Alle reden über DITIB, aber was ist mit Millî Görüş?

Mitte Mai 2021 begrüßte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) eine neue Kommission zur Gestaltung islamischen Religionsunterrichtes in Nordrhein-Westfalen als "weiteren Meilenstein". Schnell kam Kritik auf, denn Teil der Kommission sind unter anderem die Verbände DITIB und die Islamische Religionsgemeinschaft NRW (IRG NRW), die als Millî Görüş-nah gilt. Liberal-islamische Verbände finden hingegen keinen Platz in dem neuen Beirat.

Mit welcher Euphorie NRWs Schulministerin vor wenigen Wochen die Kooperation mit einem AKP-nahen Verband wie der DITIB verkündete, stieß in einflussreichen Kreisen fast aller Parteien auf Unverständnis und Kopfschütteln. Nach etlichen Skandalen rund um den Verband, dessen Imame von der türkischen Religionsbehörde DIYANET kommen, wirkt es zumindest befremdlich und fragwürdig, wenn Gebauer schreibt, dass die ausgewählten Verbände "eigenständig und staatsunabhängig" seien. Diese Staatsunabhängigkeit hätte DITIB NRW durch eine Satzungsänderung nachweisen können. Der Staatsrechtler Josef Isensee hält die Neuerungen hingegen für unwirksam und bekräftigt, dass diese "keine Wirkung gegenüber der türkischen Staatsgewalt" hätten. Isensee hatte ähnliche Satzungsänderungen der DITIB Hessen bereits vor einiger Zeit geprüft und für unwirksam erklärt, was zur Folge hatte, dass die Zusammenarbeit der hessischen Landesregierung mit DITIB beendet wurde.

Dass die türkische Regierung über Kritik wenig erfreut ist, zeigte sich zuletzt vor allem in der medialen Hetze der regimenahen Blätter Sabah und Yeni Akit, die die Grünen-Politikerin Berivan Aymaz als "Feindin der Türkei" diffamierten, weil diese die Kooperation mit DITIB scharf kritisiert hatte. Da sich derartige Anfeindungen schon lange nicht mehr auf Regime-Medien in der Türkei beschränken, wurde nun der Staatsschutz eingeschaltet. Gerade hier stellt sich die Frage, welche Interessen die schwarz-gelbe Landesregierung in NRW verfolgt, wenn sie ignoriert, dass die Imame der DITIB-Moscheen nach wie vor von der türkischen Religionsbehörde DIYANET ausgebildet und bezahlt werden, welche direkt dem türkischen Präsidenten unterstellt ist. Einem Präsidenten, der seit Jahren antisemitische Narrative verbreitet und gegen Israel hetzt. Nicht nur für Cem Özdemir ist diese Hetze unerträglich, der Grünen-Politiker fordert: "Die massive antisemitische und israelfeindliche Hetze Erdogans muss Konsequenzen haben. Die jetzige Regierung und auch die Länder müssen Staatsverträge auf Eis legen."

Interessant ist in diesem Kontext allerdings auch, dass ein weiterer kritischer Verband so gut wie gar nicht in der medialen Kritik auftaucht. Hinter dem erst einmal unscheinbaren Namen der Islamischen Religionsgemeinschaft NRW (IRG NRW) soll sich laut muslimischen Aktivisten wie Eren Güvercin die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) verbergen, die in Teilen dem legalistischen Islamismus zugerechnet wird. Dazu merkt Güvercin an: "Mit der Islamischen Religionsgemeinschaft NRW (IRG NRW) sitzt ein Landesverband der IGMG in der Kommission. Die IRG NRW ist Mitglied im Dachverband 'Islamrat', dessen größter Mitgliedsverein die IGMG ist, wo sie wiederum die Mehrheit der Mitglieder stellt und zumindest erheblichen Einfluss auf den Vorstand des Dachverbandes hat."

