Eine Hilfsanfrage pro Tag bei der Säkularen Flüchtlingshilfe Stuttgart

Seit gut einem Jahr gibt es auch in Stuttgart eine Säkulare Flüchtlingshilfe. Sie ist der dortigen Regionalgruppe der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) angegliedert, veranstaltet regelmäßig Zusammenkünfte und hilft religionsfreien Geflüchteten bei ihren Asylverfahren. Mittlerweile hat sich das in den sozialen Netzwerken herumgesprochen.

Konfessionsfreie und areligiöse Schutzsuchende sind in ihrer Wertehaltung deutlich näher am Durchschnitt der Bundesbevölkerung als muslimische Flüchtlinge. Das hat auch die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) in einer kürzlich veröffentlichten Studie festgestellt. In einem Flüchtlingslager mit überwiegend muslimischen Geflüchteten führt das häufig zu Spannungen, da die meisten von ihnen religiöse Toleranz in ihren Heimatländern nicht gelernt haben und die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit nicht kennen und schätzen. Betreuer und Verantwortliche in der Verwaltung sind auf daraus resultierende Probleme kaum vorbereitet.

Anfang 2018 wurde in Stuttgart eine Säkulare Flüchtlingshilfe gegründet; Auslöser war der Fall von Arif (Name von der Redaktion geändert), eines ex-muslimischen Geflüchteten aus dem Irak: Er hat in Bagdad Labormedizin studiert und arbeitete anschließend als Laborarzt. Nach der Analyse einer Urinprobe empfahl er einem Patienten, mehr zu trinken – und das in der Fastenzeit. Es blieb nicht unbemerkt, dass er medizinische Notwendigkeiten über religiöse Normen stellte. Unmittelbar darauf wurde er im April 2015 unter dubiosen Vorwänden entführt, konnte sich aber befreien.

Zeitgleich wurde die Beziehung zu seiner Verlobten problematisch, da die Schwiegereltern seine Abkehr vom Islam registriert hatten und sich gekränkt fühlten. Sie rächten sich an ihrer Tochter für die unehrenhafte Beziehung. Sie musste ihre Arbeit aufgeben, wurde völlig isoliert und durfte ihn nicht mehr treffen. Arif wurde klar, dass er so schnell wie möglich untertauchen sollte. Seine Flucht führte ihn über die Türkei nach Deutschland. Seine Verlobte konnte er bis heute nicht aus dem Irak herausholen. Im Mai 2017 wurde sein Asylantrag abgelehnt. Die Behörden sahen mehr eine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen. Apostasie und fehlende Säkularität in Staaten wie dem Irak werden von den deutschen Behörden völlig übersehen.

Er suchte Unterstützung für sein Asylverfahren, doch fand in Stuttgart keine Organisation, der er sich und seinen Asylfall anvertrauen konnte. Aber er hatte Glück: Er lernte eine Frau kennen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit beim Arbeitskreis Asyl Stuttgart engagierte und sich seines Falles annahm. Sie wurde über das Staatsministerium Baden-Württemberg auf die Säkulare Flüchtlingshilfe Deutschland aufmerksam gemacht und nahm Kontakt auf. Eine Anwältin aus Stuttgart, die sich auf atheistische Flüchtlinge spezialisiert hat, empfahl die Kontaktaufnahme mit der gbs Stuttgart. So kam es dazu, dass in Stuttgart eine regionale Vertretung der Säkularen Flüchtlingshilfe aufgebaut wurde.

Arifs Asylverfahren wurde im September erfolgreich abgeschlossen. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat ihm die "Flüchtlingseigenschaft", die heute für Asylrecht steht, zuerkannt.

"Wir werden in den Himmel kommen, wenn wir dich getötet haben"

Die meisten säkularen Schutzsuchenden kontaktieren zuerst die Säkulare Flüchtlingshilfe Deutschland oder den Zentralrat der Ex-Muslime und werden von diesen an uns verwiesen, wenn sie in der Region Stuttgart untergebracht sind. Seitdem wir eine eigene Kontaktadresse eingerichtet haben, erreichen uns beinahe täglich zusätzlich dramatische Hilferufe aus arabischen Ländern. Leider können wir die Anfragen nur beantworten, unsere Empathie ausdrücken und dazu ermuntern, mit Gleichgesinnten vor Ort auf Änderungen hinzuwirken.

Gleichzeitig warnen wir davor, sich Schlepperorganisationen anzuschließen – und bei massiver Bedrohung empfehlen wir eine Dokumentation der persönlichen Situation, nach Möglichkeit mit Bild und Video, und die Hilfesuche bei einer international tätigen Organisation wie dem UNHCR, säkularen Initiativen wie Secular Rescue oder einer der Ex-Muslim-Verbände, die es mittlerweile auch im arabischen Raum gibt. Die Anfragen kommen ausschließlich aus muslimischen Ländern, von bedrängten Studenten, von eingesperrten Frauen, von besorgten Familienvätern oder Menschenrechtsaktivisten.

