Interview

"Uns verbindet das humanistische Ideal eines selbstbestimmten Lebens einschließlich eines selbstgewählten Lebensendes"

Dass Menschen selbstbestimmt sterben können, ist das gemeinsame Anliegen der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), von DIGNITAS-Deutschland und dem Verein Sterbehilfe. Anfang der Woche stellten die Organisationen ihre "10 Forderungen für humane Suizidhilfe in Deutschland" der Öffentlichkeit vor. Der hpd sprach mit Prof. Robert Roßbruch (DGHS), Sandra Martino (DIGNITAS-Deutschland) und Jakub Jaros (Verein Sterbehilfe) über ihre Forderungen, gemeinsame Erfahrungen im Bereich der Suizidhilfe und über einen möglichen neuen Paragraphen 217 StGB, durch den selbstbestimmtes Sterben in Deutschland wieder deutlich schwieriger werden könnte.

hpd: Herr Prof. Roßbruch, Frau Martino, Herr Jaros, am Montag haben Ihre Organisationen erstmals eine gemeinsame Pressekonferenz veranstaltet. Jede Ihrer Organisationen steht für Sterbe- beziehungsweise Suizidhilfe, aber jede doch auch in unterschiedlicher Weise. Vielleicht könnten Sie einmal erklären, was Ihr Verein macht – in Abgrenzung zu den beiden jeweils anderen Vereinen.

Robert Roßbruch: Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) ist keine Sterbehilfeorganisation, sondern eine Patientenschutzorganisation, die sich in diesem Sinne auch als eine Bürgerrechtsorganisation versteht. Die DGHS hat sich vor mehr als 41 Jahren gegründet und hat derzeit circa 24.000 Mitglieder. Das Leistungsangebot der DGHS ist sehr vielfältig. Hierzu zählen unter anderem die Herausgabe von Patientenschutzinformationen, insbesondere einer Patientenschutz- und Vorsorgemappe, die (juristische) Unterstützung bei der Durchsetzung von Patientenverfügungen sowie weiteren Patientenrechten, die Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen zur Humanisierung des Sterbealltags und die unentgeltliche Beratung von Menschen, die sich über Hilfen der Suizid- und Sterbebegleitung informieren möchten.

Außerdem bieten wir die unentgeltliche Vermittlung einer Freitodbegleitung an für den Fall, dass palliativmedizinische und andere suizidpräventive Alternativen nicht mehr möglich sind, sowie die unentgeltliche Betreuung und Begleitung Sterbender und Sterbewilliger. Gerade die Etablierung und letztlich die gesetzliche Verankerung der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sowie andere Vorausverfügungen sind vor allem auf die politischen und juristischen Initiativen der DGHS in den 1990er und 2010er Jahren zurückzuführen. Die Patientenverfügung und andere Vorausverfügungen waren und sind nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil des Leistungsangebots der DGHS. Hierzu zählt auch der von der DGHS entwickelte Notfall-Ausweis, mit dessen Hilfe zum Beispiel der behandelte Arzt über den QR-Code auf dem Notfall-Ausweis zu jeder Tages- und Nachtzeit von jedem Ort der Welt die digital hinterlegte und vom Betroffenen unterschriebene Patientenverfügung und/oder Vorsorgevollmacht im Volltext abrufen kann. Im Falle einer Auseinandersetzung bieten wir den betroffenen Mitgliedern kostenlosen Rechtsbeistand an. Einen solchen Rundum-Service bietet keine andere Organisation in diesem Land.

Nach dem Suizidhilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 und auf vielstimmigen Wunsch unserer Mitglieder war für uns klar, dass wir nun auch im Bereich der Suizidhilfe unseren Mitgliedern ein Angebot unterbreiten mussten und auch wollten. Die Delegiertenversammlung hat dann nach langen und intensiven Diskussionen im November 2020 beschlossen, dass die DGHS ihren suizidwilligen Mitgliedern die kostenlose Vermittlung einer Freitodbegleitung anbietet.

Jakub Jaros: Der Verein Sterbehilfe hilft seinen Mitgliedern bereits seit 2010 beim Suizid. Wir hatten vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020 Pionierarbeit geleistet, denn unser Verein war der einzige, der in Deutschland Suizidhilfe leistete. Von daher haben wir Vorsprung den anderen Vereinen gegenüber, was Erfahrung und Strukturen angeht. Wir sind außerdem der einzige Verein, der außer der intravenösen Methode auch die orale Methode bei Suizidassistenzen verwendet. Das ermöglicht uns, nach einer ausführlichen Schulung, die Suizidassistenz auch den Familienangehörigen zu überlassen. Diese Vorgehensweise hat sich als angenehm für die Sterbewilligen gezeigt und wird gerne in Anspruch genommen, da es dem Mitglied die maximale Flexibilität ermöglicht. 

