Interview

Gibt es Antisemitismus von links?

Der Publizist Gerhard Hanloser hat kürzlich einen Sammelband mit dem Titel "Linker Antisemitismus?" herausgegeben. Der hpd hat ihn und Peter Menne, der im Sammelband einen wichtigen Aufsatz beigesteuert hat, interviewt, um zu erfahren, was es mit dem Begriff des "Linken Antisemitismus" auf sich hat.

hpd: Guten Tag Herr Hanloser, Guten Tag Herr Menne, schön, dass Sie das Interview auch digital einrichten konnten. Zum Einstieg erst einmal etwas Definitorisches: Wie würden Sie Antisemitismus beschreiben, und wie lässt er sich etwa von Religionskritik abgrenzen?

Gerhard Hanloser (GH): Guten Tag, es freut mich, dabei zu sein. Nun, Religionskritik ist natürlich etwas völlig anderes als Antisemitismus. Die Kritik an Religion hat etwas Aufklärerisches, beispielsweise ganz klassisch in der Tradition von Nietzsche, Feuerbach oder auch Marx. Dabei wird das religiöse Denken beleuchtet und als eine Form des ideologischen Denkens herausgearbeitet. Ihr geht es darum, den Menschen als vernunftbegabtes Wesen in den Mittelpunkt zu rücken. Dadurch lassen sich auch Hierarchien und Institutionen des Religiösen kritisieren.

Antisemitismus dagegen kommt in Form des Anti-Judaismus schon bei Luther vor, der "den Juden" bereits bestimmte Eigenschaften angedichtet hat, etwa Verstocktheit und andere negative Charakteristiken. Hier steht eine Religion aggressiv gegen eine andere. Es gibt bei Luther bereits Elemente des eliminatorischen Judenhasses. Der moderne Antisemitismus konkretisiert dann schon deutlicher einen Vernichtungswunsch gegenüber den Juden. Dies konnte nationalistisch aufgeladen werden oder sich rassistisch zu einem eliminatorischen Antisemitismus verdichten, bei dem die Religion keine Rolle mehr spielt, sondern eine konstruierte "Rasse" im Zentrum steht, die für alle Übel der Welt verantwortlich sein soll.

Cover

Peter Menne (PM): Genau. Religionskritik ist vernunftgesteuert und kritisiert alle Religionen und höhere Mächte generell. Antisemitismus beruft sich dagegen gerade nicht auf diese Vernunftoption, sondern auf Vorurteile gegenüber einer Gruppe, die über die Religionszugehörigkeit "Jude" definiert wird. Dabei ganz wichtig: es liegt am Antisemiten, wen er nun zu den Juden rechnet. Gerade bei den Nazis – Nürnberger Rassegesetze – sind auch Leute als "Jude" verfolgt worden, die sich längst von ihrer Religion losgesagt hatten. Den harten Antisemiten geht es einfach um Vernichtungswillen; darum, eine Gruppe von Feinden aufzubauen: "Wir Guten gegen die Bösen!". Luther hat dafür das Drehbuch geschrieben mit seinem Spätwerk namens "Die Juden und ihre Lügen". Das Auslöschen war schon die Idee von Luther; Goebbels hat dann versucht, das industriell umzusetzen.

Im christlichen Europa sind Juden schon seit dem Mittelalter als eine stark separierte Gruppe präsent: Frankfurt war 1864 das zweite deutsche Bundesland, das den Ghettozwang aufgehoben hat. Bis dahin waren Juden in einen speziellen Stadtteil eingepfercht, der abends verschlossen wurde. Diese Ausgrenzung war im christlich geprägten Europa extrem präsent. Damit hatte man perfekte Kandidaten, um Vorurteile zu fällen; eine Gruppe, über die man sich viel einbilden konnte, weil man selbst die Ghettos nie besuchte. Also zusammengefasst: Im Antisemitismus werden Vorurteile gepflegt – genau das ist der Unterschied zur Religionskritik. Da geht es darum, tradierte Moralvorstellungen vernünftig zu hinterfragen und überflüssige Hypothesen – Ockhams Rasiermesser – fallenzulassen.

