Berliner Appell (2022): 10 Forderungen für humane Suizidhilfe in Deutschland

"Einem Menschen bei der Wahrnehmung eines Grundrechts zu helfen, kann nicht strafbar sein"

Der "Berliner Appell (2022): 10 Forderungen für humane Suizidhilfe in Deutschland" wurde von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, Dignitas Deutschland, dem Verein Sterbehilfe und der Giordano-Bruno-Stiftung gemeinsam verabschiedet und gestern im Rahmen der Pressekonferenz "Zwei Jahre Karlsruher Urteil" im Haus der Bundespressekonferenz erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Der hpd dokumentiert den Berliner Appell hier im Wortlaut.

1. Kein neuer § 217

Suizidhilfe war in Deutschland seit 1871 erlaubt, bis der 2015 verabschiedete § 217 StGB die sogenannte "geschäftsmäßige" (das heißt: professionelle, auf Wiederholung angelegte) Suizidhilfe unter Strafe stellte. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz am 26. Februar 2020 für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Eine Auftragserteilung seitens des Bundesverfassungsgerichts, für ein neues Gesetz mit enger Regulierung und Bürokratisierung zu sorgen, liegt nicht vor. Zudem haben die praktischen Erfahrungen mit Freiverantwortlichkeit und Wohlerwogenheit im Bereich der professionellen Freitodbegleitung gezeigt, dass neue strafgesetzliche Regelungen nicht erforderlich sind. Wenn aber ein Gesetz nicht erforderlich ist, ist es erforderlich, kein Gesetz zu erlassen. Ein neuer § 217 StGB ist daher inakzeptabel. Einem Menschen bei der Wahrnehmung eines Grundrechts zu helfen, kann nicht strafbar sein.

2. Keine Pflichtberatung, aber ergebnisoffene Beratungsangebote

Pflichten bergen das Risiko, dass Menschen sich als bevormundet empfinden und das Gefühl haben, sich rechtfertigen zu müssen. Bereits die Inanspruchnahme von Beratung sollte der Selbstbestimmung unterliegen. Beratung, die reine Informierung zum Gegenstand hat und ergebnisoffen und auf weltanschauliche oder normative Beeinflussung verzichtet, ist Sache der individuellen Beziehung zwischen Ärztinnen und Ärzten und Antragstellenden. Da ein Medikament verschrieben und zur Verfügung gestellt wird, unterliegen mit den Organisationen zusammenarbeitende Ärztinnen und Ärzte der ärztlichen Aufklärungspflicht. Diese umfasst auch die Informierung über Alternativen zum Suizid.

3. Keine Wartefristen

Professionelle Suizidbegleitung, unter Einbindung von Ärztinnen und Ärzten und unter Verwendung geeigneter Medikamente, erfüllt bereits die hinter Wartefristen stehenden Intentionen. Ärztinnen und Ärzte können im Einzelfall, wo es ihnen erforderlich und angemessen erscheint, Wartefristen ansetzen. Eine Übereilungsgefahr kann so praktisch ausgeschlossen werden. Gesetzliche Wartefristen lassen sich mit Selbstbestimmung jedoch nicht vereinbaren. Sie können als Schikane empfunden werden, vor der leidende Menschen, die Stunden und Minuten zählen, zu schützen sind. Generelle Wartefristen drängen Menschen zurück in unüberlegte, riskante Suizidversuche, während professionelle Suizidhilfe diese verhindern kann.