Sandra Martino: Die Unterschiede sind gar nicht so groß. Alle drei Organisationen setzen sich für das Recht leidender Menschen auf ein selbstbestimmtes Lebensende ein und ermöglichen dessen Verwirklichung. Die Wege, wie man dieses Ziel erreicht, mögen sich leicht unterscheiden, doch überwiegen die Gemeinsamkeiten bei weitem. Das haben uns auch die letzten Tage und Wochen nochmals gezeigt. Die Vertreter aller drei Organisationen stehen seit jeher in losem Kontakt und tauschen sich gelegentlich aus.

hpd: Was mich zu der Frage führt, was Ihre Organisationen verbindet…

Jakub Jaros: Wie sich bei unserer gemeinsamen Pressekonferenz gezeigt hat, steht für alle drei Organisationen der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht ihrer Mitglieder an oberster Stelle. 

Robert Roßbruch: Uns verbindet das gemeinsame Ziel, die verfassungsrechtlich garantierten Persönlichkeits- und Freiheitsrechte auch realiter leben zu können. Dies schließt die freiverantwortliche Entscheidung ein, den Zeitpunkt, den Ort und die Art und Weise des eigenen Lebensendes eigenverantwortlich treffen zu können. Uns verbindet das humanistische Ideal eines autonomen und selbstbestimmten Lebens einschließlich eines selbstgewählten Lebensendes.

hpd: Anlass für die gemeinsame Pressekonferenz am Montag war ja der Jahrestag des Karlsruher Urteils vor zwei Jahren, in welchem das Bundesverfassungsgericht Paragraph 217 StGB für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt hat. Inzwischen wurden mehrere neue Gesetzentwürfe zur Regelung der Sterbehilfe in Deutschland vorgelegt – einige in der vergangenen Legislaturperiode und einer erst vor wenigen Tagen. Was halten Sie von diesen Entwürfen?

Sandra Martino: Sie sind überwiegend kontraproduktiv. Die Architekten der Gesetzesentwürfe reklamieren die primäre Intention, dass vulnerable Bevölkerungsgruppen geschützt werden müssten und sollen. Wir erkennen nicht, dass vulnerable Gruppen derzeit nicht hinreichend geschützt seien. Uns ist kein Suizid aus den letzten zwei Jahren bekannt, bei dem an einer vulnerablen Person unter dem Vorwand der Hilfeleistung ein Verbrechen verübt worden wäre. Was wir beobachten ist dagegen, dass es für leidende Personen ganz besonders erschöpfend ist, mit Bürokratie und formellen Vorgaben konfrontiert zu werden. Einen Anreiz, von riskanten und brutalen Suizidversuchen, mit Gefährdung weiterer Personen, abzusehen und sich professioneller Unterstützung zuzuwenden, wird durch gesetzliche Erschwerungen bestimmt nicht gesetzt. Ein gegenteiliger Anreiz schon eher. Wir glauben weder, dass die regulierungsaffinen Politiker ihre Gesetzentwürfe hier einer hinreichend gründlichen verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen haben, noch, dass sie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vertraut sind. Wir nehmen die Gefahr, die von unzureichend reflektierter Regulierung ausgeht, sehr ernst, aber wir haben auch gesehen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Gespür für Menschenrechte gezeigt hat.

hpd: Was ist denn konkret an den Entwürfen auszusetzen?

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RA Prof. Robert Roßbruch,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS).

Robert Roßbruch: Eine ausführliche Analyse der vorliegenden Gesetzentwürfe würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Daher nur kurz: Der in den letzten Tagen von Castellucci, Heveling, Kappert-Gonther et al. vorgelegte Gesetzentwurf stellt einen Paragraph 217 StGB 2.0 dar. Er ist aus meiner Sicht ebenfalls, wie sein Vorgänger, verfassungswidrig und bedarf keiner ernsthaften Kommentierung. Der Gesetzentwurf von Künast, Keul et al. ist sehr umfangreich. Er hat jedoch, neben gut gemeinten Ansätzen, sehr restriktive administrative Hürden, die von freitodwilligen Menschen nur schwer zu überwinden sind. Der Gesetzentwurf von Helling-Plahr, Lauterbach, Sitte et al. scheint der liberalste Entwurf zu sein, der es auf jeden Fall verdient, dass man sich ernsthaft mit ihm auseinandersetzt.

Alle drei Gesetzentwürfe gehen jedoch von einer Beratungspflicht aus, die wir nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen für problematisch erachten. So stellt das Bundesverfassungsgericht in seinem Suizidhilfe-Urteil zu einer möglichen Beratung und Aufklärung fest: "In­soweit gelten dieselben Grundsätze wie bei der Einwilligung in eine Heilbe­handlung." Zu diesen Grundsätzen des Patientenschutz- und Gesundheitsrechts gehört auch, dass es keine Aufklärungs- und/oder Beratungspflicht gibt. Gemäß Paragraph 630e Absatz 3 BGB kann der Patient jederzeit auf die Aufklärung verzichten. Das Medizinrecht kennt nur die Pflicht des Arztes, Aufklärung und Beratung anzu­bieten. Mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf diese Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass es auch beim Thema Freiverant­wortlichkeit des Suizids nur seitens des freitodbegleitenden Arztes eine Pflicht gibt, Aufklärung und Beratung anzu­bieten, hingegen keine Pflicht des Sui­zidwilligen, das Angebot anzunehmen. Es gibt also keine Beratungspflicht für den Suizidwilligen.

