Der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen) hat in Bezugnahme eines Urteils des Bundesarbeitsgerichts veranlasst, dass künftig RechtsreferendarInnen im Gerichtssaal religiöse Symbole wie das Kopftuch tragen dürfen. Damit untergräbt er das Berliner Neutralitätsgesetz. Die Entscheidung löste einen Aufschrei aus. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hat einen Offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister von Berlin verfasst. Der hpd veröffentlicht ihn im Wortlaut.
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
wir sind entsetzt! Die Ereignisse der letzten Tage lassen uns an den demokratischen Prinzipien und Werten zweifeln, für die wir uns tagtäglich einsetzen. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Klage einer Lehrerin mit Kopftuch ist ein Rückschlag für viele: für uns als Frauenrechtsorganisation, für alle säkularen Organisationen und EinzelkämpferInnen, für MigrantInnen und Geflüchtete, die ihren Kindern in Deutschland ein Leben ohne religiöse Indoktrination ermöglichen wollen, sowie für alle HumanistInnen, AtheistInnen und viele mehr. Religiöse und weltanschauliche Symbole im staatlichen Dienst zuzulassen und zu verankern, bedeutet im Umkehrschluss die gleichwertige Behandlung von religiösen und staatlichen Gesetzen. Wir möchten daran erinnern: Deutschland ist zur Neutralität verpflichtet!
Das Neutralitätsgesetz ist geltendes Recht und muss geschützt werden. Auch wenn Justizsenator Behrendt sich nicht verfassungskonform verhält und agiert, als sei das Gesetz bereits gekippt worden, dürfen wir zu keiner Zeit mit falscher Toleranz den Untergang der staatlichen Neutralität akzeptieren. Dass zukünftig Staatsanwältinnen ein islamisches Kopftuch tragen könnten, widerspricht geltendem Recht. Von Staatsangestellten (auch von AnwärterInnen) dürfen wir vielmehr erwarten, alle religiösen und weltanschaulichen Symbole für den Beruf abzunehmen, um die Neutralität unserer demokratischen Verfassung glaubhaft zu repräsentieren.
Wir fordern Sie auf, sich persönlich für die Beibehaltung des Neutralitätsgesetzes stark zu machen. Als Regierender Bürgermeister haben Sie Vorbildfunktion und Strahlkraft für die Neutralität der Hauptstadt und somit stellvertretend für ganz Deutschland. Zusätzlich fordern wir Konsequenzen für das Fehlverhalten des Justizsenators Herrn Behrendt.
Schule muss ein neutraler Bildungsort bleiben. Wir können unsere Kinder nicht davor schützen, in der Schule mit Werten und Traditionen konfrontiert zu werden, die nicht der eigenen pädagogischen Erziehung entsprechen. Wir können aber bislang mitentscheiden, wie und ob unsere Kinder religiös unterrichtet werden. Wenn wir den Vergleich zu Nonnen ziehen – die sich bewusst für ein religiöses und konservatives christliches Leben entschieden haben – entscheidet die Mehrheit der liberalen Eltern, ihre Kinder auf eine staatliche Schule zu schicken, damit sie in einem neutralen Umfeld ausgebildet werden. Warum wird die Entscheidungshoheit von Eltern negiert, wenn es sich um Frauen mit Kopftuch handelt? Lehrerinnen mit islamischem Kopftuch (Verhüllung sexueller Reize) können nicht authentisch und glaubwürdig in der Schule unsere Grundwerte wie Demokratie (zum Beispiel Gleichberechtigung von Frau und Mann), Freiheit (zum Beispiel religiös zu sein oder nicht) und Selbstbestimmung (zum Beispiel über den eigenen Körper und die eigene Sexualität selbst zu bestimmen) lehren.
