Die fatalen Irrtümer des Pandemie-Alltags

Alle haben es gewusst, alle haben davor gewarnt und nun ist sie da: die zweite Corona-Welle. Die Maßnahmen werden wieder verschärft, sogar ein zweiter Lockdown wird nicht mehr komplett ausgeschlossen. Viele haben dazu beigetragen, dass es dazu kam. Eine küchenpsychologische Analyse.

Sie kam mit Ansage, die zweite Welle. Seit Ende des Sommers begannen die Zahlen wieder zu steigen, zuerst langsam, lange waren sie stabil, nun wurde gestern der höchste Stand an Neuinfektionen binnen eines Tages seit Beginn der Pandemie vermeldet und die Lage beginnt, außer Kontrolle zu geraten. Gerne wird jetzt wieder mit dem Finger auf Berlin gezeigt, dessen Bezirk Neukölln laut gestrigem Tagesspiegel Checkpoint mit 173,1 die aktuell höchste Sieben-Tage-Inzidenz der Bundesrepublik aufweist. Aber zur flächendeckenden Ausbreitung im ganzen Land mit Stand gestern 57 ausgewiesenen innerdeutschen Risikogebieten haben schon mehr Menschen beigetragen als nur die Berliner Partypeople.

Fatale Grundhaltungen im alltäglichen Pandemie-Verhalten

Ein Grund könnten die mitunter folgenschweren Einstellungen des Einzelnen im Corona-Alltag sein, die man allerorten – nicht nur in Berlin – beobachten kann. Annahmen, geboren aus dem Wunsch nach Normalität oder der Überforderung mit der Situation. Der eigenen Psyche mögen sie Erleichterung verschaffen, nicht aber der Pandemielage.

"Ich pass' ja total auf"

Da wären zum Beispiel jene, die selbst der festen Überzeugung sind, sich äußerst vorsichtig zu verhalten, es de facto aber nicht tun. Sie merken gar nicht, was sie alles anfassen, kommen Menschen viel zu nahe und vergessen die Maske (wieder) aufzuziehen. Dahinter steht keine böse Absicht, vielleicht ist es einfach die schlichte Überforderung, auf einmal Maßnahmen korrekt ausführen zu sollen, deren Funktionsweise und Hintergründe normalerweise Gegenstand eines eigenen Ausbildungs- oder Studienfaches sind. Das Ergebnis ist leider dennoch ein erhöhtes Infektionsrisiko.

"Ich treffe nur Leute, die ich kenne"

Dass man Leute, die man gut kennt, besser einschätzen kann, ist klar. Dass man eher weiß als bei Fremden, wie sie sich verhalten oder welche Kontakte sie haben und man abwägen kann, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Person sich ansteckt, auch. Daraus jedoch zu folgern, dass man sich gar nicht von ihnen anstecken kann, solange man nur bekannte Personen trifft, ist ein Trugschluss. Jeder kann potenziell Überträger sein, auch ohne es zu wissen. Die persönliche Bekanntschaft erleichtert zwar die Kontaktnachverfolgung im Fall einer Erkrankung, verhindern kann sie diese aber nicht.

"Ach so, ja klar, kann ich machen, wenn es dir wichtig ist"

Dann gibt es auch noch die Menschen, die zwar sehr verständnisvoll und entgegenkommend reagieren, wenn man sie bittet, den Abstand einzuhalten oder eine Maske aufzusetzen, die das von alleine aber nicht tun würden. Über die Gründe kann man spekulieren: ob es Gedankenlosigkeit ist oder sie es einfach für nicht so wichtig erachten. Um einer Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken, sind wir jedoch auf Eigeninitiative und Mitdenken angewiesen und dass Maßnahmen nicht erst dann befolgt werden, wenn daran erinnert wird.

"Man muss halt mit dem Virus leben"

Ist man dem Virus praktisch jeden Tag potenziell ausgesetzt, ist es nachvollziehbar, dass eine fatalistische "Ach, was soll's"-Attitüde entsteht. Alle Nicht-Home-Officer im Supermarkt oder im Großraumbüro, die gezwungen sind, ständig drinnen unter Menschen zu sein, müssen sich damit arrangieren, wenn sie nicht völlig durchdrehen wollen. Da man sich also beruflich sowieso nicht isolieren kann, ist man dann auch im Privaten eher geneigt, unter Leute zu gehen. Fatal: Denn genau diejenigen mit vielen Kontakten sind ja auch mit erhöhter Wahrscheinlichkeit mögliche Verbreiter.

"Bisher hab' ich's nicht bekommen, da passiert jetzt auch nix mehr"

Besonders absurd erscheint diese Haltung. Zu glauben, aus dem bisherigen Pandemiegeschehen, bei dem man Glück hatte, eine Prognose für die kommenden Monate ableiten zu können, ist ein klassischer Logikfehler. Jeden Tag, bei jedem Einkauf und jeder Begegnung werden die Karten neu gemischt. Bisherige Erfahrungen haben darauf keinen Einfluss.

"Die Maßnahmen bringen ja eh nix, das Virus breitet sich trotzdem aus"

Schließlich wären da noch die Zyniker, die enttäuscht wurden, da sich Covid-19 trotz ergriffener Schutzmaßnahmen weiter ausbreitet. Das ist in der Tat frustrierend, jedoch gibt es hierbei zwei Dinge zu bedenken: Zum einen wären die Infektionszahlen ohne "AHA-Regeln" wohl noch viel höher. Zum anderen sind vielleicht gar nicht die Maßnahmen selbst schuld, sondern die, die sie umsetzen sollen. Denn das beste Hygienekonzept auf dem Papier bringt nichts, wenn es nicht auch umgesetzt wird. Daran hapert es häufig (mögliche Gründe dafür haben Sie soeben gelesen) und die Einhaltung lässt sich nicht bis ins letzte Detail kontrollieren.

All diese Verhaltenstypen gibt es im ganzen Land. Nur tragen sie in Berlin schneller zur Ausbreitung bei, weil die Menschen dort besonders dicht aufeinander leben. Zur Erinnerung für alle Nicht-Berliner: Jeder Bezirk ist so groß wie eine deutsche Großstadt. Davon gibt es zwölf. Das ist wie Augsburg, Magdeburg, Münster, Wuppertal, Braunschweig, Gelsenkirchen, Wiesbaden, Mönchengladbach, zweimal Bochum und zweimal Bielefeld zusammen.

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