Ferdinand von Schirachs Aufruf:

Europa braucht neue Grundrechte!

Soeben kommt Ferdinand von Schirachs spannendes neues Büchlein "Jeder Mensch" in den Handel. Dem bekannten Anwalt, Schriftsteller und Dramatiker ist auf knapp 32 Seiten erneut ein Weckruf gelungen, der vermutlich wieder für einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit sorgen wird.

Schon sein ARD-Film "Gott", in dem in einer Art Kammerspiel sehr seriös der assistierte Suizid thematisiert wird, hatte neben großer Zustimmung in der Öffentlichkeit auch zu erregten Protesten bei den Gegnern geführt (der hpd berichtete).

In dem Essay "Jeder Mensch" beginnt der Autor mit einem kurzen geschichtlichen Abriss zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. In jenem, einem der grundlegenden Dokumente unserer Verfassungsgeschichte, werden erstmals ausdrücklich "Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" als "unveräußerliche Rechte" aller Menschen genannt. Doch von Schirach zeigt auch auf, von welchen heftigen Geburtswehen das Herausarbeiten der Menschenrechte von Anfang an begleitet wurde. Denn damals, so von Schirach, "lebten etwa 700.000 Männer, Frauen und Kinder in der jungen Nation in Sklaverei". Und als elf Jahre nach Abfassung der berühmten Erklärung 55 Delegierte aus dem ganzen Land in Philadelphia in der "Independence Hall" zum Beraten der amerikanischen Verfassung zusammentrafen, waren 25 von ihnen Besitzer von schwarzen Menschen als Sklaven. Zu den Sklavenhaltern von damals zählen auch so berühmte Gestalten wie George Washington und Thomas Jefferson. Wie von Schirach erzählt, beschlossen die weißen Männer damals, über ihre Debatten 50 Jahre lang Stillschweigen zu wahren. Denn unter den Gründervätern gab es auch hellsichtigere Aufklärer wie Thomas Paine, die die Sklaverei als schweres Unrecht geißelten.

Cover

Von Schirch erinnert daran, wie auch im Fortgang der Geschichte über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775 bis 1783 – bei dem der französische Adlige Lafayette eine wichtige Rolle spielt – und dem Verlauf der Französischen Revolution von 1789, die Weiterentwicklung der Freiheitsrechte von Gewalt, Unrecht und Terror begleitet wird. Lafayette wie auch Thomas Jefferson, als damaliger amerikanischer Botschafter in Paris, gehören zu den Verfassern der berühmten "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789. Die eigens zum effektiveren Töten erfundene Guillotine wird zum nützlichen Instrument einer Schreckensherrschaft. Und die mutige Adlige Olympe de Gouge, die erstmals beherzt Grundrechte für Frauen einfordert, wird bekanntlich von Robespierres Männern 1793 geköpft. Das fehlt leider bei von Schirach.

Mit einem Sprung landet der Autor dann in der Jetztzeit, bei den schwierigen Prozeduren, unter denen schließlich 2014 der EU-Grundrechte-Charta zu geltendem Recht verholfen wird. Von Schirach nennt sie eine "sehr fein austarierte Vereinbarung", die den "Geist der Verfassungen und der Rechte aller Länder der Europäischen Union" wiedergebe. "Aber so brillant dieser Kompromiss auch ist", resümiert der Autor, "er hat nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789." Die Charta sei im Übrigen nur bei zwölf Prozent der Europäer überhaupt bekannt. "Und selbst wenn EU-Mitgliedstaaten sie systematisch verletzen", beanstandet der erfahrene Jurist, "kann sie nicht vor den Europäischen Gerichten eingeklagt werden."

Gleichwohl hebt er zu Recht die langen Friedenszeiten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und die großen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung in unserem Leben lobend hervor. "Nie zuvor", schreibt er, "war unser Leben in einem solchen Umfang in Würde, Freiheit und Gleichheit möglich. Die Utopien der großen Erklärungen der Menschheit wurden weitgehend wahr." Doch dann sein Einwand: "Aber jetzt stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen."

Und damit wendet sich der Autor mit seinem eigentlichen Anliegen direkt an die Leserinnen und Leser. Was sicher manchem Politiker und Europarechtler als Provokation erscheinen mag: von Schirach fordert für die Bürger*innen der Europäischen Union nicht weniger als sechs neue Grundrechte ein, "die einfach sind, naiv und Ihnen utopisch erscheinen mögen. Aber genau darin könnte ihre Kraft liegen". Im hehren Deutsch der Verfassungssprache formuliert der Jurist dann aus:

Wir, die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, erachten die nachfolgenden Grundrechte, in Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten, als selbstverständlich:

Artikel 1 – Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Artikel 4 – Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

Artikel 5 – Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

Artikel 6 – Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.

Wie wird die Öffentlichkeit diese Vorschläge zur Kenntnis nehmen?