Im Übrigen liefe eine solche Pflicht auf eine Begründungs- und Recht­fertigungspflicht des Suizidwilligen hin­aus. Die freiverantwortliche Entscheidung über das eigene Leben bedarf jedoch nach dem Urteil des Bundesverfassungs­gerichts aber gerade "keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung". Es steht mithin im alleinigen Ermessen eines freiverantwortlich handelnden Su­izidwilligen, ob und in welchem Umfang er eine Beratung und/oder ärztliche Aufklärung in Anspruch nehmen möchte.

Nebenbei sei angemerkt, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Suizidhilfe-Urteil nicht ein einziges Mal den Begriff "Beratungspflicht" verwendet hat. Dass der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) so vehement für eine solche, die Autonomie des Einzelnen negierende Beratungspflicht eintritt, ist wohl primär den monetären Interessen dieses Verbandes geschuldet, der sich durch die Einführung einer Beratungspflicht verspricht, den größten Teil des Kuchens für die dann zu implementierenden, staatlich finanzierten Beratungsstellen zu erhalten.

Jakub Jaros: Übrigens möchte ich anmerken, dass derzeit kein Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht ist. Die Gesetzentwürfe von Castellucci, Heveling, Kappert-Gonther et al. sowie von Künast, Keul et al. sind lediglich Medien-Mitteilungen in Gestalt eines Gesetzentwurfs. Der Gesetzentwurf Helling-Plahr, Lauterbach, Sitte et al. wurde zwar in der vergangenen Legislaturperiode in den Bundestag eingebracht, hat sich nach dem Diskontinuitätsprinzip aber aktuell erledigt.

"Uns ist kein Suizid aus den letzten zwei Jahren bekannt, bei dem an einer vulnerablen Person unter dem Vorwand der Hilfeleistung
ein Verbrechen verübt worden wäre."
Sandra Martino, DIGNITAS Deutschland

hpd: Sie haben am Montag gemeinsam den "Berliner Appell" vorgestellt, in welchem Sie sich mit zehn Forderungen für humane Suizidhilfe in Deutschland an Politik und Medien wenden. Die erste und wahrscheinlich wichtigste Forderung ist, dass es keinen neuen Paragraph 217 StGB geben solle. Warum halten Sie das für wichtig?

Jakub Jaros: Das Bundesverfassungsgericht hat Paragraph 217 StGB für verfassungswidrig erklärt. Mit den wenigen Nuancen, die der Gesetzentwurf von Castellucci, Heveling, Kappert-Gonther et al., der unter anderem von Minister Heil und Ministerin Stark-Watzinger unterstützt wird, nun hinzufügen will, wird Paragraph 217 StGB keinen Millimeter verfassungskonformer.

Sandra Martino: Eine Regelung der Sterbehilfe hat im Strafgesetz nichts verloren. Man kann die Hilfe für eine nicht strafbare Handlung nicht unter Strafe stellen. Anstalten zu unternehmen, Ärzte, Angehörige von Pflegeberufen und Menschenrechtsorganisationen mit der Keule des Strafrechts davon abzuschrecken, leidenden Menschen zu helfen, empfinden wir als zutiefst befremdlich.

Robert Roßbruch: Es steht einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht gut zu Gesicht, wenn er existenzielle Fragen, und hierzu gehören fast alle bioethischen Fragen, mit Gesetzen und insbesondere mit dem Strafgesetzbuch regeln will. Ein freiheitlicher Rechtsstaat muss es grundsätzlich seinen Bürgern überlassen, ob sie Kinder haben wollen oder nicht und ob, wann und wie sie aus dem Leben scheiden wollen. Es zeichnet einen freiheitlichen Rechtsstaat gerade aus, es ist sozusagen sein Wesensmerkmal, dass er sich grundsätzlich aus den höchstpersönlich zu treffenden Entscheidungen seiner Bürger heraushält, solange diese Entscheidungen andere in ihren Freiheitsrechten nicht begrenzen. Insbesondere hat er die Freiheitsrechte seiner Bürger nicht ohne Grund durch Gesetze oder in anderer Weise zu beschneiden. Dies gilt vor allem für Fragen am Lebensanfang und am Lebensende. Diesen Grundsätzen stand der alte Paragraph 217 StGB und steht der geplante neue Paragraph 217 StGB diametral gegenüber. Daher sind beide strafgesetzliche Regelungen mit unserer freiheitlichen Rechtsordnung nicht kompatibel. Das Selbstbestimmungsrecht ist ein zentrales, in der Menschenwürde verankertes Recht. Daher muss es die Pflicht des Staates sein, dieses zentrale Grundrecht zu schützen und nicht, wie dies beim Paragraph 217 StGB der Fall war, zu begrenzen. Dieser Schutz muss selbstredend auch bei einem gewünschten Freitod gegeben sein. Selbstbestimmung als zentraler Bestandteil der Menschenwürde ist deshalb, so auch das Bundesverfassungsgericht, mit gewissen Einschränkungen der staatlichen Lebensschutzpflicht vorrangig.

