Der Bundespräsident und der Kirchentag

Teilnehmen oder nicht?

Der Bundespräsident kritisiert die Kirchen für die Vertuschung der Missbrauchsfälle und gut vier Wochen später nimmt er am Ökumenischen Kirchentag teil. Geht das? Eine Aufforderung.

Vergangenen Donnerstag verlieh Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das "Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" an zwei Menschen, die sich um die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche verdient gemacht haben. Zum einen an Matthias Katsch, den Mitgründer und "das Gesicht" der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, zum anderen an den früheren Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, den Jesuitenpater Klaus Mertes. Beide haben Anfang 2010 – gemeinsam mit anderen Betroffenen – eine Welle von Enthüllungen über die tausendfachen Missbrauchsfälle in den beiden großen Kirchen losgetreten. Über die Auszeichnung wurde in den Medien zahlreich berichtet und sie fand ganz überwiegend Zustimmung. Doch es ist ein anderes Detail, das sauer aufstößt:

In seiner Rede zur Verleihung sagte Steinmeier: "(...) jahrzehntelang haben mächtige Institutionen den Mantel des Schweigens über tausendfachen Missbrauch ausgebreitet." – Im weiteren Verlauf der Rede wird er die Kirchen immerhin noch beim Namen nennen. Doch schon in gut vier Wochen wird er beim Ökumenischen Kirchentag 2021 genau diese Institutionen feiern. Am Freitag (14. Mai 2021) wird er auf der Festveranstaltung eine "Grußbotschaft" senden und am Sonntag (16. Mai 2021) wird er beim Schlussgottesdienst noch ein "Grußwort" halten.

Das Aktionsteam "11. Gebot", bei dem ich mich engagiere, das sich gegen die staatliche Finanzierung von Kirchentagen und für Missbrauchsbetroffene der Kirchen einsetzt, meint hierzu: Wenn der Bundespräsident ein echtes Signal gegen die Vertuschung des Missbrauchsskandals in den Kirchen setzen wollte, würde er seine Teilnahme am Ökumenischen Kirchentag 2021 absagen.

Bislang spielte das Thema Missbrauch in Steinmeiers Reden nach eigenen Recherchen gar keine Rolle. Im Januar 2020 forderte Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs sogar Unterstützung der politischen Spitzen des Landes, namentlich vom "ersten Mann im Staat", Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er müsse "diesen Abgrund der Gesellschaft in seine Reden aufnehmen" und damit die Priorität erhöhen, sagte Rörig.

Nun gut, könnte man meinen, dann wären die zwei Grußworte des Bundespräsidenten auf dem Kirchentag doch geeignet, genau darüber zu reden. Stattdessen sein Fernbleiben zu fordern – ist das schon ein Fall von Cancel Culture?

Die Zeit für Dialog ist vorbei

Die besseren Argumente sprechen für eine Absage der Teilnahme: Üblicherweise begründen Politiker ihre Teilnahme an den stark selbstreferentiell geprägten Kirchentagen mit den Schlagworten "Dialog suchen", "Debatten anstoßen", "Bürgernähe", "gesellschaftliches Engagement wertschätzen". Aber nachdem die Kirchen über Jahrzehnte untätig waren, verfängt diese Argumentation nicht mehr. Die Zeit für Dialog ist vorbei. Die Politik muss den Kirchen endlich die Kontrolle über die Aufklärung der Missbrauchsfälle entziehen. Steinmeier sollte daher nicht auf dem Kirchentag bei den Kirchenfunktionären für die Einsetzung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission werben (ich unterstelle zu seinen Gunsten, dass er das täte), sondern bei seinen Kollegen im Bundestag!