Auch bei der Recherche zum Vorstand der IRG NRW taucht relativ schnell der Name Dr. Fatih Koyuncu auf, der noch 2016 im Vorstand der IGMG bestätigt wurde. Nun wird die IGMG in NRW inzwischen nicht mehr durch den Verfassungsschutz beobachtet. In Bayern rechnet man die IGMG hingegen weiterhin dem legalistischen Islamismus zu:

"Zentrale Organisationen im legalistischen Islamismus sind die türkisch geprägte Milli Görüs-Bewegung (MGB) und die Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) […]. Die Milli Görüs-Bewegung besteht aus mehreren Komponenten, die von einer gemeinsamen ideologisch-religiösen Ausrichtung und der ideellen Bindung an ihren Gründer Prof. Dr. Necmettin Erbakan zusammengehalten werden. […] Der Milli Görüs-Bewegung sind insbesondere […] die islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) zuzurechnen. […] Der Verfassungsschutz beobachtet bei Teilen der IGMG seit einigen Jahren Anzeichen für einen Loslösungsprozess von der Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei. Ein beträchtlicher Teil der Anhänger orientiert sich aber weiterhin an der islamistischen Milli Görüs-Ideologie." (Quelle: Verfassungsschutz Bayern)

Diese Verbindungen scheint man in NRW nicht mehr zu sehen, wobei ein kurzer Blick auf den Facebook-Auftritt der Bundes-IGMG zumindest Zweifel aufkommen lässt. So wurde dort noch 2020 der Gründer der Millî Görüş-Bewegung, der Antisemit Erbakan, vom IGMG-Vorsitzenden Kemal Ergün als "Mann, der sein Leben dem richtigen Weg widmete", glorifiziert. Keine Ausnahme auf einer Seite, auf der auch Literatur des Rassisten Necip Fazıl Kısakürek beworben wird, der in seinem Buch "Doğu Yolun Sapık Kolları" dazu aufgerufen hatte, Aleviten, Drusen und Jesiden "wie Brennnesseln auszureißen und wegzuwerfen".

All das scheinen keine Zufälle zu sein. Engin Karahan, ehemaliger Vize-Generalsekretär der IGMG, beschreibt in einem Artikel, wie Ergün von "Necmettin Erbakan auf seinem Sterbebett als Vorsitzender designiert" wurde. Wo Sicherheitsorgane hier einen Bruch innerhalb der Bewegung sehen, lässt sich für Außenstehende kaum nachvollziehen.

Nun lässt sich lange über die Ideologie des Islamismus in all seinen Facetten diskutieren und streiten. Klar sollte hingegen sein, dass die IGMG ein reaktionäres Islamverständnis und eine rigide Geschlechtertrennung propagiert. So schrieb der baden-württembergische Verfassungsschutz 2019:

"Ein besonderes Anliegen der IGMG ist die Ausbildung junger Frauen, die sich für Führungs- und Schulungsaufgaben im Frauenverband eignen. Die in der Organisation vermittelte Konzeption der 'tugendhaften Frau', die eine ebensolche Gesellschaft hervorbringen soll, orientiert sich an einer Islamauslegung, welche die Einhaltung spezifischer Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften einfordert. Das Tragen des Kopftuchs bzw. die als islamkonform erachtete Verhüllung wird zum Identitätsmerkmal und zur Pflicht erklärt. Kopftuch und Verhüllung sind die sichtbaren Symbole einer auf Geschlechtertrennung gründenden Gesellschaft."

Mit Blick auf grundlegende Pädagogik-Standards an staatlichen Schulen der Bundesrepublik, die auf Individualität und Genderpluralismus abzielen, bleibt auch hier fragwürdig, wie mit derart reaktionären Organisationen eine Erziehung mündiger Bürger*innen konzipiert werden soll. Vielmehr noch fühlt man sich durch die genannten Berichte über die IGMG an Zustände in christlichen Sekten erinnert. Dass gleichzeitig eine pluralistische Organisation wie der Liberal-Islamische Bund nicht Teil der Kommission für den islamischen Religionsunterricht in NRW ist, kann als Zeichen an die muslimischen Communities, aber auch an die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft verstanden werden, dass man wenig Interesse daran hat, ein vielfältiges Bild diverser Islamverständnisse abzubilden. Das ist nicht nur fatal, sondern inzwischen auch unverantwortlich.

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