Wir sind in großer Sorge, dass die Errungenschaften von Emanzipation und Gleichberechtigung mit der Aufweichung des Neutralitätsgebots ausgehebelt werden und uns gesellschaftlich spalten wird. Die Aufgabe und Aushöhlung religiöser Neutralität im öffentlichen Dienst wird nachhaltige Folgewirkungen mit sich bringen. Wir wollen uns gemeinsam mit Ihnen für ein säkulares und demokratisches Schul- und Rechtssystem einsetzen und das weitere Anwachsen von Parallelgesellschaften verhindern. Integration funktioniert, wenn wir alle uns für das einsetzen, was uns verbindet. Integration funktioniert, wenn wir alle die Errungenschaften der Emanzipation und Aufklärung akzeptieren und leben. Pluralismus bedeutet nicht, diese Errungenschaften über Bord zu werfen oder aufzuweichen.
Kämpfen Sie bitte mit uns für den Erhalt des Neutralitätsgesetzes!
Mit freundlichen Grüßen
Christa Stolle
Bundesgeschäftsführerin TERRE DES FEMMES e. V.
(Initiatorin des Offenen Briefes)
Unterstützt von:
- Ali Ertan Toprak, Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland
- Jürgen Roth, BAG Säkulare Grüne
- Prof. Dr. Susanne Schröter, Initiative Säkularer Islam
- Ute Lefelmann-Petersen, LAG Säkulare Grüne Schleswig-Holstein
- Mina Ahadi, Zentralrat der Ex-Muslime in Deutschland
3 Kommentare
Kommentare
Klarsicht(ig) am Permanenter Link
Als Mann fühle ich mich durch islamische „Schutzkleidung“ diskriminiert !
Die Möglichkeit, dass Menschen in unserer Gesellschaft ihr normales äußeres Erscheinungsbild in allen Einzelheiten wechselseitig in Augenschein nehmen können, scheint von vielen Muslimas und/oder ihrem Hintergrund wie eine Krankheit empfunden zu werden. Die vollständige Inaugenscheinnahme ihres weiblichen, normalen äußeren Erscheinungsbildes versuchen viele Muslimas daher durch eine „islamische Schutzkleidung“ zu verhindern. Insbesondere ist die „Schutzkleidung“ gegen die Existenz von „Ungläubigen“ und fremden Männern gerichtet, deren Blicke von solchen Muslimas scheinbar wie Viren oder Bakterien empfunden werden.
Durch die Tatsache, dass eine Muslima in westlichen Ländern aus Eigen- oder Fremdinitiative kompromisslos darauf besteht, z. B. ständig und überall bis hinein in jede Ecke des öffentlichen Raumes ein Kopftuch tragen zu dürfen, bringt sie nicht allein zum Ausdruck, dass es ihr und/oder ihrem wie auch immer gearteten Hintergrund wichtig ist, von den Mitmenschen als Muslima wahrgenommen zu werden. Vielmehr wird damit gleichzeitig implizit zum Ausdruck gebracht, dass das Kopftuch von der Muslima wegen der Existenz der fremden Männer und „Ungläubigen“, denen sie im öffentlichen Raum zwangsläufig begegnet, getragen wird. Durch das Kopftuch wird solchen Menschen nonverbal signalisiert, dass sie wegen ihres Geschlechts und ihrer „Ungläubigkeit“ im Meinungsbild der Muslima nicht mit anderen Mitmenschen als gleichwertig betrachtet werden.. Das empfinde ich als partielle Diskriminierung von „Nicht-Muslimen“ und Menschen mit männlichem Geschlecht.
Gruß von
Klarsichtig)
Roland Fakler am Permanenter Link
Eine Frau, die aus religiösen Gründen nicht auf ihr Kopftuch verzichten kann, beweist damit, dass sie ungeeignet ist, im säkularen Staat Recht zu sprechen, weil sie religiöse Normen über das säkulare Recht stellt.
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Eigentlich verstehe ich den Senator nicht, und die Rechtsreferendarin in ihrem Begehren allerdings auch nicht. Die Verfassung ist eindeutig und die Gesetze sind es auch.
Was die Schule angeht, kann eine Kopftuch-tragende Lehrerin für Schülerinnen, die sich frei, ohne religiöses Kopftuch, bewegen wollen zu einem Problem werden. Vor allem wenn die erzkonservativen männlichen Mitschüler sie drastisch bedrängen, zum Teil kommt es sogar zur Gewaltanwendung. Wie soll solch eine kopftuchlose, aber nicht kopflose, Schülerin Rückhalt und Schutz von ihrer Lehrerin erwarten können?