Studie zu Missbrauch im Bistum Münster vorgestellt

"Von Einzelfällen kann nicht die Rede sein"

Forscher der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster stellten heute die Ergebnisse ihrer Untersuchung zu den Missbrauchsfällen im Bistum Münster vor. Sie zeigten sich entsetzt über das Maß an Vertuschung des Missbrauchs durch das Bistum und appellierten an den Staat, eine aktivere Rolle im Aufarbeitungsprozess einzunehmen.

Seit 2019 untersuchte ein fünfköpfiges Wissenschaftsteam um die Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting und Prof. Dr. Klaus Große Kracht von der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster die Missbrauchsfälle im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020. Anders als bei den für die Erzbistümer Köln und München erstellten Missbrauchsgutachten wurden die Fälle in Münster also nicht durch Juristen, sondern durch vier Neuzeithistoriker und eine Sozialanthropologin untersucht. Die Initiative zu der Studie ging vom Bistum selbst aus, das auch die Finanzierung übernahm, was, wie die Wissenschaftler betonen, sich nicht auf ihre Unabhängigkeit ausgewirkt habe. Ein achtköpfiger Beirat, in dem auch drei Betroffene vertreten waren, begleitete die Forschung und die Einhaltung wissenschaftlicher und juristischer Standards.

Am Vormittag stellten die Forscher nun die Ergebnisse ihrer Untersuchung in Münster der Presse vor und übergaben sie an Betroffene sowie den münsterschen Bischof Dr. Felix Genn. Die Ergebnisse sind in zwei Publikationen festgehalten. Wie die Kirche und die Gesellschaft mit den Missbrauchsfällen umgingen, wird präsentiert in der Studie "Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945". Eine zweite im Rahmen des Studienprojekts entstandene Publikation – "Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche" – ordnet die Befunde zur Diözese in die internationale Auseinandersetzung um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche ein.

Ergebnis der Untersuchung ist, dass es von 1945 bis 2020 insgesamt 610 minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs durch Kleriker im Bistum Münster gab. Die meisten von ihnen männlich und zum Zeitpunkt des Missbrauchs 10–14 Jahre alt. Die Forscher gehen davon aus, dass es sich hierbei nur um das sogenannte Hellfeld handelt und dass die tatsächliche Opferzahl um das 8–10-Fache höher liegt. Insgesamt 196 Kleriker wurden in dem genannten Zeitraum zu Tätern, das entspricht etwa 5 Prozent der Kleriker des Bistums. In 90 Prozent der Missbrauchsfälle habe keine Strafverfolgung stattgefunden. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich eine Häufung von Missbrauchstaten in den 1960er und 1970er Jahren. Zahlreiche Taten in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren sind den Forschern zufolge auf Intensiv- und Langzeittäter zurückzuführen, die bis zu 25 Jahre lang Minderjährige missbrauchten. Von Einzelfällen – wie in früheren Jahren oft von Kirchenverantwortlichen behauptet – könne demnach definitiv nicht die Rede sein, so die Forscher.

Ermöglicht wurde der massive Missbrauch laut dem Forscher-Team aus Münster durch spezielle katholische Strukturen, durch die die katholische Kirche zur Täterorganisation wurde, so Großbölting. Dem Bistum Münster attestieren die Forscher allem voran ein jahrzehntelanges systematisches Versagen der Bistumsleitung, dem der Schutz der Institution Kirche sowie der Schutz der priesterlichen Existenz des Mitbruders über den Schutz der Opfer ging und die es den Intensivtätern unter anderem durch Versetzungen immer wieder ermöglichte, Zugriff auf Kinder zu haben, um diese auch zu missbrauchen. Studienleiter Großbölting, der inzwischen von der Universität Münster an die Universität Hamburg gewechselt ist, bezeichnet diese systematische Vertuschungsstrategie des Bistums als "Skandal im Skandal".

Eine spezifische katholische Schamkultur sowie der auch unter katholischen Laien verbreitete "Klerikalismus" verhinderte überdies, dass über die sexualisierte Gewalt in der Familie oder der Gemeinde gesprochen werden konnte, so das Ergebnis der Forscher. Das soziale Umfeld der Betroffenen reagierte auf deren Versuche, den Missbrauch zu benennen mit Unglauben und Abwehr. Erst mit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals im Jahr 2010 habe sich sowohl an diesen Sprachgrenzen als auch an dem Umgang des Bistums mit Missbrauchsfällen deutlich etwas verändert. Allerdings habe es sich innerhalb der Kirche insgesamt um "erzwungene Lernprozesse" gehandelt, in der Kirche selbst habe es nur in geringem Maß Triebkräfte zu einer Veränderung und Aufklärung gegeben.

Ein bis heute anhaltender Skandal ist hingegen die noch immer nur schleppend erfolgende Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche durch staatliche Institutionen. Großbölting sieht hierin eine besonders problematische Konsequenz der hinkenden Trennung von Staat und Kirche und appelliert deshalb dringend an die Politik, dass der Staat eine aktivere Rolle im Aufarbeitungsprozess der Missbrauchsfälle übernehmen müsse.

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