In seinem Grußwort könnte der Bundespräsident die Teilnehmer des Kirchentags zu einer Debatte über den sexuellen Missbrauch in den beiden großen Kirchen auffordern – doch was soll das bringen? Das Programm steht schon fest. Unter dem Stichwort "Missbrauch" findet man lediglich die Diskussionsrunde "Macht ist nicht gleich Autorität!". In gerade mal einer Stunde sollen dort vier Themenblöcke diskutiert werden: "Betrachtung der Macht", "Missbrauch", "Kirche, Geld und Finanzen" und "Amt als Wagnis". Wenn es hoch kommt, wird man also 25 Minuten über dieses Thema diskutieren. Erst eine Anfrage beim Kirchentag offenbarte, dass eine Veranstaltung in der online abrufbaren Programmdatenbank noch fehlte, die aber in der großen Übersichtstabelle zu sehen ist: Am Samstag, den 15. Mai 2021 findet um 13:00 Uhr noch die Podiumsdiskussion "Tatort Glaubensraum. Stolpersteine der Macht im kirchlichen Missbrauch" statt. Zu den oben geschätzten 25 Minuten kommt also nochmal eine Stunde hinzu.

Allerdings lässt bereits der Titel wenig echten Aufklärungswillen vermuten – als wenn Missbrauch etwas wäre, wo man einfach so "hineinstolpern" könnte. Der Titel belegt auch, dass die Kirche von der Täterperspektive nicht ablassen kann: Missbrauch, das bedeutet nicht Leid für die Opfer, sondern einen Stolperstein für den Täter auf dem Weg zu höheren kirchlichen Würden. Überdies wird die Diskussion geleitet von Bischof Franz-Josef Overbeck. Dieser hatte 2012 in einer seiner Reden nichtreligiösen Menschen das Menschsein abgesprochen, als er behauptete: "Ohne Religion und ohne gelebte Praxis von Religion gibt es kein Menschsein." Man darf also ganz viel Empathie von ihm erwarten. Das alles ist weder eine Rede des Bundespräsidenten wert noch die Millionen-Zuschüsse aus öffentlichen Haushaltsgeldern.

Präsident des ZdK: In vielen Bistümern sei "sehr viel Vorbildliches passiert"

Sehen wir uns an, wer hinter dem Ökumenischen Kirchentag steht: Nach eigener Beschreibung ist er "eine christliche Veranstaltung in Trägerschaft des Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)". Der Präsident des ZdK, Thomas Sternberg, hat sich in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen gegen die Einsetzung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission durch den Bundestag ausgesprochen – genau dies fordern aber die Betroffenen in einer Petition, die sie in den nächsten Wochen an den Bundestag übergeben werden. Sternberg begründet seine Skespsis damit, dass "in vielen Bistümern sehr viel Vorbildliches passiert".

Die Betroffeneninitiativen sehen das nach über elf Jahren der Verschleppung freilich anders. Und auch auf das ZdK selbst sind viele Betroffene nicht gut zu sprechen: Schon 2018 twitterte Matthias Katsch vom Eckigen Tisch: "Seit acht Jahren warte ich darauf, dass dieses ZdK sich mal mit der Missbrauchskrise befasst und auf Betroffene zugeht. Über informelle Kontakte sind wir nie hinaus gekommen. Zum Klerikalismus gehören halt immer zwei." Im Februar 2021 schob er nach: "Fakt ist, das ZdK unterstützte bei Aufarbeitung und Entschädigung stets die Position der Bischöfe und stellte sich konträr zu den Betroffenen. An einem Austausch war man nie interessiert, als ob das Thema Missbrauch die Laienvertreter:innen nichts anginge."

Warum sollte man also auf dem Kirchentag einen neuen Diskussionsversuch starten? Und noch konkreter auf die Ausgangsfrage bezogen: Was würde da ein Grußwort des Bundespräsidenten nützen? Das ZdK wird zu 91,57 Prozent vom Verband der Diözesen Deutschlands finanziert – sprich: der katholischen Kirche in Deutschland. Die stets gern behauptete Unabhängigkeit des ZdK und der Status als "Laienorganisation" sind Legenden, die wir vom Team des "11. Gebots" schon seit seiner Gründung 2014 immer wieder richtigstellen.

