Sitzung des Ethikrates zum assistierten Suizid

Altbekannte Fragen – neu aufgelegt

Vergangenen Donnerstag tagte der Deutsche Ethikrat in einer öffentlichen Plenarsitzung zum Thema "Recht auf Selbsttötung?". Die interessierte Öffentlichkeit konnte die Sitzung im Livestream verfolgen und kann sie auch im Nachhinein noch ansehen.

Bereits in der Verhandlung über die Verfassungsbeschwerden zum Paragrafen 217 StGB (Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung) hatte der Vorsitzende Richter, Andreas Voßkuhle, bei seiner Eröffnungsrede darauf hingewiesen, dass es bei dieser Verhandlung nicht um eine moralische Bewertung der Suizidhilfe oder um allgemeine gesellschaftliche oder religiöse Wertvorstellungen dazu gehe. Vielmehr gelte es zu klären, ob durch das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in verfassungsrechtlich gesicherte Freiheitsrechte von uns Bürgerinnen und Bürgern eingegriffen werde. Die Antwort auf diese Frage teilte das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar dieses Jahres in seiner Urteilsverkündung mit: Paragraf 217 StGB ist verfassungswidrig und nichtig.

Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil festgestellt: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen."

Angesichts dieser klaren Entscheidung muss man sich erstaunt fragen, warum sich der Ethikrat acht Monate danach mit einer Fragestellung befasst, die hinter das Urteil zurückgeht, und warum Referenten dann auch noch die Frage nach der moralischen Erlaubtheit von Suizid stellen. Wie bereits 2014 und 2017 positionierten sich die Referentin und die Referenten in der Sitzung am 22. Oktober mehrheitlich eher auf der Seite der Skeptiker.

Fünf Ethikratsmitglieder stellten ihre Positionen vor und diskutierten mit dem virtuellen Publikum

Besonders der Beitrag von Prof. Franz-Josef Bormann stach hier hervor. Er lehrt katholische Moraltheologie an der Universität Tübingen und führte eine lange Reihe von philosophischen und religiösen Argumenten ins Feld, die aus seiner Sicht gegen eine Erlaubtheit des Suizids sprechen.

Prof. Andreas Kruse, Gerontologe an der Universität Heidelberg, betonte zwar seinen Respekt vor der Selbstbestimmung, positionierte sich dann aber klar für ein Weiterleben auch unter schweren Bedingungen. Er mahnte eine Beratung für das Leben an. Suizidwillige Menschen sollten auf eine Person treffen, die sich eindeutig auf die Seite des Lebens stelle, für das Leben werbe und dazu auch "Störfragen" stellen müsse. Wenn jemand dann trotzdem bei seinem Sterbewunsch bleibe, müsse man das wohl respektieren. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass aus so einer Position auch leicht ein Beratungszwang für Sterbewillige abgeleitet werden kann.

Prof. Carl Friedrich Gethmann lehrt Philosophie an der Universität Siegen und lehnt das moralische Verbot des Suizids – ebenso wie eine Pflicht zum Leben – ab und hält demzufolge auch einen Zwang zum Weiterleben für moralisch nicht gerechtfertigt. Er brachte das Konzept der "Binnenrationalität" vor, mit dem er die Problematik auflöste, dass eine außenstehende Person die Entscheidung zur Lebensbeendigung für sich so nicht treffen würde, dennoch aber nachvollziehen könne, dass eine andere Person mit einer anderen Wertepriorität diese Entscheidung zum Freitod für sich fällen kann. Hier dürfe man nicht den Anspruch stellen, dass die Gründe als allgemeingültig gelten können. Nachvollziehbarkeit sei nicht gleichzusetzen mit Verallgemeinerbarkeit.