hpd: In der Debatte um Sterbehilfe haben die Gegner des selbstbestimmten Sterbens ja ziemlich schwere Geschütze aufgefahren. Eines dieser argumentativen Geschütze ist die Unterstellung, Sterbehilfeorganisationen würden ihre Dienstleistungen vor allem aus Gewinnstreben anbieten. Was sagen Sie dazu?

Jakub Jaros: Diese Behaupung gehört zu den Lügen, die durch häufige Wiederholung nicht wahr werden. In Vereinen entfaltet sich bürgerliches Engagement. Sie sind keine GmbHs. Vereine können schon per Gesetz keine Gewinne erwirtschaften. Jeder Euro, den ein Verein ausgibt, wird vom Finanzamt darauf kontrolliert, ob die Ausgabe dem Vereinszweck gedient hat. Alle Mitgliederbeiträge – von minimal 50 Euro jährlich bis maximal 7.500 Euro einmalig – dienen der Finanzierung unserer Aufwendungen – Löhne, Honorare für Ärztinnen und Ärzte, Suizidmittel, Miete, IT-Betreuung – und kommen nie einem Mitarbeitenden oder Mitglied des Vorstands persönlich zugute.

Robert Roßbruch: Diese Unterstellung ist so alt, wie es Sterbehilfeorganisationen gibt. Klar ist, dass eine professionelle Freitodbegleitung mit Kosten verbunden ist. Klar ist auch, dass sich, je höher die Sicherheitsstandards angelegt und je kompetenter die bei einer Freitodbegleitung eingesetzten Professionen (Ärzte, Juristen) sind, dies zwangsläufig auch in der Kostenstruktur bemerkbar macht. Die mindestens an zwei Tagen im Außeneinsatz (An- und Abfahrt zu den Gesprächsterminen und dem Termin für die Freitodbegleitung) befindlichen Ärzte und Juristen erbringen eine nicht unerheblichen Stundeneinsatz, um diese Sicherheitsstandards zu erfüllen. Ganz zu schweigen von der ständigen Erreichbarkeit mit unzähligen Telefonaten und E-Mails, die während des gesamten Verfahrens zwischen den Freitodbegleitern und dem Suizidwilligen und/oder den Angehörigen erfolgen. Im Übrigen ist es sicher empfehlenswert, wenn sich die Sterbehilfegegner einmal mit den Kostensätzen einer ambulanten oder gar stationären palliativmedizinischen Versorgung oder mit den monatlichen Kosten eines Pflegeheimes in kirchlicher Trägerschaft oder mit den Bestattungskosten auseinandersetzen und diese ins Verhältnis mit den Kosten einer Freitodbegleitung setzen würden. Diese Kosten werden jedoch unhinterfragt akzeptiert, weil sie in das eigene ideologische Weltbild passen. Die Kritik an den Kosten einer professionellen Freitodbegleitung ist also ein scheinheilige, wie so viele pseudoethische Argumente, die von Sterbehilfegegnern kommen. Warum also soll eine professionelle Freitodbegleitung im Gegensatz zu allen anderen ärztlichen und anwaltlichen Leistungen kostenlos sein?

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Sandra Martino, Erste Vorsitzende des Vereins DIGNITAS-Deutschland.

Sandra Martino: Eine Freitodbegleitung zu planen und durchzuführen, die Betroffenen und deren Angehörige einfühlsam und vorausschauend durch einen mehrmonatigen Prozess zu begleiten und dafür zu sorgen, dass sich keine Risiken verwirklichen können, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die involvierten Parteien sollen dafür angemessen entschädigt werden. Außerdem braucht es zur Qualitätssicherung entsprechende Aus- und Weiterbildung. Die Organisationen verlangen zur Deckung dieser Kosten einen Beitrag für die Vorbereitung und Durchführung einer Freitodbegleitung. Der Zugang zu Suizidhilfe darf aber nicht vom Geld abhängen! Menschen, die in bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben, können eine Reduktion oder gar Befreiung dieses Beitrags beantragen. Damit dies möglich ist, steht die Solidargemeinschaft unseres Vereins ein. Wir können uns kaum vorstellen, dass jemand ernstlich der Auffassung ist, dass der Arztberuf, Pflegeberufe oder Suizidhilfe nur ehrenamtlich ausgeübt werden dürfen sollten, durch Laien. Nein, natürlich ist Professionalisierung für die Entwicklung und Erhaltung von Sicherheits- und Qualitätsstandards dringend erforderlich.

hpd: Ein weiteres Argument, das Gegner eines selbstbestimmten Lebensendes immer wieder anführen, ist, dass bei einer kompletten Freigabe von Suizidhilfe die Gefahr bestünde, dass alte und kranke Menschen in ein vorzeitiges Ableben gedrängt würden, um niemandem zur Last zu fallen. Schätzen Sie das anhand Ihrer Erfahrungen mit Sterbewilligen als realistische Gefahr ein?

