Pflegenotstand in Deutschland

Vom Jubel kann sich niemand etwas kaufen

Während gerade in den letzten Monaten die Relevanz der Pflegeberufe hervorgehoben wurde, hat sich in puncto Verbesserung der Arbeitssituation und Bezahlung reichlich wenig getan. Der seit langem in Deutschland vorherrschende Pflegenotstand hat eine ganze Reihe von Ursachen, die allesamt über viele verschiedene Stellschrauben angegangen werden müssen.

Im Bereich der Pflege brennt es an allen Ecken und Enden. Durch das Coronavirus hat sich die Lage sogar noch verschärft. Dies hat den Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, dazu veranlasst, vor katastrophalen Bedingungen zu warnen. Diese kommen ihmzufolge unsausweichlich auf uns zu, wenn sich die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen nicht verbessern. Dann könne nach der Pandemie nicht über zusätzliche Auszubildende gesprochen werden, sondern womöglich von einer weiteren Abwanderung von Pflegepersonal.

Auch im Vergleich zu anderen Ländern liegt Deutschland weit zurück – wenn es etwa um akademisch qualifizierte Pflegekräfte und den Anteil der Übernahme von Verantwortung geht. Während in Deutschland am Prinzip der ärztlichen Delegation festgehalten wird, sind in anderen Ländern partnerschaftliche und teamorientierte Aufgabenverteilung gängige Praxis. Dafür sorgen entsprechende Gesetze, ein höherer Anteil der Akademisierung und ein gesellschaftlich angestrebter Idealzustand, wonach Ärzt*innen und Pflegepersonal auf Augenhöhe zusammenarbeiten sollten. Die Stipendien und staatlichen Zuschüsse für die Weiterqualifikation, die es hierzulande aktuell gibt, reichen als politische Rahmensetzung Experten zufolge bei weitem nicht aus.

Gründe für die derzeitige Lage

Die Ursachen für die prekäre Situation sind vielfältig. Zum einen herrscht Personalnot, da die Zahl der Pflegenden konstant bleibt, während es immer höheren Pflegebedarf gibt, zum anderen ist allgemein bekannt, dass die Vergütung unterdurchschnittlich ist – und das bei relativ hoher physischer und psychischer Arbeitsbelastung. Die Gefahr, sich mit Krankheiten anzustecken, ist deutlich höher als bei Berufen außerhalb des Gesundheitssektors und häufig bleibt nur wenig Zeit, sich den Patient*innen angemessen zuzuwenden. Auch der ökonomische Druck, welcher auf den Krankenhäusern lastet, setzt Anreize, um Personal abzubauen und Arbeitsabläufe aus wirtschaftlicher Sicht zu optimieren – nicht selten leidet darunter die Hygiene und damit die Gesundheit der Patient*innen. Außerdem gibt es kaum Aufstiegschancen. Für viele Berufsanfänger*innen erscheint ein Beruf im Pflegebereich daher unattraktiv.

Weiterhin gibt es einen regelrechten Trend hin zur stationären Pflege, welcher ebenfalls eine Triebfeder zur prekären Situation darstellt. Wenn etwa auf dem Land nicht genügend Personal vorhanden ist, um auch ambulante Pflegedienste aufrechtzuerhalten, nimmt die Belastung im stationären Bereich weiter zu. Unter anderem die noch stark ausbaufähige Digitalisierung spielt hier mit hinein, wenn etwa die Möglichkeiten zur Telemedizin beschränkt sind. Zwar gewährt die soziale Pflegeversicherung bis 2021 noch einen einmaligen Zuschuss für die Anschaffung digitaler Anwendungen. Der vielbeschworene Grundsatz "ambulant vor stationär" wird tatsächlich aber noch nicht umfassend genug umgesetzt, da unter anderem die Antragshürden zu hoch sind.

Und nicht zuletzt altert unsere Gesellschaft: Schon heute ist jede zweite Person älter als 45 und jede fünfte älter als 66 Jahre. Das hat zur Folge, dass immer weniger Erwerbsfähige immer mehr Senior*innen versorgen müssen. Auch auf die steigende Lebenserwartung und den demografischen Wandel muss demnach gesellschaftlich und politisch reagiert werden.

Lösungsmöglichkeiten

Wie genau dies aussehen kann, wurde bereits vielfach diskutiert. In Frage kommen etwa eine angemessenere Bezahlung – spätestens Corona zeigte, wie systemrelevant der Pflegesektor ist –, da nur diese in der Lage ist, die Wertschätzung für diesen wichtigen Arbeitszweig adäquat auszudrücken. Bessere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeiten und die effektive Bekämpfung von Personalnot, wodurch der Stresslevel insgesamt sinkt, sind dabei unabdingbar. Aber auch die Pflegekräfte selbst müssen sich informieren und bei Gehaltsverhandlungen entsprechend argumentieren, wenn es etwa um das Durchschnittsgehalt geht oder um Sonderkonditionen für Dienstkompensation ("Einspringen").

Ein weiterer Ansatz ist, wie von der Bevölkerung gewünscht, die Pflege in der eigenen Häuslichkeit zu stärken. Auf struktureller Ebene sollte zudem die Digitalisierung deutlich ausgebaut werden. Professor Frank Schulz-Nieswandt spricht außerdem von der Neuinterpretation des Begriffs Pflege als "sozialraumbildende Daseinsvorsorge". Dies sei seiner Ansicht nach deshalb sinnvoll, weil damit Konstrukte wie das "Altenpflegeheim" als eine Art Abstellgleis für "nicht mehr produktive Bürger*innen", die für Pflegende ohnehin demotivierend wirken, überflüssig gemacht werden können. Stattessen bedürfe es neuer Formen von wohnortbezogenen, netzwerkartig aufgebauten Cure-Care-Zentren, die deutlich mehr Potenzial zur Erhöhung der Arbeitszufriedenheit böten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Akademisierung. Während in den Niederlanden fast die Hälfte und in Großbritannien alle Pflegekräfte einen akademischen Hintergrund haben, macht der Anteil der studierten Pflege-Absolventen eines Jahrgangs in Deutschland noch immer lediglich knapp zwei Prozent aus. Hier gibt es enormen Nachbesserungsbedarf. Ohne umfassende Anpassungen wird die Pflege- und Coronakrise nur weiterhin auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen, worunter alle Beteiligten zu leiden haben.

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