Man darf schon sehr gespannt sein, wie die Öffentlichkeit diese Vorschläge zur Kenntnis nehmen wird. Wie sich Politiker und Verfassungsrechtler diesen Herausforderungen stellen werden.

Zu Artikel 1: Die Forderung nach einem Grundrecht auf eine "gesunde und geschützte Umwelt" wird den Öko-Aktivisten, Naturschützern und Biodiversitätsforschern wahrscheinlich viel zu vage formuliert sein. Wer etwa die Klagen des Hamburger Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht in seinem Buch von 2019 "Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten" ernst nimmt, wird sich dieser Kritik anschließen.

Zu Artikel 2: Beim Recht auf "digitale Selbstbestimmung" wird vermutlich jeder zustimmen. Jedoch bei der "Ausforschung von Menschen", so es dem Nutzen der Gesellschaft dienen kann oder muss, könnte das individuelle Selbstbestimmungsrecht möglicherweise an seine Grenzen kommen. Stellt sich doch bei Abwägung die Frage: Wem dient jeweils die Erhebung persönlicher Daten? Wird sie unter demokratischer Kontrolle vorgenommen? Wird sie in staatlicher Obhut zum Wohle aller durchgeführt? Man denke dabei etwa aktuell an staatliche Notmaßnahmen während der Pandemie.

Zu Artikel 3: Wie weit sich belastende KI-Algorithmen tatsächlich in der Anwendung "transparent, überprüfbar und fair" durchleuchten lassen, mögen IT-Experten entscheiden. Man fragt sich beispielsweise im Zusammenhang mit dem geplanten autonomen Fahren: Wie soll da in der konkreten Praxis der Mensch noch die eingeforderten "wesentliche Entscheidungen" treffen können?

Zu Artikel 4: Wahr gesprochen: Ja, Amtsträger sollen stets die Wahrheit sagen! Eine Forderung wohl seit Menschengedenken, oder? Jedoch: Wie lässt sich solches zuverlässig einlösen und überprüfen?

Zu Artikel 5: Globalisierung. Der kürzlich verfasste Entwurf für ein EU-Lieferkettengesetz scheint in diese Richtung zu zielen. Doch bereits in den ersten Diskussionen warnten Kritiker, die möglichen negativen Folgen gerade für ärmere Länder würden dabei übersehen. Sinnvoller seien direkte Sanktionierungen von Unternehmen mit mangelhaften Sozial- und Umweltstandards durch eine Negativliste der EU. Von Schirach fordert für die Herstellung von Waren und Dienstleistungen zu Recht "die Wahrung der universellen Menschenrechte" ein. Doch dürfte man etwa "die Schonung von Ressourcen" dabei auslassen? Beispielsweise die unausgesetzte Zerstörung riesiger Regenwaldgebiete zugunsten von Soja- oder Kokosplantagen in Lateinamerika gelte es hierbei zu bedenken.

Zu Artikel 6: All diese neuen Gesetze und noch viel mehr sollten vor den Europäischen Gerichten einklagbar sein. Das klingt gut, gerecht und zukunftsweisend.

"Diese Rechte", schreibt der Autor zum Schluss, "sind eine Ergänzung unserer Grundrechte in Europa, keine Kritik an ihnen. Sie werden das Bestehende nicht zerstören, sondern es fördern, es deutlicher, verständlicher und zeitgemäßer machen". Zur möglichen Umsetzung schlägt von Schirach die in der EU wohl vorgesehene Bürgerbeteiligung vor oder auch die Einberufung eines Verfassungskonvents. "Wenn wir wollen, können wir die Zukunft noch einmal so gestalten, wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Erklärung der Menschenrechte es in ihrer Zeit getan haben. Nichts hat eine solche Kraft wie der gemeinsame Wille der Bürgerinnen und Bürger."

Klingt gut, macht Mut. Doch es bleiben Fragen: Sollte wirklich ein einzelner kluger Mensch sich anmaßen, die ganz gewiss noch fehlenden Grundrechte auszuformulieren? Bei allem Respekt: Wäre es nicht ratsam, vielleicht zuvor einmal ins Volk hineinzuhorchen? Vielleicht haben sich ja auch schon andere intelligente Menschen Gedanken darüber gemacht, was bei den Grundrechten noch fehlt.

Sollte man nicht auch noch genauer hinsehen, was gerade die Menschen in den ärmeren und sich noch entwickelnden Ländern an neuen Grundrechten ersehnen? Und da ja die neuen Grundrechte doch universell und weltweit gültig sein sollen: Sollten wir nicht versuchen, endlich eine alte Idee wieder aufzugreifen, nämlich die Schaffung eines beschlussfassenden Gremiums für die Weltgemeinschaft, ein demokratisches Weltparlament?

Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch, Randomhouse, München 2021, 32 Seiten, 5 Euro

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