Jakub Jaros: Nach unserer Erfahrung entspricht das nicht der Realität. Jeder Fall wird sorgfältig geprüft und so etwas ist bislang in keinem Fall vorgekommen. 

Sandra Martino: Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir erleben immer wieder, wie Angehörige darauf hinwirken, dass die Betroffenen mit der Lebensbeendigung noch etwas zuwarten. Oft nutzen sie die verbleibende Zeit für intensive Gespräche. Nicht alle, die eine Freitodbegleitung geplant haben, nehmen diese in Anspruch. Häufig wird sich doch für ein anderes Lebensende entschieden. In vielen Fällen führen diese Gespräche dazu, dass das Leiden erkannt und das Versterben akzeptiert wird.

Robert Roßbruch: Zunächst sei angemerkt, dass vor dem Inkrafttreten des Paragraphen 217 StGB die Suizidhilfe seit 1871 straffrei war. Mithin eine komplette Freigabe der Suizidhilfe bestand, nicht nur für Angehörige und dem sterbewilligen Menschen nahestehende Personen, sondern auch für Ärztinnen, Ärzte und Vereine. In diesen fast 145 Jahren vor Verabschiedung des Paragraphen 217 StGB hat es nie eine solche herbeigeredete Gefahr gegeben. Auch zwei Jahre nach der erneut bestehenden kompletten Freigabe der Suizidhilfe ist nicht ein einziger Missbrauchsfall bekannt geworden. Aufgrund unserer vielfachen Erfahrungen können auch wir sagen, dass, wenn es einen wie auch immer gearteten Druck geben sollte, dieser einer ganz anderer Art ist. Nämlich insofern, dass alte und kranke Menschen nicht zu einem vorzeitigen Ableben gedrängt werden, sondern im Gegenteil, dass mitunter besonders ignorante Angehörige alles unternehmen, um den selbstbestimmten Freitod des Vaters, der Mutter zu verhindern, selbst auf die Gefahr hin, dass der Vater, die Mutter in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird. Kürzlich hörte ich von einem Fall, wo der Sohn einer Suizidwilligen mit einer Anzeige wegen Tötung durch Unterlassen droht, sollte bei seiner wohlgemerkt urteils- und entscheidungsfähigen und freiverantwortlich handelnden Mutter eine Freitodbegleitung durchgeführt werden.

"Mit den wenigen Nuancen, die der
Gesetzentwurf von Castellucci, Heveling, Kappert-Gonther et al. (...) nun hinzufügen will, wird Paragraph 217 StGB keinen
Millimeter verfassungskonformer."
Jakub Jaros, Verein Sterbehilfe

hpd: Vielleicht könnten Sie an dieser Stelle auch noch einmal erläutern, wie das Leisten von Suizidhilfe in Ihren Vereinen konkret geschieht. Viele haben da wahrscheinlich eine falsche Vorstellung. Es ist ja nun nicht so, dass man die Hilfe, die Sie leisten, so spontan wie eine Pizza bestellt, die man dann umgehend geliefert bekommt.

Robert Roßbruch: Genauso ist es. Die DGHS hat sowohl für ihre Vermittlung als auch für die Durchführung von Freitodbegleitung durch die mit uns kooperierenden Ärzte und Juristen hohe Sicherheitsstandards entwickelt, die kurz zusammengefasst folgendes beinhalten: Zunächst haben wir uns dafür entschieden, dass vom Anfang der Antragstellung eines Mitglieds auf Vermittlung einer Freitodbegleitung bis zur eigentlichen Freitodbegleitung (FTB) das Vier-Augen-Prinzip gilt. Dieses Prinzip beinhaltet, dass insbesondere nach der Vermittlung durch die DGHS, bei der bereits eine Art Vorprüfung stattgefunden hat, immer ein Jurist und ein Arzt vom Anfang bis zum Ende der Freitodbegleitung involviert sind. Diese Vorgehensweise ist meines Wissens einzigartig auf der Welt.

Nach den Vorprüfungen der vom Suizidwilligen eingereichten Unterlagen durch den Juristen und den Arzt findet ein sogenanntes Erstgespräch zwischen dem Juristen und dem Suizidwilligen, nach Möglichkeit zusammen mit dessen Angehörigen, statt. Dieses Gespräch ist kein Beratungsgespräch, sondern dient primär der Ermittlung der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, der Wohlerwogenheit und Konstanz, mithin der Freiverantwortlichkeit der Freitodentscheidung und der Abklärung des familiären Umfeldes.