GH: Nochmal dazu ergänzend: Neben dem Vorurteil würde ich nach Adorno und Horkheimer noch einen anderen Begriff mit aufnehmen, nämlich den der Ideologie. Nicht umsonst gab es dem modernen Antisemitismus einen enormen Schub, als durch den Börsencrash 1929 vieles ins Wanken geriet. Krisenprozesse von Gesellschaften laden nämlich zu ideologischen Verarbeitungen ein, die einen Feind suchen und diesen für die Krise verantwortlich machen wollen. Eine daran sich anschließende Frage wendet sich der Subjektseite zu: Welche Personen neigen denn dazu, schnell ideologisch zu denken? Es scheint so zu sein, dass Personen, die sehr stereotypisierend denken, schwarz-weiß, die Feindschaftsbestimmung brauchen. Das sind autoritäre Charaktere, die eine gewisse Ordnung in die Welt bringen wollen, vor allem für sich. Mit diesem autoritären Charakter hat sich vor allem die kritische Theorie befasst.

Ihr Sammelband, den Sie erstellt haben, Herr Hanloser, beschäftigt sich mit linkem Antisemitismus. Was hat es denn mit dieser besonderen Kategorie auf sich?

GH: Da müssten wir natürlich auch zuerst einmal "links" definieren. Die Geschichte der Linken ist ja relativ breit und umfasst sehr viel. Sagen wir mal die Linke, oder das, was man so bezeichnen könnte, beginnt um 1848 mit der Arbeiterbewegung. Aus dieser Strömung kamen durchaus einzelne Vertreter, die veritable Antisemiten waren. Etwa Proudhon aus Frankreich, der als Vordenker des Anarchismus gilt. Er hat beispielsweise die Kritik am Kapitalismus und den Banken auch mit den Juden stereotyp in Verbindung gebracht. Auch von Marx ist die Schrift "Zur Judenfrage" bekannt, in der er das Geldwesen stark mit der Metapher des Judentums verknüpft. Dabei hat er die antijüdische Semantik der damaligen Zeit aufgenommen und mit ihr gespielt. Allerdings löst er sich bis zu seinem Hauptwerk "Das Kapital" von Kurzschlüssen, dass Juden synonym mit Geldwirtschaft oder Zirkulationssphäre stehen könnten. Dort schließt er solch falsche Personifizierung aus. Aber wenn man im Umfeld der historischen Linken Antisemitismus suchen will, dann sicherlich auf dieser Schiene eines falsch personalisierenden Antikapitalismus. Das andere Feld, in dem die Frage nach linkem Antisemitismus auftauchte, ist dann die Positionierung einiger Linker zu Israel und dem Nahostkonflikt generell.

"Wenn man im Umfeld der historischen Linken Antisemitismus suchen will, dann sicherlich auf dieser Schiene eines falsch personalisierenden Antikapitalismus."
Gerhard Hanloser

Wie kamen Sie dazu, genau linken Antisemitismus näher in Augenschein zu nehmen? Und wie kam es dann zu dem kürzlich erschienen Sammelband?

GH: Mir ist aufgefallen, dass dieser Begriff eine Chiffre ist, dem man in ganz unterschiedlichen Kontexten begegnet. Zum einen taucht er in wissenschaftlichen Abhandlungen und der Publizistik auf, aber auch in Verfassungsschutzberichten. Besonders in den letzten Jahren und Monaten, vor allem angesichts der Häufung antisemitischer Anschläge, die eindeutig auf das Konto von Rechtsradikalen oder Islamisten gingen, war von Seiten der Politik oft die Floskel zu hören, man müsse die ganze Bandbreite des Antisemitismus in den Blick bekommen, auch den von links. Nun ist es so, dass mit einem solchen Begriff viel mehr verdunkelt wird als erhellt. Es ist durchaus irritierend, dass etwa in Anbetracht der klar rechtsmotivierten Anschläge auf Synagogen oder der um sich greifenden Verschwörungsidee jetzt während der Coronazeit und der Dschihadistenangriffe in gleicher Weise von linkem Antisemitismus geredet wird. Da haben wir uns gefragt, ob es wirklich einen ähnlich gefährlichen Antisemitismus auch auf "linker" Seite gibt. Ein Sammelband ist auch deswegen herausgekommen, weil man so eine Thematik am besten mit mehreren Autoren stemmen kann, die sich auf ihren jeweiligen Gebieten besonders gut auskennen.