4. Ermöglichung der Verwendung von Natrium-Pentobarbital (NaP) in der Suizidhilfe

Es ist bekannt, dass NaP für den assistierten Suizid Vorteile bietet, weil es auch oral eingenommen werden kann und auch in dieser Form sicher anwendbar ist. In einem Gesundheitssystem, das beabsichtigt, Medikationen effektiv, zielgerichtet und mit einem Minimum an Nebenwirkungen einzusetzen, müssen die entsprechenden Medikamente für den Zweck des assistierten Suizids zugelassen werden. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 ist klar, dass die von dem Betäubungsmittelgesetz intendierte "notwendige medizinische Versorgung" (§ 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG) auch ärztliche Unterstützung bei freiverantwortlichem Suizid umfasst. Angesichts der Tatsache, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sich der gebotenen verfassungskonformen Anwendung des Betäubungsmittelgesetzes bislang verschließt, ist der Gesetzgeber aufgefordert, durch eine klarstellende Anpassung dafür zu sorgen, dass Natrium-Pentobarbital ärztlich zum Zweck der Selbsttötung verschrieben werden kann.

5. Keine Diskriminierung von Menschen in Pflege- und Seniorenheimen

In hochbetagtem Lebensalter ist ein Eintritt in ein Pflege- oder Seniorenheim oft nicht zu vermeiden. Den Betroffenen in ihrem letzten Zuhause die Ausübung ihres Grundrechts vorzuenthalten, ist nicht mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Heimträger und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können zwar entscheiden, dass sie keine Suizidhilfe anbieten und sich auch nicht daran beteiligen. Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflege- und Seniorenheimen muss die Ausübung ihres Rechts auf Inanspruchnahme von Suizidhilfe jedoch auch innerhalb der Einrichtung garantiert sein. Ärztinnen und Ärzten und Suizidhelferinnen und Suizidhelfern muss der Zugang zu Bewohnerinnen und Bewohnern auch zum Zweck der Suizidhilfe möglich sein, wenn diese es wünschen. Zu verlangen, dass Menschen ihr letztes Zuhause verlassen müssen, um anderenorts eine Suizidhilfe in Anspruch nehmen zu können, ist unmenschlich.

6. Unterscheidung von Suizidalität und dem freiverantwortlichen Entschluss, das eigene Leben zu beenden

Suizidalität ist eine Diagnose, die ein Krankheitsbild feststellt. Dauerhafte und wohlüberlegte Entscheidungen über das eigene selbstbestimmte Lebensende sind davon abzugrenzen.

7. Differenzierte Suizidstatistiken

Freitodbegleitungen sind in der Suizidstatistik gesondert auszuweisen. Diese sind von riskanten und unüberlegten Suiziden, bei denen Passantinnen und Passanten gefährdet oder die Traumatisierung von Lokführerinnen und Lokführern oder Feuerwehrleuten in Kauf genommen wird, zu unterscheiden.

8. Forschung zur Suizidhilfe

Über die Forderung nach differenzierten Suizidstatistiken hinaus ist eine staatlich finanzierte, weltanschaulich neutrale, evidenzbasierte Forschung zu Suizidhilfe und Prävention durch Möglichkeiten der Suizidhilfe unerlässlich.

9. Schluss mit der Unterstellung, Suizidhilfeorganisationen hätten kommerzielle Interessen

Hinweise auf kommerzielle Interessen in Verbindung mit professioneller Suizidhilfe rufen unzutreffende Vorstellungen hervor. Kosten für Suizidhilfe sind so bemessen, dass Professionalisierung und Einhaltung von Qualitätsstandards möglich sind.

10. Korrekte Berichterstattung über die aktuelle Rechtslage

Die in Deutschland seit 2020 wieder erlaubte "Hilfe zum Suizid" in Form professioneller Freitodbegleitungen unterscheidet sich von der verbotenen "Tötung auf Verlangen" dadurch, dass die Suizidentinnen oder Suizidenten die "Tatherrschaft" bis zum Schluss innehaben. Eine gesetzliche Grauzone oder rechtsfreie Räume gibt es daher nicht. Fakt ist: Suizidhilfe kann in Deutschland stattfinden – und findet statt! Eine unsachgemäße Berichterstattung über die geltende Rechtslage verunsichert Bürgerinnen und Bürger, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, und ist unverantwortlich.

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