In einem weiteren Schritt führt der spätere freitodbegleitende Arzt mit dem Suizidwilligen ein sogenanntes ärztliches Zweitgespräch. Hier wird noch einmal die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit sowie die Freiverantwortlichkeit der Freitodentscheidung abgeklärt. Hinzu kommt eine ausführliche ärztliche Aufklärung über medizinisch-pflegerische Alternativen, zum Beispiel ambulante und stationäre pflegerische Versorgung sowie ambulante und stationäre palliativmedizinische Versorgung. Lehnt der Suizidwillige die Alternativen klar und eindeutig für sich ab, so wird in einem nächsten Schritt ein Termin für die Freitodbegleitung vereinbart. Auch über dieses Gespräch wird ein Protokoll angefertigt.

Beide Gespräche sowie die Freitodbegleitung selbst werden in der Wohnung des Suizidwilligen (durch)geführt. Bei der Freitodbegleitung selbst sind meistens die nahen Angehörigen dabei, so sie noch existieren und der Suizidwillige dies wünscht. Die mit uns kooperierenden Ärzte arbeiten übrigens mit einem Narkosemittel, das in letaler Dosis intravenös verabreicht wird. Diese Methode ist absolut sicher und führt zu einem friedlichen Einschlafen, aus dem man allerdings nicht wieder aufwacht.

Nachdem der Tod eingetreten ist, stellt der freitodbegleitende Arzt die Todesbescheinigung aus. In diese trägt er wahrheitsgemäß einen "nichtnatürlichen Tod" ein. Anschließend wird von dem bei der Freitodbegleitung als Zeuge anwesenden Juristen die Kriminalpolizei gerufen, die dann vor Ort das sogenannte Todesermittlungsverfahren einleitet. Die Erfahrungen mit der Kriminalpolizei und deren Vorgehensweise sind zwar sehr unterschiedlich, aber in der Regel begegnet die Kriminalpolizei den Freitodbegleitern offen und wohlwollend bis hin zu offener Sympathie. Die Kriminalbeamten sind häufig sehr erstaunt über die professionelle Vorgehensweise der Freitodbegleiter. Der Kriminalpolizei werden regelmäßig die beiden Gesprächsprotokolle sowie eine vom Suizidwilligen jeweils unterschriebene "Freitoderklärung" und eine "Entbindung von der Garantenpflicht" sowie das vom Arzt und dem Juristen unterschriebene "Freitod-Protokoll" übergeben.

Sandra Martino: Bei der ersten Kontaktnahme mit DIGNITAS-Deutschland erfolgt zunächst eine Informierung über Möglichkeiten, Grenzen und Alternativen zu Suizidhilfe. Stets wird dabei ausdrücklich auch auf die Chancen der Palliativmedizin hingewiesen, da die Vorbereitung einer Freitodbegleitung mehrere Monate dauern kann. Die Organisierung einer Freitodbegleitung ist Mitgliedern von DIGNITAS-Deutschland vorbehalten. Diese können ein ausführliches Gesuchschreiben einreichen, aus welchem unmissverständlich hervorgeht, weshalb sie eine Beendigung ihres Lebens in Erwägung ziehen und dabei Unterstützung wünschen. In diesem Dokument soll auf die Aspekte der Freiverantwortlichkeit eingegangen werden. Ohne diese Unterlagen können die Vorbereitungen für eine Freitodbegleitung nicht begonnen werden.

Ob eine Begleitung durchgeführt werden kann, hängt immer auch von der Mitwirkung eines Arztes ab, der sich seinerseits über den Fall eines jeden Menschen, der ihm bekannt gemacht wird, in intensive persönliche Klausur mit der Verantwortbarkeit begibt. Wenn das Mitglied keinen behandelnden Arzt hat, der an der Begleitung mitwirken würde, versucht DIGNITAS-Deutschland einen Arzt zu vermitteln. Erklärt dieser sich auf Basis der Unterlagen zu einer Freitodbegleitung grundsätzlich bereit, wird dies dem Mitglied als "provisorisches grünes Licht" ausgerichtet.

Die definitive Zusage behält der Arzt sich aber bis zu einer persönlichen Konsultation durch das Mitglied vor. Erst im Anschluss daran ist das Mitglied frei, einen Termin für eine Freitodbegleitung mit DIGNITAS-Deutschland zu vereinbaren. Sie findet in der Regel zu Hause, im vertrauten Umfeld, und im Beisein von Angehörigen, eines Arztes und Freitodbegleitern von DIGNITAS-Deutschland statt. In dieser Umgebung führt das sterbensgewillte Mitglied sich im vollen Bewusstsein der Konsequenzen ein sicheres Medikament in tödlicher Dosis zu, indem es eigenhändig die Zuleitung einer Infusion öffnet. Während der gesamten Anbahnung und Durchführung einer Freitodbegleitung werden unsere Mitglieder und ihre Angehörigen durch alle Schritte hindurch eng betreut. Am wichtigsten ist, dass die Initiative immer vom Mitglied ausgeht.