PM: Dazu direkt eine Ergänzung. "Linker Antisemitismus" ist heute vor allem ein Kampfbegriff, um politische Gegner zu diskreditieren und zu diffamieren und somit Diskussionen zu verhindern. Das hat sich auch bei demjenigen gezeigt, der den Begriff geprägt hat: Joachim C. Fest, ehemaliger FAZ-Feuilleton-Chef. Womit wir bei meinem Beitrag zum Sammelband wären, nämlich der Rezeptionsgeschichte des Stückes "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Reiner Werner Fassbinder. Das Stück hat in Deutschland 1976 für einen Skandal gesorgt. International wurde das Theaterstück als Kritik an der Kälte der Städte, als Kritik an Marktwirtschaft verstanden: Es bietet ein Erklärungsmodell an, wie es unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen – nämlich Markt – zu Ressentiments kommt. Die Gesellschaft funktioniert so, dass es letztlich allen schlecht geht, und genau daraus entwickeln sich Ressentiments: man sucht einen Bösen, der verfolgt werden kann. Das Stück bietet somit einen Erklärungsversuch, wie es etwa zu Antisemitismus kommen kann.

In Deutschland jedoch hatte besonders Joachim Fest behauptet, dass Aussagen von Personen, die im Stück klar als Nazis zu erkennen waren, als Aussage des Stückes selber zu verstehen seien, hat deren Meinung mit der Haltung des Autors verwechselt. Dadurch, dass er diese beiden Deutungsebenen vermischte, konnte er das Stück in seiner Gänze diskreditieren. Dies geschah aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem persönlichen Motiv heraus. Fest hatte kurz zuvor sein Hauptwerk herausgebracht. Dabei handelte es sich um eine sehr dicke Biografie über Hitler: über 1.000 Seiten, in der sehr viele persönliche Eigenschaften des Führers abgehandelt wurden und sehr emphatisch auf Hitler eingegangen wurde. Allerdings kamen die Verbrechen, für die der Mann verantwortlich war, kaum zur Sprache. Der Holocaust wurde auf vielleicht einem Dutzend Seiten abgehandelt, während die geplanten Prunkbauten ganze Kapitel in Anspruch nahmen. Fest beanspruchte, Hitler zu "entdämonisieren" – während er tatsächlich einen Supermann zeichnete: genau das fiel auf. Als Preußisch-Konservativer wollte Joachim Fest sich daraufhin von dem Vorwurf reinwaschen, ein Hitlerversteher zu sein. Daher wandte er die Taktik an, mit dem Finger auf jemand anderes zu zeigen, nach dem Motto: "Nicht ich bin der Verharmloser des Faschismus, sondern schaut dort hin: auf Fassbinder." Dadurch hat sich in Deutschland etwas festgesetzt, was eigentlich ein Vorurteil aus nachvollziehbarer Motivation war. Dort wurde das erste Mal der stehende Begriff eines "Linken Antisemitismus" benutzt.

Gerhard Hanloser
Gerhard Hanloser

GH: In dem Artikel von Fest damals hieß es unter anderem, dass die deutsche Linke von Moskau aus gesteuert werden würde, wo auch ihr Antizionismus herrühren würde. Dabei spricht er an, dass nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die neue deutsche Linke sich sehr pro-palästinensisch und gegen Israel positionierte. Dies hatte die Springerpresse zuvor ebenfalls aufgegriffen und wichtigen Teilen der Linken vorgeworfen, dass deren Haltung zum Staat Israel antisemitisch motiviert sei. Bei Fest manifestierte sich ein antisowjetischer Antikommunismus, Fassbinder und die Neue Linke packte er in dieses Feindbild hinein. Dies geht meiner Meinung nach bei Fassbinder jedoch völlig daneben. Weder hatte er sich je positiv zur UdSSR positioniert noch hat er sich zum Nahostkonflikt in größerem Maße geäußert.

PM: Genau. Fassbinder war einfach ein anarchischer Künstler, der nicht direkt einer politischen Strömung nahestand. Der sich aber kritisch zur damaligen Gesellschaft geäußert hat. Er porträtierte die Wirtschaftswundergesellschaft und vor allem ihre Schattenseiten: wo Minderheiten verfolgt wurden, etwa die damals "Gastarbeiter" genannten Migranten. Wo die in kleinbürgerlicher Umgebung ungerecht behandelt wurden, prangert Fassbinder das an. Man kann ihn schwer parteilich zuordnen, aber ich würde sagen, seine Werke sind irgendwo durchaus humanistisch und progressiv/links anzusiedeln.

