Interview

"Tobias R. reagierte auf eine politische Klimaverschiebung im Land"

Vergangenen Mittwoch erschoss der 43jährige Tobias R. in Hanau mehrere Menschen mit Migrationshintergrund sowie seine Mutter und sich selbst. War seine Tat ein rechtsextremer Terrorakt oder die Handlung eines psychisch Kranken? Beides schließt sich nicht aus, meint Politikwissenschaftler und Extremismusexperte Armin Pfahl-Traughber.

hpd: Herr Prof. Pfahl-Traughber, was weiß man bisher über den Täter von Hanau?

Pfahl-Traughber: Tobias R. hat 1996 sein Abitur gemacht und galt bei seinen Mitschülern als zurückhaltend. Beachtlich ist vielleicht, dass R. keinen Wehr-, sondern Zivildienst leistete. Danach begann er eine Banklehre und studierte anschließend Betriebswirtschaftslehre. Ansonsten scheint R. ein unauffälliges Privatleben geführt zu haben. Bedeutsam ist, dass er keine Frau oder Freundin hatte. Darüber hinaus verdient Beachtung, dass R. noch als über 40jähriger bei seinen Eltern lebte. Als Mitglied eines Schützenvereins war ihm der Umgang mit Waffen vertraut. Einer politischen Organisation gehörte er indessen nicht an, was generell gilt, also sowohl bezogen auf einen rechtsextremistischen wie nicht-rechtsextremistischen Personenzusammenschluss. R. handelte allein, sowohl bei der Tat selbst wie bei deren Vorbereitung. Über Anstifter oder Helfer ist nichts bekannt.

R. hinterließ auf seiner Internet-Homepage unterschiedliche Texte und nahm auch ein gesondertes Video auf. Dadurch ergeben sich Einblicke in sein Weltbild, wobei autobiographische, fremdenfeindliche und verschwörungsideologische Inhalte in einer inneren Kombination auszumachen sind. Demnach ging R. davon aus, dass er bereits seit seiner Kindheit regelmäßig von einem Geheimdienst überwacht wurde. Deren Angehörige seien in der Lage, "die Gedanken eines anderen Menschen lesen zu können und darüber hinaus fähig …, sich in diese ‚einzuklinken‘ und bis zu einem gewissen Grad eine Art ‚Fernsteuerung‘ vorzunehmen."

Neben derartigen Auffassungen fanden sich bei R. aber auch viele fremdenfeindliche bis rassistische Statements: So listete er über 20 Länder auf, die von Afghanistan über Israel bis zur Türkei reichen, deren "Völker komplett vernichtet werden müssen." Er habe schon in jungen Jahren erkannt, dass das "schlechte Verhalten bestimmter Volksgruppen" ein Problem sei. Denn: "Diese Menschen sind äußerlich instinktiv abzulehnen und haben sich zudem in ihrer Historie nicht als leistungsfähig erwiesen." Demgegenüber wurde als Gegenbild ein Nationalismus gestellt: "Umgekehrt lernte ich mein eigenes Volk kennen, als ein Land, aus dem das Beste und Schönste entsteht und herauswächst, was diese Welt zu bieten hat." Denn seine Landsleute hätten "die Menschheit als Ganzes hervorgehoben". Forderungen zur Grenzsicherung seien auch richtig, wie etwa die angestrebte Mauer zu Mexiko. Seine eigenen Ideen, meinte R., würden von Trump bereits umgesetzt, allerdings nicht von diesem bewusst, sondern "über die sogenannte Fernsteuerung". Er hielt sich demnach selbst für ein Genie. 

War Tobias R. psychisch krank?

Blickt man auf die vorgenannten Aussagen, so wird deutlich: R. war offenkundig psychisch krank. Es lassen sich Bestandteile von einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie erkennen, kombiniert mit einer narzisstischen Überhöhung der eigenen Person und wilden Verschwörungsvorstellungen über die Welt. Mit diesen erklärte sich R. auch, dass er nie eine Frau oder Freundin hatte, was im Ergebnis auf eine geheimdienstliche Überwachung zurückgeführt wurde. In diesem Detail lassen sich Hinweise auf die "Incel"-Bewegung erkennen. Dabei handelt es sich um alleinstehende Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben. Derartige Besonderheiten und Einstellungen gab es bei nicht wenigen der Lone Actor im Rechtsterrorismus. Insofern kommt diesem scheinbar eher nur privaten Gesichtspunkt auch hier eine inhaltliche Relevanz bei der Ursachenanalyse zu.

Nach dem Anschlag von Hanau wurden von vielen Seiten Stimmen laut, die sagten, die AfD habe mit ihrer offen rassistischen Agenda eine Mitschuld an den Taten. Die AfD weist jedoch mit Hinweis auf die psychischen Probleme des Täters jede Form von Mitschuld von sich. Zu Recht?

