutlich wird. Einerseits werden der toten Vorhaut besondere positive Eigenschaften zugesprochen, aber deren Nutzen als intaktes Organ am Körper marginalisiert, wenn nicht sogar als unhygienisch, schmutzig und potentieller Krankheitsüberträger stilisiert.

Wie unfassbar weit gerade Deutschland bezüglich seines Wissens über die männlichen Genitalien zurück ist, belegt die Tatsache, dass erst 2017 in der neuesten Fassung der Leitlinie "Phimose und Paraphimose" der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie sich die Erkenntnis aus der ein halbes Jahrhundert alten Studie des dänischen Wissenschaftlers Jacob Oester niederschlug, nachdem die Zurückziehbarkeit der Vorhaut nicht schon, wie vorher angenommen, bis zum dritten Lebensjahr möglich sein muss, sondern sich dies bis zur Adoleszenz hinziehen kann. (S. 118)

In diesem Kapitel wird auch auf die wissenschaftlich nicht mehr haltbare Auffassung eingegangen, dass kleine Jungen kein oder ein geringeres Schmerzempfinden hätten als ältere Jungen. Ein Argument, das trotzdem bis heute von den Befürwortern von Körperverletzungen an Jungen durch Beschneidung benutzt wird. Insgesamt spiegelt diese Marginalisierung von Körperverletzung an Jungen die charakteristische Empathielosigkeit gegenüber männlichen Gewaltopfern in der Geschlechterpolitik wider.

Das Kapitel 5 behandelt die "Beschneidungsdebatte" in Deutschland anhand der Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung im Jahr 2012 auf Reaktion des Kölner Urteils vom Mai 2012. Letzteres hatte eine Beschneidung aus religiösem Motiv untersagt. Eine Debatte, die in Wirklichkeit weniger eine Debatte, sondern mehr ein Monolog der Beschneidungsbefürworter war. Denn spätestens nach der sehr schnellen Positionierung der sonst eher zaudernden Bundeskanzlerin Angela Merkel war die Sache eigentlich schon klar. Merkel diskreditierte pauschal die Menschen, die sich für die Menschen- und Grundrechte für Jungen einsetzten, indem sie meinte, Deutschland würde sich durch das Verbot von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung zur "Komikernation" (S. 146) machen. Sie stärkte mit ihrer Aussage, sie wolle nicht, dass Deutschland das einzige Land sei, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben dürften, zudem denjenigen den Rücken, die mit der Nazikeule Beschneidungskritiker mundtot machten. Eine sachliche Debatte war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich, die Entscheidung der politischen Elite schon klar.

Was folgte, war eine Farce. Ungeachtet der Kritik von Ärzten und Kinderschutzverbänden wurden ergebnisorientiert fast nur Sachverständige eingeladen, die Körperverletzungen an Jungen politisch korrekt als harmlos konstatierten. Lediglich Reinhard Merkel positionierte sich im Sinne des Kölner Urteils. "In seinem Vortrag machte er deutlich, dass Religionsgemeinschaften keine autonome Definitionsmacht über Körperverletzungen an Dritten hätten und die verbindliche Maßgabe des Elternrechts das Kindeswohl sei und nicht die Autonomie der Eltern." (S. 152) Betroffenenverbände wurden gar nicht gehört. "Wie Marlene Ruprecht [Kinderbeauftrage, Anm. des Rezensenten] später bemerkte, hatten sich die wenigsten Parlamentarier/innen in der Vergangenheit mit der medizinischen nicht indizierten Beschneidung von minderjährigen Jungen beschäftigt." (S. 150)

Es verwundert nicht, dass in einem regelrechten Eilverfahren von gerade einmal einem guten halben Jahr ein Gesetz auf den Weg gebracht wurde, das Jungen ihre Grundrechte in Artikel 1, 2 und 3 wesentlich beschränkt.