Das bedeutet, dass der Begriff des Linken Antisemitismus in diesem Fall als Totschlagargument genutzt wurde, und Fest dazu diente, sich selbst von Vorwürfen, Antisemit zu sein, reinzuwaschen. Gibt es noch weitere Beispiele für so etwas, oder auch Fälle, wo es begründete Verdachtsmomente gibt? Kurzgesagt: Gibt es so etwas wie Linken Antisemitismus oder wird er nur als Kampfbegriff missbraucht?

GH: Also ich würde tatsächlich vom Linken Antisemitismus als stehendem Begriff so erst mal Abstand nehmen und sagen, natürlich gibt es Antisemiten unter den Linken und bestimmten Strömungen, wie schon beschrieben, aber man kann auch festhalten, dass in ihrer Frühzeit die sozialdemokratischen Kräfte am entschiedensten gegen Antisemitismus vorgegangen sind. Viele Juden schlossen sich den diversen marxistischen oder anarchistischen Strömungen der Arbeiterbewegung an, weil hier ein Programm der universellen Befreiung vorlag.

"'Linker Antisemitismus' ist heute vor allem ein Kampfbegriff, um politische Gegner zu diskreditieren und zu diffamieren und somit Diskussionen zu verhindern."
Peter Menne

Kommen wir aber zu dem Israel-Palästina-Konflikt. Hier geht es um Positionen, die die Linke in diesem Konflikt um Land eingenommen hat und einnimmt. Auch dort gab und gibt es antisemitische Taten, etwa den versuchten Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin 1969, dieser wurde nicht umsonst am 9. November verübt und mit der Erklärung einer neoanarchistischen Stadtguerillagruppe gerechtfertigt, die tatsächlich eine jüdische Einrichtung als legitimes Ziel ihres Protestes gegen Israel sahen. Dabei kann man definitiv von einer antisemitischen terroristischen Tat sprechen, deren Verursacher sich aus dem linksradikalen Milieu in Berlin rekrutierten.

Einen weiteren Fall stellt die Entführung einer Air-France-Maschine nach Entebbe 1976 dar. Die deutschen Entführer entstammten den Frankfurter Revolutionären Zellen. Sie fühlten sich stark verbunden mit dem palästinensischen Widerstand. Bei der Entführung kam es zu einer Separierung, manche sprechen von einer Selektion der Passagiere, bei der man israelische Staatsangehörige gegen Kampfgefährten in deutschen Gefängnissen freipressen wollte. Ob diese abscheuliche Trennung entlang der Kategorien Jude und Nicht-Jude oder entlang der Pässe verlief, ist nicht ganz eindeutig. Menschen zu entführen und auch noch in Kauf zu nehmen, dass Holocaustüberlebende als Geiseln genommen werden, ist an sich natürlich schon ein Akt der Barbarei, völlig gleich, ob nun explizit antisemitisch motiviert oder nicht.

In der jüngsten Geschichte haben wir also einzelne Terroristen, die sich links verorten und vereinzelt antisemitische Denkmuster angewandt haben. Heute haben wir aber immer noch den Konflikt um den Staat Israel und Boykottbewegungen. Wie steht es da um den Antisemitismus?

GH: Wir haben heute den Palästinakonflikt, der ein Konflikt um Land ist, in dem es um Okkupation geht, um Entrechtung und Landraub. Seit Jahrzehnten gibt es deshalb einen nationalen Befreiungskampf, dem auch Mittel des Terrorismus wie der Diplomatie eingeschrieben sind. Wir haben damit also eine sehr komplexe Geschichte, noch dazu wirken mehrere Länder mit ihren Interessen auf den Konflikt ein. Jetzt gibt es also eine globale Boykottbewegung, die sich "BDS" (Boycott, Divestment and Sanctions) nennt und für die Rechte der Palästinenser streitet. Mithilfe eines umfassenden Boykotts will man nun Israel zwingen, die besetzten Gebiete zu räumen.