Da wäre zum Beispiel die 26-jährige jordanische Frau, die sich aus Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten gemeldet hat, wo sie mit ihren Eltern lebt. Sie hat Architektur studiert und darf seit zwei Jahren nicht aus dem Haus, weil sie sich weigert, einen Hijab zu tragen. Weil sie Ex-Muslimin ist, wird sie von ihren Eltern geschlagen und beschimpft. Frauenorganisationen helfen jedoch nur Frauen, die von dort kommen. Auch die Polizei kann sie nicht anrufen, weil sie als Ex-Muslimin getötet werden dürfte.

Ein anderer, der sich meldete, ist Fouad, ein 19 Jahre alter Algerier. Er ist Universitätsstudent und seit zwei Jahren Atheist. Mitschüler hatten entdeckt, dass er einen Videoclip von Hamed Abdel-Samad gesehen hatte: "Ich werde beleidigt und bedroht und man sagt mir: 'wir werden in den Himmel kommen, wenn wir dich getötet haben'. Der politische Islamismus in meinem Land wird mächtiger. Ich musste umziehen und mich verstecken. Sowohl das Volk als auch der Staat werden Gefängnis für mich fordern oder mich sogar als Abtrünnigen töten."

Auch ein Vorstandsmitglied eines Bekleidungsunternehmens in Bangladesch, der liberal, progressiv und nicht religiös ist, wird durch den zunehmenden Fundamentalismus immer mehr in die Enge getrieben und sucht für seine Familie und seine zwei Kinder, die ebenfalls nicht religiös erzogen wurden, einen Ort, wo er ohne Glaubenssystem leben und sich frei und glücklich bewegen kann.

Kirchliche Hilfsorganisationen fragen um Rat für religionsfreie Flüchtlinge

Die regionale Vertretung der Säkularen Flüchtlingshilfe in Stuttgart gibt es seit dem 7. Juli 2019. Sie gehört zum Aktionsradius der Stuttgarter Regionalgruppe der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), der "gbs Stuttgart/Mittlerer Neckar", die Fördermitglied des eingetragenen Vereins der Säkularen Flüchtlingshilfe Deutschland ist. Ein weiterer Kooperationspartner ist außerdem der Zentralrat der Ex-Muslime.

Wenn säkulare Schutzsuchende in Flüchtlingsunterkünften mit überwiegend muslimischen Geflüchteten untergebracht sind, kontaktieren wir neben den Sozialarbeitern auch die Heimleitung und informieren sie über die spezielle Situation säkularer Flüchtlinge und bieten unsere ergänzende Hilfe an. In Stuttgart organisieren wir regelmäßig Treffen für die stetig wachsende Zahl an atheistischen Schutzsuchenden aus der Region und fördern den Austausch zwischen Deutschen und Geflüchteten. So hat sich eine Gemeinschaft gebildet, in der sie sich nicht verstecken müssen und sich auch zunehmend gegenseitig helfen können.

Wir planen Veranstaltungen für und mit den Geflüchteten, helfen bei der Organisation von Demonstrationen, bieten Hilfe bei Problemen in den Flüchtlingsunterkünften und bei Behördengängen. Wir begleiten Schutzsuchende auch bei Anhörungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und bei Verfahren vor den Verwaltungsgerichten. Es gibt sogar eine Zusammenarbeit mit kirchlichen Hilfsorganisationen: Gelegentlich kontaktieren sie uns und fragen um Rat und Präzedenzfälle für religionsfreie Geflüchtete.

Bisher konnte die Säkulare Flüchtlingshilfe Stuttgart schon einigen nicht-gläubigen Schutzsuchenden helfen. Wir betreuen zur Zeit zehn säkulare Flüchtlinge und haben vier ehrenamtliche Helfer. Bei drei Geflüchteten wurde in dieser Zeit das Asylverfahren erfolgreich abgeschlossen. Wir wollen darüber hinaus aber auch bisher verschwiegene Probleme der religionsfernen Schutzsuchenden in die Öffentlichkeit bringen: Wir arbeiten daran, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für ihren Schutz zu verbessern und setzen uns für die Anerkennung von Apostasie als Asylgrund ein.

Wir orientieren uns an den Grundprinzipien einer offenen Gesellschaft. Dabei engagieren wir uns für die Durchsetzung der Allgemeinen Menschenrechte, für den demokratischen Rechtsstaat, für das Ideal der Freiheit und für die Rechte des Individuums. Den Menschen, die wegen Repressionen und Einschränkungen fundamentaler Menschenrechte wie der Religionsfreiheit fliehen mussten, ist hier staatlicher Schutz zu gewähren, inklusive der Freiheit von Religion.

Treffen der Säkularen Flüchtlingshilfe Stuttgart werden auf der Website und auf der Facebook-Seite der gbs Stuttgart veröffentlicht und in der WhatsApp-Gruppe der Säkularen Flüchtlingshilfe Stuttgart bekanntgegeben. In den Verteiler der WhatsApp-Gruppe werden nur persönlich bekannte Geflüchtete aufgenommen.

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