Immer wieder taucht in der öffentlichen Diskussion der Hinweis auf, dass es sich bei der Gruppe derjenigen Menschen, die am Lebensende oder in unabänderlichen Leidenssituationen einen rationalen Bilanzsuizid planen, nur um eine sehr kleine Gruppe handele, die deshalb nicht von Relevanz sei für die Diskussion – besonders im Hinblick auf die hohe Zahl der spontanen Verzweiflungssuizide und Suizidversuche. Dies lehnt Gethmann entschieden ab. Auch eine sehr kleine Gruppe sei von Relevanz und müsse beachtet werden. Dies hatte auch der Vorsitzende Richter des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bei der Verhandlung über die Verfassungsbeschwerden zu Paragraf 217 StGB im April 2019 festgestellt.

Prof. Stephan Rixen, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth, referierte das Urteil zu Paragraf 217 StGB vom 26. Februar. Er bezeichnete es als teilweise punktgenau, sieht aber auch Unschärfen, die Raum für den Gesetzgeber bieten. So stellte er im nächsten Schritt die Frage nach den Problemen, die dieses Urteil aufwirft, und nach den Perspektiven der Umsetzung. Die starke Akzentuierung des "normativen Individualismus", der ja auch im Zentrum eines modernen Menschenrechtsdenkens stehe, sowie der "antipaternalistische Grundton" des Urteils würden eine Relativierung in der Urteilsbegründung selbst erfahren, so Rixen. Aus seiner Sicht ermögliche das Urteil jedoch auch, eine Relationalität von Selbstbestimmung zu definieren.

Ungeklärt bleibe aber, ob und wie das zur Basis für ein Schutzkonzept werden könnte. Es stelle sich die Frage nach einer Beratung zum Leben. Erst in der Auseinandersetzung mit dem Entschluss könne sich die Ernsthaftigkeit erweisen. Beratungs- und Hilfsangebote dürften als ausdrückliche Ermutigung zum Weiterleben gestaltet werden, also mehr sein als eine bloße Information und Aufklärung. Er fragte, ob es in dieser Diskussion einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Ort für die Menschenwürde gebe, angesichts der Tatsache, dass das Urteil die Menschenwürde nur im Hintergrund des Persönlichkeitsrechts sehe. Er vermisse die Menschenwürde als zentralen Punkt in der Debatte.

Sein Vorschlag lautete, dass Selbstbestimmung differenzierter wahrgenommen werden sollte. Es stelle sich die "Frage, ob ein relationaler Umgang mit suizidaler Vulnerabilität als Aspekt der Menschenwürde-Garantie rekonstruiert werden kann. (…) Vulnerabilität und Relationalität sollten eine Chance sein, den Menschenwürde-Begriff als Aspekt der Selbstbestimmung und nicht als Widerspruch zu ihr zu profilieren".

Hier wird man von säkularer Seite in Zukunft sehr aufmerksam sein müssen, wenn der Begriff Relationalität fällt. Das scheint neben Vulnerabilität und Relativierung von Autonomie eine weitere Stoßrichtung der Gegner einer liberalen Regelung des assistierten Suizids zu sein.

Schließlich betonte Prof. Frauke Rostalski, Lehrstuhlinhaberin und Strafrechtsexpertin an der Universität Köln, in ihrem Referat besonders die Unsicherheiten rund um die Feststellung der Freiverantwortlichkeit eines Suizidwilligen. Dabei sieht sie eine Strafbarkeitslücke bei Zweifeln hinsichtlich derselben. Strafbarkeit solle auch dann möglich sein, wenn im Nachhinein nicht sicher feststellbar sei, ob der Sterbewillige frei von Willensmängeln war. Ein helfender Dritter würde sich demnach strafbar machen, wenn er nicht sorgfältig geklärt hätte, ob der Sterbewunsch freiverantwortlich ist. Paragraf 222 StGB (fahrlässige Tötung) erfasst diesen Tatbestand ihrer Meinung nach nicht. Aus diesem Grund stellte sie einen eigenen Gesetzentwurf1 vor, der jedoch das Strafbarkeitsrisiko für potenzielle Suizidhelfer und Suizidhelferinnen derart erhöht, dass er wohl stark abschreckend auf diese wirken dürfte. Infolgedessen würde es vermutlich, ähnlich wie beim verfassungswidrigen Paragrafen 217 StGB, Sterbewilligen de facto unmöglich gemacht, Hilfe bei Dritten zu finden.