Während in der Bevölkerung lediglich 24 Prozent für eine Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung waren, stimmten 70 Prozent der politisch Verantwortlichen dafür. Es dürfte kaum ein anderes Beispiel geben, das zeigt, dass der Begriff des "Volksvertreters" nicht wirklich als Synonym für einen Parlamentarier gelten kann.

Die Autorin zeichnet ein sehr ernüchterndes Bild, wie politische Entscheidungs"prozesse" im Bundestag ablaufen. Begleitet wurde das Ganze von einer sehr einseitig für Beschneidung schreibenden Presse, zum Beispiel durch den Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, der dementsprechend fünf Artikel verfasste (S. 144).

Am Ende steht ein Urteil, das nicht nur religiöse, sondern auch "kosmetische" Körperverletzungen an Jungen durch Beschneidung gesetzlich ausdrücklich erlaubt. Sogar die "Küchentisch"-Beschneidung in Nürnberg 2017 ist durch die Entscheidung des Bundestages von 2012, den Elternwillen über das Recht der betroffenen Kinder auf körperliche Unversehrtheit zu stellen, rechtlich abgedeckt (S. 176). Damals verblutete beinahe ein zwei Wochen alter Säugling, als er auf dem Küchentisch beschnitten wurde – aufgrund der Entscheidung des Bundestages 2012 alles ganz legal.

Im letzten Kapitel erörtert die Autorin den Zusammenhang zwischen Sozialer Arbeit und Beschneidung in Zeiten der ausdrücklichen Legalisierung dieser Körperverletzung an Jungen. Sie bezieht klar Stellung für die Grund- und Menschenrechte des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und fordert die Beteiligten der Sozialen Arbeit auf, "ein Problembewusstsein für die verdeckte Verletzlichkeit von Jungen und Männern im Allgemeinen sowie für die männliche Beschneidung als verletzenden Akt im Besonderen zu entwickeln." (S. 186) Denn, so Klinger: "Die spezifischen Notlagen der männlichen Opfer werden nicht als solche erkannt und werden stattdessen allgemein als 'soziale Probleme' oder 'Jugendprobleme' behandelt." (S. 182)

Die Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung hat deutlich gezeigt, dass die politisch Verantwortlichen derzeit nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind. Sie kolportieren entgegen ihren Lippenbekenntnissen archaische Männerrollenbilder, indem sie Gewalterfahrungen – auch als Opfer – immer noch als essentielle Initiation von Jungen auf dem Weg zum Mann verstehen.

Im Fazit konkludiert Melanie Klinger deshalb auch: "Eine tieferliegende Ursache für die Verharmlosung der männlichen Beschneidung und der Ignoranz gegenüber den Leiden der Betroffenen liegt dabei vor allem in den geschlechtsstrukturellen Rollenzuschreibungen und der damit einhergehenden verdeckten Verletzlichkeit von Jungen und Männern." (S.193)

Das Buch von Melanie Klinger ist ein sehr gutes Buch und es kann jedem empfohlen werden, der sich mit dem Thema männliche Beschneidung auseinandersetzen will. Die Autorin geht darin ausführlich der Frage nach, inwieweit männliche mit weiblicher Beschneidung verglichen werden kann und legt damit den Finger mit jeder Buchseite tiefer in die offene Wunde unserer sozialen Haut, die die überwältigende Mehrheit des Deutschen Bundestages an jenem Tag im Dezember 2012 gerissen hat, als sie kleine Jungen erbärmlich im Stich ließ. Durch die fundierten Quellenangaben ist das Buch für die wissenschaftlich arbeitende Person ebenso geeignet wie durch seine verständliche Sprache auch für den interessierten, unbedarften Neuling.

Melanie Klinger, Intime Verletzungen – Weibliche und männliche Genitalbeschneidung (K)ein unzulässiger Vergleich?!, Tredition, ISBN: 978-3-7497-3198-5, 9,99 Euro

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