Bei der Ordensverleihung forderte Steinmeier: "Gutes Zureden und Forderungen nach individueller Buße reichen nicht aus. Solche Fälle dürften nie wieder nur als innere Angelegenheiten der betroffenen Institution, auch nicht der Kirche behandelt werden." Nachdem sich der Bundespräsident des Themas endlich angenommen hat, sollte er folglich auch sein Verhalten in Bezug auf die Kirchen anpassen. Eine weitere alljährliche Sonntagsrede auf einem Kirchentag würde jedoch den Eindruck vermitteln, es gehe weiter wie bisher. Seine Teilnahme am ökumenischen Kirchentag wäre daher ein weiterer Schlag ins Gesicht der Opfer. Es wäre somit kein Fall von Cancel Culture, sondern nur konsequent, wenn man dem Bundespräsidenten eine Absage seiner Teilnahme empfiehlt.

Flammender Appell im Bundestag statt Grußworte auf dem Kirchentag

Bei der Frage, ob der Bundespräsident an dem christlichen Großereignis teilnehmen sollte oder nicht, hilft auch ein Rückblick: Bei seinem letzten Kirchentagsaufritt (2019 in Dortmund) forderte er selbst: "Wir wollen die Welt nicht nur beschreiben und beklagen, sondern wir wollen sie zum Besseren verändern." Genau dafür setzen sich auch die Betroffeneninitiativen ein. Schon seit über elf Jahren. Gegen den Widerstand der Kirchen und weitgehend ohne die Unterstützung der Politik. Steinmeier sollte daher keine Grußworte auf dem Kirchentag halten, sondern einen flammenden Appell im Bundestag an seine Kollegen richten, endlich tätig zu werden.

Gehen wir noch weiter in der Zeit zurück: Der letzte Ökumenische Kirchentag fand 2010 in München statt. Steinmeier war damals noch Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und wirkte an einem Podium zum Thema "Ist nach der Krise vor der Krise?" mit. (Selbst der kirchentreueste Christ muss sich diese Frage wohl mit einem klaren "Ja" beantworten.) Erst im Januar 2010 hatte Matthias Katsch zusammen mit zwei ehemaligen Mitschülern die Debatte über kirchlichen Missbrauch ins Rollen gebracht. Der Kirchentag nahm damals kurzfristig ein zusätzliches Podium mit ins Programm auf. Bei der Eröffnungsveranstaltung wurden die Vertrauenskrise und der Glaubwürdigkeitsverlust der Kirchen wegen der Missbrauchsskandale beklagt. Bundespräsident Horst Köhler und Papst Benedikt XVI. ermutigten die Christen in Grußworten, sich für die Kirche weiterhin zu engagieren. Die Kirchen hätten große Verdienste und seien ein Ort der Hoffnung. Der christliche Glaube schaffe Orientierung. Ich befürchte, dass wir 2021 nahezu identische Worte hören werden, aber dabei bleibt es dann auch. Die Opfer werden weiterhin um ihre Entschädigung kämpfen müssen. Und ohne echte Aufarbeitung wird auch die Prävention kaum gelingen.

In seiner Rede zur Verleihung des Verdienstordens sagte Frank-Walter Steinmeier: "Neben vielem anderen hatten Sie das alte Schimpfwort vom Nestbeschmutzer zu ertragen. Dabei ist es doch gerade so, dass die angeblichen Nestbeschmutzer die ersten sind, die angefangen haben, das Nest zu reinigen." Man kann dem Bundespräsidenten nur raten, es den beiden Ordensträgern gleich zu tun: Durch eine Absage seiner Teilnahme würde er nicht das kirchliche Nest beschmutzen, sondern den Druck zur echten Aufarbeitung weiter erhöhen.

Die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut kann man hier nachlesen.

Dieser Artikel ist eine überarbeitete Version eines Beitrags auf der Facebookseite des Aktionsteams "11. Gebot".


Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Bundespräsident natürlich nicht der einzige Spitzenpolitiker ist, der seine Teilnahme am Ökumenischen Kirchentag zugesagt hat. Auch Angela Merkel wird für eine "Dialogveranstaltung mit der Bundeskanzlerin" zur Verfügung stehen. An anderen Gesprächsrunden werden die Bundesminister Jens Spahn (CDU) und Heiko Maas (SPD), die Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung Dorothee Bär (CSU) und die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag Katrin Göring-Eckardt teilnehmen. Dazu kommen Bibelarbeiten mit dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil (SPD), dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.

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