"Natürlich gibt es Antisemiten unter den Linken und bestimmten Strömungen (...), aber man kann auch festhalten, dass in ihrer Frühzeit die sozialdemokratischen Kräfte am entschiedensten gegen Antisemitismus vorgegangen sind."
Gerhard Hanloser

In einem bemerkenswerten Bundestagsbeschluss wurde diese BDS-Bewegung kürzlich von allen Parteien als antisemitisch etikettiert, obwohl die politische und historische Fachwelt teilweise zu sehr anderen Urteilen kommt. Denn erst mal muss man festhalten, dass es eine Art des zivilen Protestes ist, im Gegensatz zu den vorhin genannten gewalttätigen Beispielen. Über den Sinn und Zweck dieses Boykotts lässt sich sicherlich heftig streiten, denn es ist auch ein Kultur- und akademischer Boykott, der meines Erachtens wenig Fortschrittliches in sich trägt. Dennoch sehen sich die meisten Aktivisten von BDS in der Tradition des Antiimperialismus und sehen sich in den Fußstapfen etwa der Anti-Apartheidsboykotts gegen Südafrika. Nun werden diese Aktivisten als antisemitisch markiert, was sich durch die Erklärungen dieser Bewegung so nicht bestätigen lässt.

Das hat nun Folgen für alle politisch Engagierten, die sich dem Nahostkonflikt menschenrechtlich nähern und israelisches Unrecht verurteilen. Diese werden öffentlich als BDS-Anhänger denunziert, auch mit der Rückendeckung dieses Bundestagsbeschlusses, und ihnen werden beispielsweise Räumlichkeiten für Veranstaltungen verwehrt. Der Erziehungswissenschaftler Michael Brumlik nennt dieses Phänomen den "neuen McCarthyismus", benannt nach Joseph McCarthy, einem Senator der USA aus den 50er Jahren, der damals Jagd auf alles Kommunistische gemacht hat, oder das, was er dafür gehalten hat. Damals wurden Stimmen schnell als Stalin-freundlich markiert, die linke oder linksliberale Töne anschlugen und sich im Kalten Krieg jenseits der westlichen Regierungslinie positionierten. Es hat in dem heutigen Fall auch den Anschein, dass linke Stimmen oder Personen, die menschenrechtlich argumentieren, mit dem Vorwurf des Antisemitismus ebenfalls mundtot gemacht werden sollen.

Peter Menne
Peter Menne

PM: Um ein kurioses Beispiel zu ergänzen: Zu den Opfern dieser Verfolgungen gehörte selbst Charlie Chaplin, der in die Schweiz flüchtete. Nicht etwa aus steuerlichen Gründen, sondern als er eine Vorladung zu den "Hearings about unamerican activities" erhielt. Wer dort hinbestellt wurde, war in den 50ern als Kommunist gebrandmarkt und wurde aus allen Prozessen ausgeschlossen, auch aus Hollywood. Dort mussten auch viele Akteure gehen zu der Zeit. Zu dem heutigen Konflikt muss man natürlich anerkennen, dass Israel die einzige funktionierende Demokratie in der Region darstellt. Aber wenn Diskussionen über das Staatshandeln verhindert werden sollen, etwa indem Organisationen, die darüber Veranstaltungen abhalten wollen, mit Kürzung der Gelder gedroht wird, dann kann man das schon als massive Einschränkung der Meinungsfreiheit und Aufklärung betrachten. Da kommen wir dann auch zu den Erkenntnissen unseres Sammelbandes, nämlich dass es durchaus einzelne Antisemiten unter den Linken gegeben hat und gibt. Aber dass die Mehrheit ganz anders gestrickt ist und der Linke Antisemitismus ein Kampfbegriff ist, um diese Mehrheit mit ihren Anliegen nicht ernst nehmen zu müssen.

GH: Damit folgt man der Logik des Gerüchts. Wer das Gerücht in die Welt gebracht hat, ist erstmal fein heraus, die Person, die Objekt des Gerüchts ist, hat dann das Problem, wie sie dieses Gerücht in irgendeiner Form wieder abstreifen kann. Das ist natürlich nicht nur eine absolut unfaire Diskursführung, sondern folgt der Logik des politisch eingesetzten Vorurteils. Es geht um Wohlgefälligkeit und Anpassungsbereitschaft, sonst ist man bedroht, einen moralisch aufgeladenen Vorwurf zu kassieren, dem ein politisch interessierter Antisemitismusbegriff zugrunde liegt. Denn sehr rasch wird Kritik an Israel als "antisemitisch" bezeichnet. Eigentlich müsste man definieren, worin genau der Antisemitismus des Gegenübers liegt. Doch bei diesen Anschuldigungen wird der Begriff entleert und dem Gegner einfach übergestülpt, um sich nicht mehr näher mit seinen eigentlichen Argumenten befassen zu müssen. Das führt zu einer Verrohung des Diskurses, an dem niemand ein Interesse haben kann, der an einem Austausch der besseren Argumente interessiert ist, mal so ganz habermasianisch gesprochen.