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Jakub Jaros, Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe.

Jakub Jaros: Der ganze Prozess ab der Stellung des Antrags auf Suizid dauert beim Verein Sterbehilfe zwei bis vier Monate. In medizinisch dringenden Fällen auch deutlich kürzer, bei nicht eindeutigen Fällen, vor allem bei Mitgliedern mit einer psychischen Erkrankung, wiederum deutlich länger. Nach der Erstellung der Patientenverfügung, die die erste Voraussetzung für den Antrag auf Suizid ist, muss das Mitglied einen Fragebogen ausfüllen, alle Arztbriefe vorlegen und erst dann wird ein Termin für ein Erstgespräch mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter des Vereins geplant. Danach kommt es zu mindestens einer ärztlichen Begutachtung. Wenn das alles geschehen ist, kann grundsätzlich das grüne Licht gegeben werden. 

hpd: Ein wichtiges Thema für Ihre Organisationen ist die Suizidprävention – was viele Menschen von Suizidhilfeorganisationen vielleicht nicht unbedingt erwarten würden. Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig und wie sieht die Arbeit Ihrer Organisation im Bereich der Suizidprävention konkret aus?

Jakub Jaros: Jedes Mitglied wird von den Mitarbeitenden beraten, das heißt, alle Alternativen zum Suizid werden mit dem Mitglied erörtert. Das ist eines der Kriterien für das grüne Licht. Außerdem hat das grüne Licht eine starke suizidpräventive Wirkung: Wer die Absicherung des Vereins hat, Hilfe beim Sterben zu bekommen, lebt ruhiger und erfüllter, trotz Problemen und Krankheiten, die er oder sie hat. Mehr zu diesem Thema gibt es auch in dem neusten Buch unserer Schriftenreihe zu finden: "Der Ausklang - Edition 2022 - Das Glück des Grünen Lichts".

Robert Roßbruch: Gerade weil wir keine Sterbehilfeorganisation sind, sondern eine Patientenschutzorganisation, ist uns eine differenzierte Beratung sehr wichtig. Daher bietet die DGHS seit März 2020 nicht nur für ihre Mitglieder, sondern für alle beratungswilligen Bürger eine bundesweite, kostenlose und ergebnisoffene Suizidversuchspräventions-Beratung an (Schluss.PUNKT-Telefon: 0800/80 22 400). Es gehört zu unserem Credo, harte Suizide zu verhindern und professionelle Freitodbegleitung zu ermöglichen. So versuchen wir auch jenen zu helfen, die für die Vermittlung einer Freitodbegleitung nicht in Frage kommen. Wir tun dies, indem wir Alternativen am Lebensende beziehungsweise Hilfsangebote in Krisensituationen aufzeigen.

Sandra Martino: Auch ich möchte darauf hinweisen, dass der Verein DIGNITAS menschenwürdig leben – menschenwürdig sterben (Sektion Deutschland) e.V. nicht nur eine Suizidhilfeorganisation, sondern eine Menschenrechtsorganisation ist, welche sich für Würde und Selbstbestimmung im Leben und im Sterben einsetzt. Aus diesem Grund ist Suizidversuchsprävention ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Nur die Anzahl verwirklichter Suizide zu reduzieren, ist nicht ausreichend. Viel wichtiger ist, dass in Einsamkeit erfolgende riskante Suizidversuche vermieden werden. Sichere Suizidbegleitung ist als Kontrast dazu gerade ein ganz wichtiges Angebot.

Im Jahr 2020 beendeten in Deutschland 9.206 Personen ihr Leben durch Suizid. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass auf jeden erfolgten Suizid 20 Suizidversuche kommen, die nicht mit dem Tod enden. Das bedeutet, dass von 184.120 Menschen auszugehen ist, die im Jahr 2020 in Deutschland einen Suizidversuch überlebt haben – viele körperlich und seelisch schwer traumatisiert und verletzt sowie teilweise gesellschaftlich stigmatisiert. Harte Suizide und scheiternde Suizidversuche verursachen mannigfaltigen Schaden, auch für weitere Personenkreise, wie beispielsweise Angehörige, Kollegen, Lokomotivführer, Feuerwehrleute, zufällige Passanten und ähnliche. Das Tabu der Selbsttötung führt dazu, dass Menschen mit Suizidgedanken sich nicht getrauen, darüber zu sprechen, sondern in ihrer Not riskante Suizidmethoden anwenden. Unsere Erfahrung aus unzähligen Gesprächen mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern über Patientenverfügung, Palliativversorgung sowie Möglichkeiten und Grenzen von Suizidhilfe zeigt, dass nur schon das Wissen um die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebensendes betroffenen Menschen Sicherheit gibt, um in Ruhe sämtliche Optionen, Alternativen und deren Konsequenzen zu reflektieren.