Die anschließende Beantwortung der Fragen aus dem Publikum nahm die Frage nach einem Zwang zum Weiterleben noch einmal auf, der von allen Referenten abgelehnt wird. Die Frage nach der Zuständigkeit der Ärzte für den assistierten Suizid führte zu einer Diskussion, ob Suizidassistenz eine ärztliche Aufgabe sei, ob es eine Indikation für einen Suizid geben könne und wann eine Beratung in eine Rechtfertigungspflicht der sterbewilligen Person und damit eine bereits durch das Urteil ausgeschlossene, materielle Begründungspflicht des Sterbewunsches kippe. Schließlich erweiterte eine Frage nach dem politisch motivierten Suizid und dem Opfertod den Rahmen der Diskussion weit über das Thema der gesetzlichen Neuregelung hinaus.

Einschätzung: Die Selbstbestimmungsskeptiker arbeiten mit dem Zweifel an der Fähigkeit zu Autonomie und Freiverantwortlichkeit

Der Ethikrat will mit seinen jetzigen Beratungen bereits in einem frühen Stadium das ethische Feld im Hinblick auf eventuelle zukünftige Verfahren der Gesetzgebung bestimmen und darüber hinaus eine öffentliche Diskussion anregen, um die Bevölkerung zu informieren und zu sensibilisieren. Die Bevölkerung ist jedoch bereits sensibilisiert und befürchtet wohl eher eine erneute Behinderung bei der Ausübung ihres verfassungsgerichtlich festgestellten Selbstbestimmungsrechts.

Diejenigen, die einer selbstbestimmten Beendigung des Lebens skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, arbeiten mit dem Zweifel an der Fähigkeit zu Autonomie und Freiverantwortlichkeit. Sie schreiben dazu auch Sterbewilligen, die einen rational reflektierten Bilanzsuizid planen, Vulnerabilität zu, ja generell allen Schwerkranken, Alten und Menschen, die ein unabänderliches Leiden haben. Die Menschenwürde, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht hervorbringt, deckt und trägt, wird in Gegenstellung zum Selbstbestimmungsrecht gebracht. Bei der Darstellung von Prof. Rixen, welcher auch die Deutsche Bischofskonferenz in gesellschaftlichen und sozialen Fragen berät, sind entsprechende Anklänge zu erkennen, wenn er das Urteil vom 26. Februar als "paternalismuskritisch" bezeichnet und darin einen "normativen Individualismus" sieht. Individualismuskritik wird besonders von der katholischen Kirche in vielerlei Zusammenhängen vorgebracht, hier auch von Prof. Bormann.

Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung wohl keinen Gebrauch vom Recht auf Inanspruchnahme von Suizidbeihilfe machen wird, ist es für viele eine große Beruhigung, dieses Recht zu haben und zu wissen, dass es verfassungsrechtlich garantiert ist. Und jene, die eine selbstbestimmte Lebensbeendigung ablehnen, sind nicht gezwungen, das Recht für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Ihnen wird nur abverlangt, zu tolerieren, wenn andere dies tun. Suizidhilfegegnerinnen und -gegner sind dadurch in ihren Rechten nicht eingeschränkt, würden aber andererseits die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Grundrechten beschneiden, wenn sie sich mit ihren Vorstellungen beim Gesetzgeber durchsetzen könnten.

Der Ethikrat will die Bevölkerung informieren und sensibilisieren. Die Bevölkerung ist jedoch bereits sensibilisiert und befürchtet wohl eher eine erneute Behinderung bei der Ausübung ihres verfassungsgerichtlich festgestellten Selbstbestimmungsrechts.