Was Sie dort schildern, erinnert auch an identitätspolitische Zuweisungen, die eben aus ganz bestimmten Merkmalen eine kollektive Gruppenzugehörigkeit erstellen. Trägt etwa linke Identitätspolitik vielleicht dazu bei, dass antisemitische Ressentiments wieder aufleben? Diese Strömung der Linken fokussiert ja stark auf scheinbare Identität, statt auf Klassenfragen oder finanzielle Teilhabe.

PM: Solche identitären Zuschreibungen sind leider am Anwachsen, nicht nur in der Linken, sondern insgesamt. Das ist genau eine Art, wie man in einer komplizierten, oder komplex gewordenen Welt Diskurse vereinfacht: Es werden Gruppen konstruiert. Ich finde, das stellt einen bedrohlichen Rückschritt in der Diskussionskultur dar. Kern einer linken Diskussionskultur ist sicherlich ein emanzipativer Anspruch, aufklärerisch im Sinne von Gleichberechtigung. Dabei gehört das Individuum sicherlich als Kern dazu. Da gibt es sicherlich Kontroversen mit eher Klassen-orientierten Positionen – nur das Konstruieren von ganz speziellen Identitäten sehe ich eigentlich als autoritäres Verhalten an. Denkt man an Adornos Schriften zum autoritären Charakter, dann stellt sich dies hier als ganz simples Schubladendenken dar. So legt man sich die Welt schnell zurecht, aber leider eben unzutreffend. Wirft man etwa Menschen, die aus Saudi-Arabien vor dem wahhabitischen Islamismus geflüchtet sind, in einen Topf mit Islamisten, dann führt das einfach zu einem Wirklichkeitsverlust. Die Frage ist: wie bringt man die Energie auf, sich einer komplexen Wirklichkeit zu stellen und mit dem Vereinfachen erst möglichst spät anzufangen?

"[Identitäre Zuschreibung] ist genau eine Art, wie man in einer komplizierten, oder komplex gewordenen Welt Diskurse vereinfacht: Es werden Gruppen konstruiert. Ich finde, das stellt einen bedrohlichen Rückschritt in der Diskussionskultur dar."
Peter Menne

GH: Das ist eine schöne Formulierung. Bei der Identitätspolitik würde ich vor allem eines zurückweisen: Man geht dabei nämlich von einem privilegierten Sprechort aus. Von dem aus ist es angeblich möglich, über andere zu urteilen oder eben anderen ein Urteil zu verbieten. Das ist etwas, das die Diskussionskultur unterläuft und hochgradig autoritär ist. Wenn Muslime aus ihrem tatsächlichen oder gefühlten Opferstatus heraus etwa jegliche Religionskritik untersagen wollen, dann muss man dies scharf zurückweisen. Identitäre Zuschreibungen und privilegierte Urteile unterlaufen einfach den Erfahrungsaustausch, den Streit und das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses.

Sie haben selbst die nach Klassen getrennte Gesellschaft angesprochen. Natürlich ist die habermasianische Vorstellung von gleichwertigen Diskursteilnehmern, die sich auf gleicher Ebene verständigen, etwas idealistisch. Ein Unternehmer hat immer mehr Macht als der Arbeitnehmer, der im gesellschaftlichen Gefüge ganz woanders steht. Dennoch würde ich in einem aufklärerischen Diskurs daran festhalten: Es gibt nicht so etwas wie einen privilegierten Sprechort qua Identität, denn verbietet man jemandem dadurch die Kritik, kommen wir zu autoritären Ausschlüssen vom Diskurs.

Gerhard Hanloser (Hrsg.): Linker Antisemitismus?, Wien, Mandelbaum Verlag, 304 Seiten, 22 Euro

Unterstützen Sie uns bei Steady!