"Es zeichnet einen freiheitlichen Rechtsstaat gerade aus, es ist sozusagen sein
Wesensmerkmal, dass er sich grundsätzlich aus den höchstpersönlich zu treffenden
Entscheidungen seiner Bürger heraushält,
solange diese Entscheidungen andere in ihren
Freiheitsrechten nicht begrenzen."
Robert Roßbruch, DGHS

hpd: Eine Frage, die ich persönlich mir stelle, seit ich mich mit der Thematik befasse, ist: Warum haben Staat und Politik eigentlich ein so massives Bedürfnis, mein eigenes selbstbestimmtes Sterben gesetzlich zu regulieren? Schließlich füge ich niemandem einen Schaden zu, wenn ich bei meinem Sterben Suizidhilfe in Anspruch nehme. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Staat und Politik restriktive Regelungen ausgerechnet bei diesem Thema so wichtig zu sein scheinen?

Robert Roßbruch: Diese Frage wird aus meiner Sicht weder vom Staat noch von der Politik kaum je zufriedenstellend beantwortet. In so vielen Bereichen des Lebens wird von staatlicher Seite Eigenverantwortung betont, doch bei einer solch persönlichen wie existentiellen Frage gibt es diese Eingriffe in die Autonomie und Selbstbestimmung. Zum einen mag die Haltung von politischer Seite neben einer verbreiteten Tendenz der Tabuisierung von Sterben und Tod in unserer Gesellschaft damit zu tun haben, dass die Lobby derer, die sich vermeintlichen "Lebensschutz" auf die Fahnen schreiben, nach wie vor nicht unbeträchtlich ist. Gerade, aber nicht ausschließlich hohe kirchliche Verantwortungsträger in Deutschland zeigen hier leider eine nach wie vor meist sehr konservative und paternalistische Haltung.

Des Weiteren tragen gewollte Missverständnisse aus der Politik und den beiden christlichen Kirchen, aber auch aus Teilen der Wissenschaft dazu bei, eine pathologische Suizidalität mit einer wohlerwogenen Entscheidung zu einem Freitod in denselben Topf zu werfen. Dabei handelt es sich selbstredend um zwei sehr unterschiedliche Beweggründe, sein Leben beenden zu wollen. Diese gewollten Missverständnisse haben die Funktion, bestimmte Bevölkerungsteile, insbesondere die Ärzteschaft, zu verunsichern. Hier versucht die DGHS umfangreiche Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. 

Sandra Martino: Eine sehr interessante Frage. Es gibt Erklärungsansätze, wonach der Staat und die sogenannten Landeskirchen die Deutungshoheit über Leben und Sterben nicht verlieren möchten. Einige fürchten einen weiteren gesellschaftlichen Abfall vom Glauben, denn wenn man sein Leben selbst in die Hand nimmt, und sich nicht von nachirdischen Sanktionen einschüchtern lässt, vertraut man nicht auf Gott. Da man den Suizid selbst nicht verbieten kann, versucht man diesen zu verhindern, indem man Suizidhilfe unter Strafe stellt. Dafür wird das Strafrecht instrumentalisiert. Man versucht also über das Strafrecht Moralvorstellungen von religiösen Minderheiten durchzusetzen. Durch "Governing Through Crime", ein in der Kriminalpolitik bekanntes Vorgehen, wird mittels neuer Straftatbestände von ökonomischen und sozialen Unsicherheiten oder Missständen, hier in der Pflege, abgelenkt. Es gibt auch ökonomische Erklärungsansätze, wonach Pflegeheimbetreiber keinen zu häufigen Wechsel ihrer Mieter wünschen. Wenn man die Behandlungskosten in den letzten drei Lebensmonaten betrachtet, geht den Krankenhausbetreibern sehr viel Geld verloren, wenn diese Sterbenszeit durch einen Suizid abgekürzt wird. Und viele Krankenhäuser gehören den Kirchen. Fragt man aber die Bevölkerung, so möchten die meisten Menschen nicht im Krankenhaus, sondern zuhause im Kreis der Angehörigen sterben können.

Jakub Jaros: Die beiden Kirchen sind viel einflussreicher und durch viel mehr Abgeordnete im Deutschen Bundestag vertreten, als man vermutet. Das "Leben als Geschenk Gottes" interessiert in der Bevölkerung kaum jemanden mehr. Aber im Deutschen Bundestag hat dieser Glaube noch eine breite Mehrheit. "Leben als Geschenk Gottes" ist die Rechtfertigung vieler Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Menschen gegen ihren Willen zum Weiterleben zu zwingen. Der Kampf dieser Einrichtungen gegen Sterbehilfe ist verständlich: Dauerhaft abhängige Pflegebedürftige sichern die wirtschaftliche Existenz von geriatrischen Krankenhausabteilungen, Alten- und Pflegeeinrichtungen. Selbstbestimmtes Sterben zerstört die Kalkulation.

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