Tatsächlich gibt es für führende AfD-Politiker in Hanau keine terroristische Tat. Es habe sich um den Ausdruck eines unpolitischen Wahns gehandelt, lautet die Deutung vieler hochrangiger Funktionsträger in Stellungnahmen. So meinte beispielsweise der Co-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen: "Das ist weder rechter noch linker Terror, das ist die wahnhafte Tat eines Irren." Und der Co-Bundestagsfraktionsvorsitzende Alexander Gauland erklärte: "Bei einem völlig geistig Verwirrten sehe ich kein politisches Ziel, insofern bin ich vorsichtig bei dem Begriff Terror. Und von links und rechts wollen wir hier gar nicht reden. Das ist ein Verbrechen."

Eine derartige Deutung, die übrigens nicht nur von AfD-Politikern immer mal wieder vorgetragen wird, ignoriert, dass zwischen politischen und psychischen Bedingungsfaktoren kein Widerspruch bestehen muss. Blickt man auf die Entwicklung des "Lone Actor"- oder "Lone Wolf"-Rechtsterrorismus, so lässt sich immer wieder die Kombination beider Ursachen im Wechselverhältnis miteinander feststellen. Auch bei Breivik, dem wohl international bekanntesten Fall in diesem Sinne, konnten beide Komponenten ausgemacht werden. Es gilt bei solchen Ereignissen, die Gewalttat für sich und die Opferauswahl für sich hinsichtlich ihrer Ursachen zu analysieren. Die besonders brutale Gewaltanwendung ist wohl meist tatsächlich primär psychologisch erklärbar, handelt es sich doch hier um hohe Intensitätsgrade eben bis hin zu einem Massenmord. Doch wie erklärt sich dann die jeweilige Auswahl der Opfer, steht diese doch für eine inhaltliche Motivation und politische Prägung? Letzteres lässt sich auch bei R. ausmachen, der eben aufgrund seiner fremdenfeindlichen bis rassistischen Grundpositionen die Orte seiner mörderischen Tat aufsuchte. Die Erklärungen auf der eigenen Homepage belegen diese ideologische Prägungen, möge sie in sich noch so lückenhaft oder widersprüchlich sein. Aus diesen Deutungsmustern heraus erfolgte die konkrete Opferauswahl. Bislang ist noch nicht bekannt, was R. besonders beeinflusste. Aufgrund seiner sozialen Isolation dürften es eher Internetseiten und keine Organisationen gewesen sein.

Also trifft nicht die AfD eine Mitschuld sondern das Internet?

Die mörderischen Taten von R. hatten auch politische und nicht nur psychologische Ursachen. R. meinte erkennbar, im angeblichen Namen des deutschen Volkes zu handeln. Nur diese Grundannahme erklärt die konkrete Opferauswahl. Insofern handelt es sich nicht nur, aber auch um eine politische Tat. Sie lässt sich eindeutig dem rechten Lager zuschreiben. Diese Einsicht erklärt, warum Gauland und Meuthen einen solchen Zusammenhang leugneten. Denn es stellt sich angesichts von deren migrantenfeindlichem Diskurs die notwendige Frage, welchen Anteil der Partei an Verantwortung zugeschrieben werden kann. Von Schuld kann man weniger sprechen, denn diese würde eine Tatabsicht voraussetzen.

Tobias R. handelte als Täter allein, reagierte aber erkennbar auf eine politische Klimaverschiebung im Land. An dieser hat die AfD einen erheblichen Anteil. Bei allen deutschen Fällen von Lone Actor-Rechtsterrorismus lässt sich dieser Wirkungszusammenhang aufgrund von diskursiven Veränderungen feststellen. Gauland und Meuthen haben sich gegen eine solche Verantwortungszuschreibung verwahrt. "Schäbig" sei es, so der Erstgenannte, die Ereignisse von Halle zu instrumentalisieren. Und Meuthen meinte, "jede Form politischer Instrumentalisierung dieser schrecklichen Tat" sei ein "zynischer Fehlgriff." In derartigen Aussagen offenbaren sich erkennbar Doppel-Standards, die sowohl gegen deren formale wie inhaltliche Glaubwürdigkeit stehen.

Inwiefern?

Begeht ein einzelner Flüchtling angeblich oder tatsächlich eine Gewalttat, dann wird diese von der AfD nur allzu gern zur Agitation gegen die Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik instrumentalisiert. Dabei lässt sich indessen meist kein so deutlicher Einflussfaktor wie in dem erwähnten Fall R. belegen. Und wenn es dazu kommt, dass ein Flüchtling einen Mord begeht, ist sehr schnell von "Merkels Opfern" die Rede. Nimmt man diese Argumentationsmuster der Partei ernst, könnte bei den erwähnten Ereignissen von "AfD-Opfern" gesprochen werden. Dies soll hier ausdrücklich nicht geschehen. Es entspräche aber der "AfD-Logik".

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