Vorschläge wie "Störfragen" in einer einseitigen statt ergebnisoffenen Beratung, grundsätzliche Zweifel an Autonomie und Freiverantwortlichkeit, die starke Betonung von menschlicher Bezogenheit auf andere, die das Recht auf selbstbestimmte Beendigung des eigenen Lebens relativiert, Überlegungen zu einer Beratungspflicht – all das sind Vorschläge, die aufmerksam in der öffentlichen Diskussion zu beobachten sein werden. Beratungen vor allen Dingen, wenn sie zu einer Zwangs- oder Pflichtberatung ausarten, die auch nicht ergebnisoffen, sondern in erster Linie einseitig in Richtung Lebensbewahrung erfolgen sollen, werden viele Menschen davon abhalten, in einen echten Dialog zu treten. Eine Beratungspflicht wird sicherlich nicht dazu führen, dass man einem sterbewilligen Menschen bei der Entscheidungsfindung hilft. Und inwieweit kann man von Selbstbestimmung sprechen, wenn die Letztentscheidung, ob der Sterbewillige Hilfe bekommt, beim Helfer liegt? Müsste man hier nicht eher von einem Aushandlungsprozess sprechen, in dem beide ihre Selbstbestimmung ausüben, der größere Freiheitsgrad aber auf der Helferseite liegt?

Man kann also als sterbewillige Person in die Situation eines "Spießrutenlaufs" gelangen: Zuerst hat man womöglich eine Pflichtberatung zu absolvieren, muss ein Hilfsangebot finden und schließlich einen potenziellen Helfer von der Freiverantwortlichkeit, Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des eigenen Sterbewunsches überzeugen. Sind alle Voraussetzungen für eine Suizidassistenz sorgfältig geprüft und erfüllt, ist der Helfer dennoch frei in seiner Entscheidung, Hilfe zu leisten oder nicht. Schließlich muss dieser die Gründe akzeptieren und bereit sein, dieser Person in dieser konkreten Situation Suizidassistenz zu leisten. Ist der angefragte Helfer nicht bereit, zum Beispiel weil ihm die Gründe nicht behagen, welche Möglichkeiten hat der Sterbewillige dann, zieht er weiter zum nächsten potenziellen Helfer, bis er irgendwann fündig wird – oder eben nicht?

Wir brauchen kein neues Sterbehilfegesetz. Einem Missbrauch kann durch bereits vorhandene Gesetze begegnet werden. Allerdings sind Anpassungen im Medizinrecht, in den Berufsordnungen der Landesärztekammern und im Arzneimittelgesetz notwendig. Dazu gehört auch, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn endlich aufhört, die Umsetzung des Bundesverwaltungsgerichtsurteils hinsichtlich der Abgabe von Natrium-Pentobarbital durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) an sterbewillige Antragsstellerinnen und Antragsteller zu verhindern. Zu begrüßen wäre allerdings der Ausbau eines ergebnisoffenen Beratungsangebots zur Prophylaxe der großen Zahl von spontanen Verzweiflungssuiziden und Suizidversuchen.

Die nächste Veranstaltung des Deutschen Ethikrates zu diesem Thema findet am 17. Dezember statt. Es handelt sich um eine öffentliche Anhörung zur "Phänomenologie der Sterbe- und Selbsttötungswünsche".


1Reformvorschlag:
Neugestaltung von Paragraf 216 (Unerlaubte Tötung auf Verlangen und unerlaubte Förderung oder Veranlassung einer Selbsttötung) – "Wer einen anderen Menschen auf dessen Verlangen hin tötet, obwohl er nach den Umständen nicht davon ausgehen darf, dass die Selbsttötung frei von wesentlichen Willensmängeln ist, wird (...) bestraft. Ebenso wird bestraft, wer unter diesen Voraussetzungen die Selbsttötung eines anderen oder deren Versuch veranlasst oder fördert."

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